Permalink

2

Die Stare sind zurück

Der Star (Sturnus vulgaris) ist einer der Vögel, die am häufigsten auf der Welt vorkommen

Stare (Sturnus vulgaris) gehören zu den Vögeln, die am häufigsten auf der Welt vorkommen

Die Stare sind zurück
futterneidisch wie immer –
ein neues Frühjahr

The starlings are back
jealous of food as always –
a new spring

Haiku für Georges Hartmann, der am 8. März Geburtstag hatte. Wir gratulieren herzlich, wünschen alles Gute und freuen uns, wenn wir hin und wieder ein neues Haiku oder einen Kommentar von Georges hier im Blog lesen dürfen. Alle, die den bescheidenen Haiku-Dichter aus dem Westerwald noch nicht kennen, schauen mal hier.

Mozart und sein Star

Der Star (Sturnus vulgaris) ist übrigens ein begabter Stimmenimitator, weshalb wir ihm nachsehen, dass unser Vogelfutterverbrauch dramatisch nach oben schnellt, wenn die Stare im Frühjahr zurück sind. Der bayerische Landesbund für Vogelschutz e. V. (LBV) hat auf seiner Website viele lesenswerte Artenporträts (Vögel, Insekten, Schmetterlinge), über den Star steht da:

Wie talentiert Stare beim Imitieren von Lauten und sogar Musikstücken sind, hat sogar Eingang in die Musikgeschichte gefunden. Wolfgang Amadeus Mozart hielt drei Jahre lang einen Star als Haustier. Schon bald konnte der gelehrige Vogel das Rondothema aus dem Klavierkonzert Nr. 17 in G-Dur (Köchelverzeichnis 453) nachpfeifen. Als sein „Vogel Stahrl“ starb, war der begnadete Komponist untröstlich und widmete ihm gar ein eigenes Poem: „Hier ruht ein lieber Narr/ Ein Vogel Staar/ Noch in den besten Jahren/ Mußt‘ er erfahren/ Des Todes bittern Schmerz“.

NK | CK

Permalink

2

Warten auf den Frühling, leben auf Trümmern

„Wir haben im Laufe unserer Geschichte immer nur überlebt, nie gelebt!“ (Swetlana Alexijewitsch)

„Wir haben im Laufe unserer Geschichte immer nur überlebt, nie gelebt!“

Seit knapp zwei Jahren haben wir einen kleinen Lesekreis und treffen uns regelmäßig, um uns zu bekochen und dann bei ein paar Gläsern Wein über das Buch zu sprechen, das vorgeschlagen wurde. Klar, da sind auch mal Bücher dabei, die man selbst eher nicht gekauft und gelesen hätte. Weil man sich halt gerne innerhalb seiner eigenen Leseblase bewegt. Dabei soll man ja überhaupt nur „Bücher lesen, die einen beißen und stechen“, hat Franz Kafka gesagt.

Unbekannter Osten

Ob der nächste Roman, den wir im Lesekreis besprechen, beißt und sticht, wird die Diskussion zeigen. Aber eine Bereichung des Lesehorizonts ist er schon jetzt. Denn der Roman, den unser belesener Freund S. vorgeschlagen hat, spielt auf der russischen Halbinsel Kamtschatka in der Putin-Ära, also in der Zeit, die Historiker:innen die postsowjetische nennen. Ich habe bei der Lektüre des Romans festgestellt, dass ich eigentlich fast nichts über diese Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weiß – und beschlossen, mich etwas näher damit zu befassen.

Bei der Recherche bin ich dann auf ein Spiegel-Interview mit der weissrussischen Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch gestoßen, in dem diese sich gemeinsam mit Herta Müller über die Kriegsgefahr in der Ukraine austauscht, die vom russischen Präsidenten Putin ausgeht. Das war vor dem 24. Februar 2022, dem Tag, an dem der ehemalige KGB-Agent Wladimir Wladimirowitsch Putin seinen Truppen den Einmarsch in die Ukraine befohlen hat. Mit diesem Überfall auf einen souveränen Staat ist eingetreten, was ich nie für möglich gehalten hätte: Krieg in Europa. Die Ukraine ist flächenmäßig der größte Staat, dessen Grenzen komplett innerhalb des Kontinents Europa liegen. Doch zurück zur Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich habe mir also ein Buch von Swetlana Alexijewitsch über diese Zeit gekauft und gebannt gelesen. Ich habe einiges gelernt: über die Sowjetunion, über die Zeit von Stalin bis Putin, über das Raubrittertum nach der Perestroika, und, und, und.

Leben auf Trümmern

„Unter dem Sozialismus und unter dem Kapitalismus. Rote oder Weiße, das ist für uns gleich. Wir warten immer auf den Frühling.“ (Normalbürgerin)

„Wir warten immer auf den Frühling.“

„Wir warten immer auf den Frühling.“

Swetlana Alexijewitsch notiert diesen Satz einer sogenannten Normalbürgerin der Russischen Föderation im letzten Kapitel ihres atemberaubenden Buches „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus.“ 2015 hat Alexijewitsch, die 1948 in der Ukraine geboren und in Belarus aufgewachsen ist, den Nobelpreis für Literatur bekommen. Die Autorin lebt heute in Berlin, nachdem sie unter dem belarussischen Diktator Lukaschenko nicht mehr sicher war.

Secondhand-Zeit ist kein Roman, kein Geschichtsbuch, keine Reportage. Swetlana Alexijewitsch hat, so schrieb es auch das Nobelpreiskommitee, mit ihrer Art zu schreiben ein ganz eigenes literarisches Genre geschaffen. Zuhören ist dabei zentral:

„Wir nehmen Abschied von der der Sowjetzeit. Von unserem damaligen Leben. Ich versuche, alle Beteiligten am sozialistischen Drama, mit denen ich mich treffe, fair anzuhören …“

Alexijewitsch ist eine einfühlsame und ausdauernde Zuhörerin. Sie schafft es, auch die verstocktesten Gesprächspartner:innen, die sie seit dem Jahr 2001 getroffen hat, zum Erzählen zu bringen. Und dann gelingt ihr noch viel mehr. Sie macht aus diesen zutiefst persönlichen, schockierenden, bisweilen todtraurigen Erzählungen Weltliteratur. Man liest diesen „vielstimmigen Chor“, wie es der Osteuropa-Historiker Professor Schlögel nannte, mit heruntergeklappter Kinnlade und muss immer wieder innehalten, um das Gelesene zu verdauen.

Die russische Küche

„Die russische Küche … Die armselige Chruschtschowka-Küche – neun, wenn man Glück hatte, zwölf Quadratmeter, hinter der dünnen Wand die Toilette. Sowjetische Bauweise. Auf dem Fensterbrett Zwiebellauch in Mayonnaisegläsern, ein Blumentopf mit Aloe gegen Schnupfen. Die Küche ist bei uns nicht nur der Ort, wo gekocht wird, sie ist zugleich Esszimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer und Tribüne. Ort kollektiver therapeutischer Sitzungen. Im 19. Jahrhundert entstand die ganze russische Kultur auf Adelsgütern, im 20. entstand sie in der Küche. Auch die Perestroika.“

Swetlana Alexijewitsch nimmt uns mit in diese russischen Küchen, wo ihr ihre Gesprächspartner:innen ihr Leben erzählen, ihr Herz ausschütten, schreien, fluchen, stammeln, schweigen, weinen (es wird viel geweint) und – auch gar nicht selten – trotzig ihre stalinistischen Glaubensbekenntnise entgegenschleudern. Letzeres, weil sie nicht akzeptieren wollen und können, dass alles, was sie in ihrem Leben geleistet, riskiert und gehofft haben, jetzt in ihrem „Secondhand-Leben“ keine Kopeke mehr Wert ist.

„Wehe dem, der in der UdSSR geboren wurde und in Russland leben muss.“

Freiheit als Größe der Finsternis

Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, wie es für die Sowjetbürger:innen gewesen sein muss, nach Jahrzehnten des Terrors und der Bespitzelung, der permanenten Indokrination, aber auch einer gewissen Sicherheit auf bescheidenem materiellen Niveau, plötzlich in das Stahlbad der Freiheit geworfen zu werden, der lese dieses Buch, das mit Sätzen gespickt ist, die wahrlich beißen und stechen.

„Viele nahmen die Wahrheit auf wie einen Feind. Und auch die Freiheit.“

So heißt es im ersten Kapitel. Und einen Absatz später:

„Da ist sie – die Freiheit! Hatten wir sie uns so vorgestellt? Wir waren bereit, für unsere Ideale zu sterben. Dafür zu kämpfen. Doch dann begann ein Leben wie bei Tschechow. Ohne große Geschichte. Alle Werte zerstört, bis auf den Wert des Lebens. Des Lebens an sich. (…) Die Freiheit entpuppte sich als Rehabilitierung des Kleinbürgertums, das im russischen Leben gewöhnlich unterdrückt wurde. Als Freiheit Seiner Majestät Konsum. Als eine Größe der Finsternis.“

Ist es ein Wunder, dass viele Menschen in Russland heute Putin bewundern? Einen Mann, der ihnen mit perfiden Mitteln das Gefühl einer starken Führung zurückgibt? Und so wie es in der ehemaligen DDR eine Ostalgie gibt, getragen von einer diffusen Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Sicherheit, so gibt es in Russland heute eine Sehnsucht nach der Sowjetunion. „Nach dem Stalin-Kult.“ Die alten Ideen, schreibt Alexijewitsch im Jahr 2013 (!), „leben wieder auf: vom großen russischen Imperium, von der eisernen Hand, vom besonderen russischen Weg.“

Hört man sich heute, im März 2022, den russischen Diktator und seine Machtclique an, dann findet sich in deren Reden exakt dieser anachronistische feuchte Männertraum von einem großrussischen Reich wieder, das mit aller Härte wiederhergestellt werden muss. Die Bomben auf Kiew und Charkiw sprechen für sich. Aber das nur am Rande. Zurück zum Buch.

Ein Höllenteppich aus Geschichten

Wie die Teppichknüpfer in der früheren, zentralasiatischen Sowjetrepublik Usbekistan knüpft die Autorin mit meisterhafter Präzision aus den Geschichten ihrer traumatisierten Gesprächspartner einen Höllenteppich, der uns beim Lesen alles abverlangt und uns dabei nicht mehr loslässt.

Zentrale Elemente der Küchengespräche mit den Studenten, den dekorierten Weltkriegssoldaten, den GULag-Häftlingen, GuLag-Aufsehern, Henkern, Opfern, Geheimdienstmitarbeitern, Obdachlosen, KPdSU-Funktionären, Großverdienern und Kreml-Insidern sind der Terror, die Gewalt, die Trostlosigkeit, die Angst und der Tod. Aber ganz erstaunlich bei all dem Elend: dazwischen gibt es immer wieder Stimmen, die noch einen Funken Hoffnung auf eine bessere oder wenigstens einigermaßen erträgliche Zukunft haben.

Während in der Sowjetzeit jene dem Untergang gewidmet waren, die es wagten, selbstständig zu denken, oder manchmal einfach nur zu falschen Zeit am falschen Ort standen, waren in der postsowjetischen Zeit nach 1991 die Menschen zum Untergang verdammt, die vorher mit jeder Faser ihres Körpers hinter den Ideen eines irrwitzigen brutalen Staates standen. Letzere nennt die Autorin den „Homo sovieticus“, den umgemodelten Menschen. Für ihn gilt:

„der Staat war ihr Universum geworden, er ersetzte ihnen alles, sogar das eigene Leben. Sie konnten sich nicht aus der großen Geschichte herauslösen, sich von ihr verabschieden und auf andere Weise glücklich werden“

Wer verstehen möchte, was der Zusammenbruch des sowjetischen Riesenreiches für die Menschen, und Alexijewitsch geht es immer um jeden einzelnen Menschen, wirklich bedeutet, sollte dieses Buch lesen. Die Autorin lässt die zu Wort kommen, die nach dem Ende der Sowjetunion mit inneren und äußeren Verletzungen auf einem trostlosen, kaputten Nebengleis gelandet sind, während die russischen Oligarchen von Putins Gnaden auf deutschen Werften gewaltige Jachten in Auftrag gegeben haben.

Wenn normales Leben zur Literatur wird

Die Autorin selbst bringt sich übrigens sehr sparsam mit erklärenden oder vertiefenden Kommentaren ein. So wie am Ende des Buches, als sie ganz kurz ihr Ziel und ihre Vorgehensweise erläutert. Es geht Alexijewitsch um diesen einen Moment des Übergangs in einem Gespräch,

„wo das normale Leben zu Literatur wird – auf diesen Moment warte ich immer, ich höre ihn in jedem Gespräch heraus, ob unter vier Augen oder in größerer Runde, aber manchmal bin ich nicht wachsam genug, dabei kann ein »Stück Literatur« überall aufblitzen, an den überraschendsten Stellen.“

NK | CK

Buchinformation

Swetlana Alexijewitsch
Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus
aus dem Russischen übersetzt und mit hilfreichen Fußnoten zum besseren Verständnis versehen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Berlin, Carl Hanser Verlag, 2013, 576 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-446-24150-3

Homepage von Swetlana Alexijewitsch

Spiegel-Interview mit Swetlana Alexijewitsch und Herta Müller

Die Sonnenblume ist die Nationalblume der Ukraine. Als Zeichen der Hoffnung kann man sie jetzt einsäen.

Die Sonnenblume ist die Nationalblume der Ukraine. Als Zeichen der Hoffnung kann man sie jetzt säen.

#SupportYourLocalBookstore #KaufDeinBuchvorOrt

Permalink

2

Hast du uns endlich gefunden – ein Buch von Edgar Selge

„Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.“ Franz Kafka

„Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses.“ Franz Kafka

Hast du uns endlich gefunden

Wenn man Glück hat, stößt man im Laufe seines Lebens auf ein paar dieser Bücher, die, so scheint es beim Lesen, für einen selbst geschrieben wurden. Für mich war der Roman Hast du uns endlich gefunden von Edgar Selge eine solche Entdeckung. Wenngleich ich vielleicht nicht von einem Saal sprechen würde, den ich beim Lesen betreten habe. Eher waren es dunkle Kammern, deren Beleuchtung turbulente Gefühle verursachte.

Ein Dauerbeobachter seit Kindheitstagen

Damit kein falscher Eindruck entsteht, sei sogleich gesagt, dass dieses erste Werk von Edgar Selge nicht nur dunkle Seiten des Lebens beleuchtet, sondern auch ein sehr unterhaltsamer, sprachlich auf höchstem Niveau geschriebener Roman ist. Es ist zwar ein Debütroman, aber was sagt das schon aus, wenn jemand so aus dem Vollen schöpfen kann? Selge hat Musik und Literatur studiert, bevor er auf eine Schauspielschule ging. Jahrzehntelang hat er sich als Schauspieler mit literarischen Texten auseinandergesetzt. Er ist ein reflektierter Dauerbeobachter, ein Dauererzähler seiner Eindrücke:

Wie vielen Menschen habe ich davon schon erzählt. Immer wieder neu, immer wieder anders. Mein ganzes Leben geht das schon so.

Es handelt sich um einen Episodenroman, der das Gesellschaftsbild einer Familie um das Jahr 1960 beschreibt. Das Lebensgefühl der Familie von Edgar Selge hat dabei auch etwas Allgemeingültiges:

Der Krieg ist verloren, der Nationalstolz im Eimer, die Nachkriegszeit haben sie überstanden, mit Ach und Krach, aber die Kultur ist übrig geblieben.

Kultur gibt Halt und verbindet

Die Kultur, das sind vor allem die Musik und auch die Literatur. Wie sehr die Kunst uns Menschen befähigt, Halt zu finden und Verbindendes entstehen zu lassen, auch darum geht es in diesem Buch. Selge wählt den Einstieg für seinen Roman wie in einer Kurzgeschichte:

Ich geh mal üben, sagt mein Vater.

Und schon sind wir drin im Leben der Familie Selge, dem Leben zwischen zwei Hauskonzerten. Der zu Beginn etwa neunjährige Edgar lebt mit seinen Eltern und seinen drei Brüdern (ein vierter Bruder ist bereits gestorben) in gutbürgerlichen Verhältnissen in Herford. Der Vater, Jurist, ist Gefängnisdirektor einer Jugendstrafanstalt, aber eigentlich spielt er lieber Klavier und gibt Kammerkonzerte. Für die akademischen Freunde, aber auch für die Jugendsträflinge. Wie diese Konzerte im Hause Selge vorbereitet werden und wie sie ablaufen, beschreibt der junge Edgar unglaublich witzig: Die Sträflinge müssen ihre Stühle mitbringen, für sie gibt es Leberwurstbrote mit Apfelsaft. Für die späteren Gäste am Abend, die Akademikerpaare, die sich vorsichtig wie Störche bewegen, wird das Wohnzimmer komplett umgeräumt. Wir folgen Edgar als Leser bereitwillig überall hin, das phantasievolle Kind hat unablässig viele interessante Assoziationen, da werden ganze innere Reisen während eines Konzerts begangen. Dazu trägt ganz wesentlich die gewählte Zeitform, das Präsens, bei. Der Leser hat das Gefühl, direkt am Geschehen teilzunehmen.

Besondere Erzählperspektive

Dass der Roman trotz der Perspektive eines Kindes diese erzählerisch-analytische Tiefe erreicht, verdankt er dem Umstand, dass es eigentlich der heute über 70jährige Selge ist, der sich an das Kind, das immer noch in ihm steckt, erinnert:

Wer bin ich damals? Ich gucke Löcher in die Luft. Ich führe Selbstgespräche. Ich bin derselbe Träumer.

In jedem von uns steckt das Kind, das er einmal war.

In jedem von uns steckt das Kind, das er einmal war.

Für diesen Kunstgriff ist der Autor in mancher Rezension kritisiert worden. (Dabei weist der Autor selbst auf Proust, seinen Ideengeber, hin. Hallo, liebe Großkritiker?!) Der Roman sei nicht konsequent aus Sicht eines Kindes geschrieben worden, es sei nicht die Sprache eines Kindes. Natürlich sind es nicht die Sprache und die Erkenntnisse eines Kindes, das sind Erkenntnisprozesse eines Lebens, das macht den Roman ja erst so interessant! Und um diese Erzählperspektive – der 70jährige erinnert sich an das Kind, das er war (aber mit seinem Verständnis von heute) – nachvollziehen zu können, ist es auch notwendig, den älteren Selge gelegentlich auftauchen zu lassen. Das geschieht nicht nur, wenn der Autor sein derzeitiges Erleben während der Pandemie einfließen lässt, es geschieht auch zwischendurch, wenn er den Prozess des Schreibens – des Erinnerns – analysiert:

Je genauer ich bin, desto fremder werde ich mir.

Auch autobiographisches Schreiben kann nur Annäherung sein. Keine Familie ist so, wie sie zu sein scheint. Hinter dem bürgerlichen Lack offenbaren sich tägliche Scharmützel.

Wir kämpfen hier täglich hart um ein Zusammenleben, in dem Fröhlichkeit und gute Laune oberstes Gebot sind.

Eltern prägen

Der Leser lernt alle Familienmitglieder nach und nach kennen, am ausführlichsten den dominanten Vater, der ebenfalls Edgar heißt. Wie prägend der vielseitig begabte, aber auch so cholerische Vater für das ganze Leben war, beschreibt der Autor so:

In jedem Menschen begegnest du mir zuerst, Papa.

Und wie sehr er sich mit der Person seines Vaters versucht hat, auseinanderzusetzen und ihm gerecht zu werden, beschreibt er mit den Worten:

Auch in dir muss ich erst meinen Vater vernichten.

Trotz der Tiefe der Selbstreflexion begeht der Autor nicht den Fehler, zu rationalisieren. Wieder ist es diese besondere Erzählperspektive, die beides erlaubt: während der ältere Autor sich der sehr schmerzhaften Analyse der vielschichtigen Vater-Sohn-Beziehung nähert, bricht es aus dem jugendlichen Edgar heraus:

Ich möchte dich einmal auf den Unterschied zwischen dir und deinem Vater aufmerksam machen, dich einmal mit der Nase in den Scheißhaufen deiner Ohrfeigen und Prügel stupsen.

Das sind Sätze, die mehr wert sind als so manche Therapiestunde. Man kann diesen Roman auf ganz vielseitige Weise lesen. Vielleicht macht auch das große Romane aus. Die Musik, die eine bedeutende Rolle im Leben der Selges spielt, war mir persönlich nicht so wichtig, auch wenn Selge mir diese durch manche Beschreibung näher gebracht hat. Meine Mutter, zum Beispiel, fand sich in dem für diese Zeit und Generation typischen Mann-Frau-Verhältnis wieder. Leser M. aus unserem Literaturzirkel interessierte vor allem die familiäre Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich, insbesondere mit den Juden.

Scham überwinden

Für mich sind es zum einen die Leistung, eine tiefempfundene Scham, glaubhaft und nachvollziehbar nahezubringen, die dieses Leseerlebnis so nachhallend macht. Dieses Ringen der Gefühle um die einen seit Kindheitstagen quälenden Fragen:

Mensch, Edgar, sag, was los ist!

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefundenZum anderen ist es dieses unglaubliche Sprachvermögen von Selge. Phantasievolle Metaphern und Rhythmuswechsel erzeugen Spannung, Tempo und eine besondere Dichte. Manche Sätze sind von einer solchen sprachlichen Kraft, dass man minutenlang bei ihnen verweilt, so etwa, wenn Edgar dem Brüllen der Löwen eines nahe gelegenen Zirkus lauscht, das ihn an die Ausbrüche mancher Sträflinge denken lässt:

Dann ahne ich was von der Wildnis in uns allen.

Lesen Sie ihn, lest ihn, diesen großartigen Roman!

CK | NK

Buchinformation

Edgar Selge
Hast du uns endlich gefunden
Gebunden, 304 Seiten
Rowohlt Buchverlag, 2021
ISBN: 978-3-498-00122-3

Permalink

off

Ukraine

Flag of Ukraine | Used under: UP9, CC BY-SA 3.0. | Source: https://t1p.de/9fbnx

Flag of Ukraine | Used under: UP9, CC BY-SA 3.0. | Source: https://t1p.de/9fbnx

„Seit heute ist nicht nur die Ukraine in größter Gefahr. Es ist der Frieden in ganz Europa.“

Diese Zeilen schreibt Michael Thumann, Moskau-Korrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT, heute am 24. Februar 2022 in einem kurzen und leider sehr treffenden Kommentar, den man hier online nachlesen kann.

Wir sind sprachlos

NK | CK

Permalink

off

Freitagsfoto: Bücher gegen Tristesse

Antiquariat „Le trouve tout du Livre“ in Le Somail am Canal du Midi

Antiquariat „Le trouve tout du Livre“ in Le Somail am Canal du Midi

„Schon die Anwesenheit von Büchern lässt mich jederzeit die Tristesse der Gegenwart vergessen.“

Das schreibt Axel Hacke in seiner Kolumne „Das Beste aus aller Welt“ im SZ-Magazin am 11.2.2022. Hat es nicht etwas Tröstliches zu sehen, dass es klugen Menschen in diesen trüben Zeiten ähnlich geht wie einem selbst? Und gerade der Anfang des Jahres ist doch eine zähe, bisweilen deprimierende Angelegenheit.

„Das Beste am Februar ist doch, dass der Januar vorbei ist“, sagte meine Frau vor ein paar Tagen. Und dann haben wir beide festgestellt, dass wir dank dieser elenden Pandemie mehr, und dank unseres Lesekreises vielseitiger lesen. Wenigstens was. Ja, und hätten wir mehr Platz in den Bücherregalen …

Es ist übrigens jammerschade, dass Corona und das Online-Shopping auch den Antiquariaten mehr und mehr die Luft abdrehen. In Tübingen hat in den letzten Jahren ein Antiquariat nach dem anderen dicht gemacht. Umso erfreulicher, dass es noch solche gewaltigen Bücherhöhlen wie das Antiquariat „Le trouve tout du Livre“ gibt. Wenn ihr mal nach Südfrankreich ins Languedoc kommen solltet, empfehlen wir einen Abstecher nach Le Somail am Canal du Midi. Es lohnt sich – auch deswegen, weil nach dem Stöbern in den Bücherregalen ein paar schöne Weingüter warten. Und wer wollte widersprechen, dass auch der Wein helfen kann, die Tristesse der Gegenwart für eine Weile zu vergessen?

Santé!

NK & CK

Weinberge im Minervois, Languedoc

Weinberge im Minervois, Languedoc

Permalink

3

Neckarfront goes Richter

Wenn man eine Fotovorlage abmalt, sieht das zuerst furchtbar aus. Als ich jedoch mit einem Wischer darübergegangen bin, war ich erstaunt, wie gut das Ganze plötzlich wirkte. Dabei kam mir das Sfumato der alten Venezianer in den Sinn. Wenn die Effekte des Verwischens die nebensächlichen Details verschwinden lassen, erscheint das Dargestellte eindeutiger, gleichzeitig aber auch geheimnisvoller.

Tübinger Neckarfront, 10. 2. 2022, verwischt fotografiert, nachbearbeitet mit Infrarotfilter

Dieser Tage hatte der Maler Gerhard Richter Geburtstag. Er kam am 9. Februar 1932 in Dresden zur Welt. Derzeit gilt Richter als einer der teuersten Maler der Welt. Klar, dass dieser Ausnahmekünstler mit diversen Ausstellungen in Deutschland gewürdigt wird, zum Beispiel in Dresden, Düsseldorf und Köln. Und auch der Reklamekasper würdigt diesen Mann: mit der verwischten Aufnahme der Tübinger Neckarfront.

Fotos abmalen

Berühmt wurde Richter, so schreibt der Bayrische Rundfunk durch seine abgemalten Fotobilder, die er am Ende wieder verwischt, „um den Blick des Betrachters zu schärfen.“ Die ZEIT hat online eine lesenwerte Collage aus Gerhard-Richter-Zitaten zusammengestellt, die man hier nachlesen kann. Zum Abmalen von Fotovorlagen sagte er dieses:

„Wenn man eine Fotovorlage abmalt, sieht das zuerst furchtbar aus. Als ich jedoch mit einem Wischer darübergegangen bin, war ich erstaunt, wie gut das Ganze plötzlich wirkte. Dabei kam mir das Sfumato der alten Venezianer in den Sinn. Wenn die Effekte des Verwischens die nebensächlichen Details verschwinden lassen, erscheint das Dargestellte eindeutiger, gleichzeitig aber auch geheimnisvoller.“

Liegt das Wahre im Ungefähren, so wie hier die Wurmlinger Kapelle?

Liegt das Wahre im Ungefähren, so wie hier die Wurmlinger Kapelle?

Verschwommenes Lebensgefühl

Warum sich der kunsthistorisch völlig unbeleckte Reklamekasper heute mit Gerhard Richter befasst? Weil wir diese Wischtechnik (Verreißen hieß das früher beim Fotografieren) aus Neugierde öfter mal mit der Kamera ausprobieren, und weil wir vor ein paar Tagen zufällig ein interessantes SWR 2 Forum über Gerhard Richter gehört haben. Darin sprechen Richter-Expert:innen über die Fage, wie Gehard Richter die moderne Malerei geprägt hat, und ob „being blurry“, also unklar, verschwommen sein, ein Lebensgefühl ist. Wer mag, kann das hier nachhören.

So viel für heute zum Thema Kunst. Lasst den Kopf nicht hängen, bald wird’s Frühling!

NK & CK

Hyazinthen gehören zu den Spargelgewächsen. Ob Richter sie gemalt hat? Keine Ahnung.

Hyazinthen gehören zu den Spargelgewächsen und sehen auch verwischt gut aus

Permalink

1

Geschichten

Die besten Geschichten schreibt das Leben, gerne auch dramatische

Die besten Geschichten schreibt das Leben

Neulich hat diese kurze Meldung in der Süddeutschen Zeitung vom 22.1.22 uns an eine wahre Geschichte erinnert, die meine Frau anlässlich eines Schreibkurses bei der Schriftstellerin Herrad Schenk schriftlich festgehalten hat, und die ich heute hier bringen darf. In den Hauptrollen unsere Tochter Emma und ein blauer Schemel von Ikea.

Emma, allein zu Haus

Es ist ein Mittwoch im Mai im Jahr 2002. Ich gehe nicht zur Arbeit, sondern verbringe den Tag mit meiner kleinen Tochter Emma, 22 Monate alt, zu Hause. Norbert ist bei der Arbeit im Geschäft. Vor uns liegt ein gemütlicher Tag zu zweit mit ein bisschen Hausarbeit, Vorlesen, vielleicht einem Spaziergang. Das Mittagessen kocht bereits auf dem Herd, da will ich noch schnell eine Wäsche auf dem Putzbalkon aufhängen. Dieser zweite, kleine Balkon unserer damaligen Wohnung (60er-Jahre-Baustil) wird von uns so genannt, weil er uns zur Ablage von Putzutensilien und eben zum Trocknen der Wäsche dient.

Es ist sehr windig, und ich bin noch auf dem Balkon damit beschäftigt, die Wäsche gut mit Klammern zu sichern, als eine kräftige Böe mit lautem Knall die Balkontüre zuschlägt. Erschrocken drehe ich mich um, erblicke Emma auf der anderen Seite der Glastür und kann gerade noch mitansehen, wie sie den nach unten gezogenen Metallhebel der Tür nach oben schnappen lässt. Es war ein alter Schließmechanismus, wie man ihn heute kaum mehr vorfindet. Ich halte unwillkürlich die Luft an. Blitzartig wird mir bewusst, dass dieser Vorgang eine leichte Übung für Emma darstellt, der Umkehrvorgang aber, den Hebel wieder nach unten zu ziehen, für das kleine Kind geradezu unmöglich ist: es trennen Emma vom oberen Ende des Hebels mindestens 30 Zentimeter. Ich spüre einen scharfen Stich im Magen. Wie komme ich bloß wieder rein in die Wohnung?! Ich kann ja keinen Schlüsseldienst anrufen. Das Telefon befindet sich in der Wohnung. Oh Gott, wieder durchfährt es mich: der Herd ist an … und das Kind allein da drin!

Ich drücke mein Gesicht an die Glastür und sehe, wie mich Emma vergnügt anschaut, fast als erwarte sie Lob für das Umlegen des Hebels. Begreift sie, dass sie mich ausgeschlossen hat, dass sie jetzt allein in der Wohnung ist?

Mama draußen, Kind drinnen

Beruhige dich, sage ich mir. Es ist ja noch nichts passiert. Um Hilfe schreien erscheint mir plötzlich irgendwie unangemessen. Ich probiere ein halbherziges „Ist da irgendjemand?“, dem nur die Alltagsgeräusche folgen.

Wie blöd von mir, warum habe ich nicht daran gedacht, etwas in die Tür zu stellen? Ich könnte mich ohrfeigen! Habe ich die Tür zum großen Balkon nach dem Lüften geschlossen? Ich kann mich nicht erinnern. Gut sehe ich hingegen das Bild vor mir, wie Emma erst neulich auf einen Stuhl geklettert war, um über die Balkonbrüstung zu sehen. Die Achterbahn in meinem Bauch nimmt Fahrt auf. Reiß dich zusammen und heul bloß nicht los, wer weiß, was das bei Emma auslöst…

Eine Idee

Ich gehe in die Knie, unsere beiden Gesichter sind auf einer Höhe. Emma scheint noch immer vergnügt. „Emma, hörst du mich? Hol den kleinen Hocker! Hol den kleinen Hocker aus deinem Zimmer!“ Der blaue Schemel von Ikea dient Emma gerade als Hocker. Tatsächlich verschwindet das Menschlein. Oje, war das jetzt klug? Ich habe nicht wirklich nachgedacht, die Worte sind einfach aus mir herausgekommen. Das Kinderzimmer befindet sich auf der anderen Seite der Wohnung, am Ende eines langen Flurs, in dem verstreut Spielsachen von Emma liegen. Sie könnte mit den Klötzchen spielen oder ihr Lieblingsbilderbuch entdecken und Lust bekommen, darin zu blättern. Dann könnte es länger dauern.

Ich warte.

Dann rufe ich erst zaghaft, dann fester ein paar Mal um Hilfe. Keine Reaktion. Am Vormittag sind die anderen Mieter häufig nicht zu Hause. Ich schaue in die Tiefe, fünf, sechs Meter, das kann ich vergessen. Ich klopfe an die verschlossene Glastür und rufe nach Emma. Nichts. Warum gibt es hier nur blöde Schwämme, aber nichts, womit ich die Tür einschlagen könnte? Wie lächerlich, wie absurd ist diese Situation? Weil sich die Aufregung inzwischen auch auf meine Gedärme auszudehnen droht, setze ich mich auf den Boden und sehe mich lächerliches Häufchen Elend in der Glastür gespiegelt. Ich warte wieder. Aber auf was warte ich? Darauf, dass nichts passiert? Oder dass endlich etwas passiert? Von diesem Balkon ist die Wohnung nicht einsehbar. Und kein Geräusch weist darauf hin, ob alles in Ordnung ist oder sich Schlimmes anbahnt. Wie lang können sich Minuten dehnen!

Ein Objekt, eine Geschichte: der blaue Schemel

Ein Objekt, eine Geschichte: der blaue Schemel

Da – ein lautes Kratzen reißt mich aus meinen wirren Gedanken. Ich drücke mein Gesicht wieder an die Glastür und erblicke Emma, die – oh Wunder – den Ikea-Schemel vor die Tür zieht. „Nach links Emma, nach links!“ Ich bin wirklich nicht mehr bei Trost, wie kann ich einem so kleinen Kind mit „links“ kommen? Ich mache verzweifelt Handbewegungen auf Höhe des Schemels zum Ort, wo dieser hin soll. Wie oft, weiß ich nicht, irgendwann sehe ich Emma einen schweren Wanderstiefel von Norbert aus dem Eck räumen, es folgt kurz darauf ein zweiter und ein dritter und vierter von mir. Sie müssen alle im Eck unter dem Hebel gestanden sein. Kurz darauf stößt Emma den Hocker nach links, unter den Hebel. Es dauerte noch ein paar für mich qualvolle Versuche, aber ich bringe Emma dazu, auf den Schemel zu steigen, ihre beiden Ärmchen nach oben zu strecken, den Hebel weit oben zu greifen und sich dann daran zu hängen mit ihrem ganzen Gewicht.

Der Hebel schnappt nach unten, ich drücke mit Wucht gegen die Tür und stoße dabei fast das verschreckte Kind um. Statt verbrannter Fischstäbchen gibt es Pizza. Halleluja!

Corinna Kern

Wenn Dinge Geschichten erzählen

Beim Vorbereiten dieses Beitrags ist mir ein Buch einfallen, dass ich vor ein paar Tagen gelesen habe, und das mir gut gefallen hat. „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ heißt der kleine Band (erschienen im Unionsverlag als Taschenbuch), und es geht darin um Gegenstände in einer Salzburger Wohnung. Ein Ikea-Schemel kommt zwar nicht vor, aber ich verspreche nicht zu viel, wenn ich sage, dass die Altbauwohnung des österreichischen Autors und Journalisten Karl-Markus Gauß voll von interessanten, scheinbar nutzlosen Dingen ist, die bei ihm Kaskaden von Erinnerungen auslösen.

„Es gibt Dinge, die braucht man nicht, und deswegen kommt man ohne sie nicht aus.“

Ausgehend zum Beispiel von einem uralten Brieföffner, den im Gauß’schen Haushalt niemand mehr braucht, folgen wir dem Autor bereitwillig ins mährische Těšetice, wo 1856 der Erfinder des Baustoffs Eternit geboren wurde, um schließlich bei den legendären (mir bis dato unbekannten) Arbeitersiedlungen im österreichischen Vöcklabrück und dem sozialen Paternalismus eines Großunternehmers zu landen. Es ist ein Vergnügen, wie dieser kluge, melancholische, durch seine Wohnung mäandrierende Stilist, die Gegenstände (darunter natürlich auch Bücher) mit deren Geschichten und diese wiederum mit der Geschichte verknüpft.

Bleibt gelassen, der Frühling kommt!

NK & CK

PS: „Die Literatur ist die angenehmste Art und Weise, das Leben zu ignorieren“, hat Fernando Pessoa geschrieben. Dem ist in diesen trüben Wochen zu Beginn des Jahres nichts hinzuzufügen.

Schöne Postkarte Nr. 29 · Mit Lektüre überwintern · © www.schoenepostkarten.de

Schöne Postkarte Nr. 29 · Fernando Pessoa · © www.schoenepostkarten.de

Permalink

2

Winterbienen – ein Roman von Norbert Scheuer

Honigbiene (Apis) spät im Jahr bei der Arbeit auf einer Herbstaster

Bis zu diesem Sommer gab es den Autor Norbert Scheuer nicht in unserem Bücherregal. Ja, vielleicht hatte man den Namen mal im Feuilleton gelesen, und vielleicht gab es eine kleine Erinnerung an den besonderen Titel seines letzten Buches, „Winterbienen“. Das war’s aber auch schon. Und Kall, der kleine Ort in der Eifel, wo Scheuers Romane spielen – nie gehört. Obwohl wir vor Jahren mal in der Eifel waren, in Langenbroich, da wohnte Böll, den heute leider fast niemand mehr liest.

Aber zurück zu Norbert Scheuer. Der hat nach der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 einen Text für die Süddeutsche Zeitung geschrieben. „In den Trümmern von Kall“ hieß die Überschrift, man kann das noch online (hinter der Paywall) nachlesen. Scheuer beschreibt dort auf eindringliche Art, wie „die Wasser stiegen und auch die kleine Stadt in der Eifel einfach mit sich rissen.“ Dieser Text war der Impuls, sich mit dem Schriftsteller Norbert Scheuer auseinanderzusetzen.

Winterbienen

„Die Aufgabe der jetzt lebenden Winterbienen besteht darin, die im Frühjahr zu erwartende neue Generation der Larven warm zu halten, zu schützen und zu füttern und so das Überleben des Volkes zu sichern. In der kalten Jahreszeit halten sie die Temperatur in ihrem Staat konstant auf zwanzig Grad, das ist gerade warm genug, damit ihre Königin und sie selbst nicht erfrieren.“

Egidius Arimond, der Erzähler im Roman „Winterbienen“, schreibt diese Zeilen am Donnerstag, den 6. Januar 1944 in sein Tagebuch. So ungewöhnlich der Name, so ungewöhnlich ist auch dieser Mann, der uns aus seinem Leben in der Zeit zwischen Winter 1944 und Frühjahr 1945 berichtet.

Winterbienen erzeugen Temperatur durch Muskelkontraktionen und bringen die Königin über den Winter

Es ist das letzte Kriegsjahr, Nazi-Deutschland ist praktisch geschlagen, auch wenn es die großen und kleinen Anhänger noch nicht wahrhaben wollen. Die Angriffe der alliierten Bomber, die von Westen über die Eifel fliegen, werden zahlreicher und richten immer mehr Zerstörung an. Die Wehrmacht hat den Bomberverbänden nur noch wenig entgegenzusetzen. Der Endkampf, der noch so viele Opfer auf allen Seiten fordern sollte, hat begonnen.

Die Welt ist aus den Fugen geraten

Auch die Welt von Egidius Arimond, der als einer der wenigen Männer aus der Kleinstadt Kall nicht zur Wehrmacht einzogen wurde. Arimond, der früher als Lehrer alte Sprachen unterrichtet hat, leidet an Epilepsie, weshalb ihn die Nazis zuerst zwangssterilisiert und dann aus dem Schuldienst entfernt haben. Sein Leben ist für die Anhänger des Rassenwahns nicht lebenswert, das Damoklesschwert der Euthanasie schwebt ständig über ihm. Das hindert den etwas verschrobenen, aber liebenswürdigen und gebildeten Außenseiter nicht daran, sein Leben zu genießen – so gut es eben mit dieser Krankheit und angesichts der äußeren Umstände geht.

Egidius Arimond schildert uns sein Leben in einer unaufgeregten, leichten Sprache, die in deutlichem Kontrast zum Bombenhagel und den immer wieder stattfindenden Gewitterstürmen in Arimonds Kopf steht. Arimonds Leben dreht sich im Wesentlichen um vier Dinge: Bienen, Frauen, seine Krankheit und die Geschichte seiner Familie.

„Meine Erinnerungen gleichen denen der Winterbienen in ihrem dunklen Stock; ich weiß nicht, ob etwas erst gestern gewesen ist oder schon lange zurückliegt. Sie erscheinen mir wie ein winziger Punkt in einem unendlichen Raum.“

Die Geschichte der Arimonds beginnt mit dem Mönch Ambrosius Arimond, der Anfang des 16. Jahrhunderts aus dem Tessin in das Urftal gekommmen ist. Dort hat Ambrosius in einem Kloster gelebt und Bienen gezüchtet, so lange bis er aufgrund eines Verhältnisses mit einer Frau das Kloster verlassen musste. Die Bienen übrigens hat dieser erste Arimond von südlich der Alpen mitgebracht. Und diese Bienen spielen für Egidius Arimond, den Epileptiker, im letzten Kriegsjahr eine ganz zentrale Rolle: sie sind sein Lebensinhalt. Seine ganze Kraft zieht er aus dem Bienenstock, dieser summenden Energiequelle.

„Ich lege mein Ohr an die Bienenkästen, höre meine Völker; ihre leisen Melodien erinnern mich an die Gesänge der Mönche, ich knie vor dem Altar einer unendlich großen Kathedrale.“

Helfer, aber kein Held

Aber die Bienen retten nicht nur das Leben des Imkers, sondern auch das Leben von jüdischen Flüchtlingen, die er im Auftrag einer unbekannten Hilfsorganisation aus dem Land schafft. Bei diesen gefährlichen Rettungsaktionen treffen die Bienen und die Frauen, die Arimond gleichermaßen liebt, zusammen – in Form von Königinnen und Lockenwicklerröllchen. Das ist so unglaublich wie spannend. Und Arimonds Tagebuchtonfall verhindert, dass wir Leser hier mit dramatischem Heldenpathos eingelullt werden.

„Man sollte sich nicht einbilden, sein Schicksal und das, was man denkt und fühlt, selbst bestimmen zu können.“

Wie Norbert Scheuer in diesem Roman auf rund 300 Seiten die zentralen Komponenten – Bomben und Bienen, Epilepsie und Erotik, Leiden und Lust, Vorfahren und Vernichtung – miteinander verknüpft, ist bemerkenswert und von einer Intensität, der man sich nicht entziehen kann. Klug und fast spielerisch deutet der Autor immer wieder die Verbindungen zwischen den verschiedenen Welten an: der Welt der Bienen und der Welt des Erzählers, zwischen dem Gewitter im Kopf des Epileptikers und dem realen Bombenhagel, zwischen dem Transport eines echten Menschenherzens über die Alpen und dem Transport der Flüchtlinge über die Grenze nach Belgien.

„Ich sitze am Nachmittag bei den Einfluglöchern. Die Bienen schwirren mit vollen Pollentaschen vorm blauen Stock, glitzern wie Bernsteintropfen in der Sonne. Sie lieben das Blau mehr als alle anderen Farben, landen auf den Einflugbrettchen und laufen im Kreis, berichten bestimmt, wo jetzt Schneeglöckchen, Huflattich und Weiden blühen.“

Wer in diesen zähen, bisweilen trüben Tagen und Wochen zu Beginn des Jahres eine Lektüre sucht, die ihn wegträgt vom Alltag und den Hauptnachrichten, dem empfehlen wir „Winterbienen“ von Norbert Scheuer, ein wundersames Buch, das lange nachhallt.

NK / CK

Buchinformation

Norbert Scheuer
Winterbienen
C. H. Beck, gebundene Ausgabe, 319 Seiten
978-3-406-73963-7

Postskriptum: Honigpanscher

Vor einigen Wochen hat uns die Leserin K. einen Artikel aus der FAZ zum Thema Bienen und Honig zukommen lassen, den wir hier empfehlen wollen. Es geht darin um gepanschten, mit Zuckersirup gestreckten Honig aus China, der zu Spottpreisen nach Deutschland importiert wird und unseren Imker:innen das Leben schwer macht.

Dabei ist die Imkerei schwer genug: Klimawandel, der Einsatz von Insektiziden in der Landwirtschaft, Bedrohung der Lebensräume der Bienen, um nur ein paar Probleme zu nennen. Die Honigpanscherei ist natürlich illegal, der Kampf gegen die Panscher ein Wettlauf gegen die Technik und die Zeit.

Aber: Bienen dürfen Honig erzeugen, und dem Endprodukt der Bienen, dem Honig, darf nichts hinzugefügt oder entzogen werden. Die Europäische Honigverordnung ist hier glaskar. Unser Fazit: Man sollte seinen Honig ausschließlich von einheimischen, möglichst regionalen Imkern des Vertrauens kaufen. Der Artikel ist hier online lesbar.

Permalink

1

Graureiher an der Tübinger Steinlach

Graureiher sind Fischliebhaber, weshalb sie auch Fischreiher heißen und bei Anglern nicht beliebt sind

Graureiher sind Fischliebhaber, weshalb sie auch Fischreiher heißen und bei Anglern nicht beliebt sind

This Is Just to Say

I have eaten
the fish
who swam in
the cold brook

and who
would have probably
liked
to live longer

Forgive me
he was so delicious
so tasty
and so cold

Norbert Kraas

Bei diesem Gedicht, in dem ein Graureiher die Hauptrolle spielt, handelt sich um ein Pastiche (französisch = Nachahmung) des bekannten Gedichtes „This Is Just to Say“ des US-amerikanischen Dichters und Arztes William Carlos Williams (17. September 1883 – 4. März 1963). Williams ist neben T. S. Eliot und Ezra Pound der bedeutendste Lyriker der amerikanischen Moderne. Etliche seiner Gedichte gehören zum amerikanischen Kanon. Das Gedicht vom roten Schubkarren (The Red Wheelbarrow) konnte in den USA – zumindest früher – jedes Schulkind auswendig. Hier das Original, auf das sich das Pastiche bezieht:

This Is Just to Say

I have eaten
the plums
that were in
the icebox

and which
you were probably
saving
for breakfast

Forgive me
they were delicious
so sweet
and so cold

William Carlos Williams

Hans Magnus Enzensberger hat dieses Gedicht für die rororo-Anthologie „William Carlos Williams, Gedichte“ so übersetzt:

Nur damit du Bescheid weißt

Ich habe die Pflaumen
gegessen
die im Eisschrank
waren

du wolltest
sie sicher
fürs Frühstück
aufheben

Verzeih mir
sie waren herrlich
so süß
und so kalt

Die flüchtigen Augenblicke

Der Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Lyriker Heinrich Detering schrieb in der Frankfurter Anthologie der FAZ über dieses Gedicht: „Es ist eigentlich nur ein Zettel auf dem Küchentisch. Doch je länger man sich auf seine einfache Botschaft einlässt, desto weitläufiger werden die Zusammenhänge. Und am Ende sieht man eine fast perfekte Ehe vor sich.“ Die ganze, lesenswerte Besprechung findet man hier online.

Der Arzt William Carlos Williams, der sein ganzes Leben in Rutherford, New Jersey praktiziert hat, war ein großer Dichter des poetischen Moments im Alltag. Und: Williams will uns, seine Leserinnen und Leser, ermutigen,  „die flüchtigen Augenblicke des eigenen Lebens als potentielle Kristallisationen wahr- und ernstzunehmen, die als nebensächlich unterschätzten, inoffiziellen Momentereignisse (…)“, wie die Schriftstellerin Brigitte Kronauer in einer Rezension von Williams’ Autobiographie (FAZ 21.11.1994) treffend schrieb.

Das wäre doch mal ein Vorsatz für 2022: mehr auf die unterschätzten, eher beiläufigen Momente zu achten und diese wahrzunehmen.

NK & CK

Buchinformation

William Carlos Williams
Gedichte
 – Der harte Kern der Schönheit
Herausgeber: Joachim Sartorius
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2001
ISBN 3-499-22840-8
nur noch antiquarisch erhältlich

Graureiher (Ardea cinerea) können bis zu einem Meter lang werden, wiegen aber nur ein bis zwei Kilo

Graureiher (Ardea cinerea) können bis zu einem Meter lang werden, wiegen aber nur ein bis zwei Kilo

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner