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Es wird heiß! „Deutschland 2050“

45 Grad Celsius und mehr. Möglich, dass wir in Tübingen das Klima von Uzès im Languedoc bekommen

45 Grad Celsius und mehr. Möglich, dass wir in Tübingen das Klima von Uzès im Languedoc bekommen

Vorweg ein Geständnis

Vor ein paar Jahren habe ich zum Thema Klimawandel ein Buch mit dem Titel „Selbstverbrennung“ gekauft. Das Thema treibt ja viele von uns um, und ich wollte einfach besser Bescheid wissen. Geschrieben hat das Buch Professor Dr. Hans Joachim Schellnhuber, der Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Professor für Theoretische Physik. Unsere Noch-Bundeskanzlerin hält viel von ihm, als sie Umweltministerin war, hat er sie beraten. Um es kurz zu machen: das Buch hat knapp 800 Seiten und ist sehr anspruchsvoll, und ich habe es bisher nicht gelesen.

Deutschland 2050 – Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird

Was ich hingegen gründlich und phasenweise mit Entsetzen gelesen habe, ist das Buch „Deutschland 2050 – Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird“. Geschrieben haben es die renommierten Wissenschaftsjournalisten Nick Reimer und Toralf Staud, die beide für ihre journalistische Arbeit ausgezeichnet wurden. Dieses Buch ist für mich eines der anschaulichsten und lesenswertesten Bücher zum Thema Klimawandel, das es derzeit auf dem Markt gibt. Warum?

Weil die beiden Autoren in einer wahren Herkulesarbeit hunderte von seriösen Studien durchforstet und mit ebenso vielen Expert:innen gesprochen haben. Auf dieser Basis beschreibt „Deutschland 2050“, wie unser Land in 29 Jahren aussehen wird. Wobei die Autoren Unsicherheiten bezüglich ihrer Aussagen gleich zu Beginn einräumen. Diese hängen davon ab, welchen Weg wir in Sachen Klimaschutz weltweit jetzt einschlagen. Vom lässigen Weiter-so bis hin zum schärfsten Klimaschutz ist vieles möglich.

„Die größte Unsicherheit beim Blick in die weitere Klimazukunft resultiert schlicht daraus, dass ungewiss ist, welche Mengen an Treibhausgasen die Menschheit zukünftig ausstoßen wird.“

Wir sind auf dem Hitzepfad. Quelle: Ed Hawkins | Scientists for Future Deutschland

Wir sind auf dem Hitzepfad. Quelle: Ed Hawkins | Scientists for Future Deutschland

Die Zeit läuft uns davon

Reimer und Staud haben für ihr Buch auf jene Szenarien geblickt, „in denen kein oder nur schwacher Klimaschutz betrieben wird.“ Sie bezeichnen sich dabei selbst nicht als Pessimisten, sondern Realisten. Und ehrlich: schaut man sich den Bundestagswahlkampf und das Herumgeeiere um den Klimaschutz an (trotz Flutkatastrophe), liegen die Autoren wahrscheinlich richtig. Manche Politiker:innen vermitteln den Eindruck, wir hätten noch ewig Zeit. Haben wir nicht.

„Von einem Pfad, der zum Erreichen der Pariser Klimaziele führen würde, ist die Welt meilenweilt entfernt. Drei oder gar vier Grad Temperaturanstieg bis Ende des Jahrhunderts sind im Moment viel wahrscheinlicher als zwei oder gar nur 1,5 Grad Celsius. Und vier Grad mehr – das wäre wirklich eine komplett andere Welt.“

Wir sollten uns so eine Welt vorstellen… Was uns dabei in die Quere kommt, ist die zeitliche Distanz zum Jahr 2050 und, bisher jedenfalls, die räumliche Distanz zum Klimawandel. Wetterkatastrophen im Zuge eines sich verändernden Klimas waren bisher das Problem von Bangladesh, Grönland oder den Fidschis. Sozialpsychologen beschreiben dieses Phänomen mit dem Begriff „psychologische Distanz“. Die gilt es, jetzt schnellstmöglich zu überbrücken. Denn die Flutkatastrophe in Deutschland diesen Sommer mit vielen Todesopfern bestätigt die Autoren:

„Der Klimawandel ist Realität. Seine Hauptursache ist der Mensch. Die möglichen Folgen sind verheerend. An diesen drei Punkten sind keine vernünftigen Zweifel mehr möglich.“

Es wird heiß, sehr heiß – und nass

Und was blüht uns jetzt in Deutschland, wenn wir mit unserem halbgaren Klimaschutz weitermachen wir bisher? Das beschreiben Reimer und Staud in 14 anschaulichen Kapiteln. Den Einstieg macht das Kapitel „Klimamodelle“, in dem erst mal erklärt wird, was Wetter ist, worin sich Wetter von Klima unterscheidet, und wie man zu aussagekräftigen, verlässlichen Modellierungen kommt. Zu einem Klimamodell kommt man, so lernen wir, wenn man den Ausgangszustand der Atmosphäre kennt und dazu die physikalischen Prozesse, die in der Atmosphäre ablaufen. Dazu kommen zig Variablen, und das alles wird dann, vereinfacht gesagt, in eine mathematische Gleichung gegossen. Berechnet wird das in Supercomputern, zum Beispiel beim Deutschen Wetterdienst DWD. Fünf bis sechs Monate sind diese Computer beschäftigt, um das Klima für Deutschland in den nächsten 80 Jahren durchzurechnen.

Interessanterweise lag schon der Japaner Syukoro Manabe (89) mit einem der ersten Klimamodelle im Jahr 1967 ziemlich richtig. Seine Vorhersagen bezüglich des CO2-Gehalts und des damit verbundenen Temperaturanstiegs seit Beginn der Industrialisierung stimmen ziemlich genau.

Klimamodell von ExxonMobil

Übrigens betreibt auch die Mineralölindustrie seit Jahrzehnten Klimamodellierungen und beschäftigt dazu exzellente Wissenschaflter:innen. So auch der Konzern ExxonMobil bereits in den 1970er Jahren:

„Die Wissenschaftler gehörten zur Weltspitze, aber ihre Ergebnisse blieben geheim. Die Konzernforscher warnten eindringlich vor der Erderhitzung – doch in der Öffentlichkeit schürte ExxonMobil Zweifel an deren Existenz, zum Beispiel in teuren Werbeanzeigen.“

Die Exxon-Forscher haben im Jahr 1982 einen Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre in den nächsten 40 Jahren auf 415 ppm (Teilchen pro Million Moleküle) beschrieben und einen Anstieg der Oberflächentemperatur der Erde um mindestens 0,8 Grad vorausgesagt. Und: „Fast genauso ist es eingetroffen.“ Im November 2020 lag der Wert laut Weltorganisation für Meteorologie (WMO) bei 410 ppm. „Und die Temperatur der Erde ist bereits um ein Grad gestiegen.“

Es betrifft alle

Die weiteren Kapitel des Buches beschäftigen sich mit unterschiedlichen Bereichen unseres Lebens und unserer Umwelt: Mensch, Natur, Wasser, Wald, Städte, Küste, Verkehr, Wirtschaft, Landwirtschaft, Energie, Tourismus, Sicherheit und Politik.

Wieder und wieder gelingt es den beiden Autoren dabei, faktenbasiert, sachlich, aber eindringlich zu schildern, womit wir im Jahr 2050 rechnen müssen. Wir werden mehr und längere Hitzewellen auszuhalten haben. Verbunden mit Trockenheit, Wassermangel und vielen Tropennächten, in denen die Temperatur auch bei Nacht nicht mehr unter 20 Grad sinkt. Tübingen könnte dann das Klima von Uzès im südlichen Languedoc bekommen. Keine guten Aussichten, hat doch schon die Hitzewelle 2003 in ganz Europa 70000 Todesopfer gefordert. Muss man erwähnen, dass wir Menschen nicht für diese Hitze gemacht sind, die Asiatische Tigermücke jedoch schon, und sie kann den Erreger für das Dengue-Fieber übertragen.

Es wird ungemütlich

Klar ist, der Klimawandel und die damit verbundene Erderhitzung betreffen alle und alles: Menschen, Tiere, Pflanzen, Natur. Von den 71900 Tier- und Pflanzenarten könnten rund 30 Prozent in den kommenden Jahrzehnten aussterben – hat die Bundesregierung (!) schon 2008 geschrieben. Und dieselbe Bundesregierung ist dann in Sachen Artenschutz genauso träge vorgegangen wie beim Klimaschutz. Mit der immergleichen Begründung, es müsse der Wirtschaftstandort Deutschland erhalten bleiben und sowieso, man könne den Menschen nicht zu viel Klimaschutz zumuten. Fakt ist: Kein oder nur halbherziger Klimaschutz wird für uns alle viel gefährlicher und viel viel teurer!

Die Hitze wird zu Dürren führen, die Dürren zu Wassermangel, der Wassermangel zu Kühlwassermangel in der Industrie und der Energiegewinnung. Gleichzeitig brauchen wir mehr Energie, um Gebäude wie Pflegeheime, Krankenhäuser etc. zu klimatisieren.

Wer wissen möchte, was 2050 in Deutschland auf uns zukommt, möge dieses Buch lesen

Wer wissen möchte, was 2050 in Deutschland auf uns zukommt, möge dieses Buch lesen

Und jetzt

„Wer verhindern will, dass Deutschland sich noch stärker verändert als in diesem Buch geschildert, muss sofort mit dem schärfsten Klimaschutz anfangen, den er sich überhaupt vorstellen kann.“

Das empfehlen die Autoren Reimer und Staud. Und wir empfehlen, „Deutschland 2050“ zu lesen. Wer diese 374 verständlichen und informativen Seiten gelesen hat, wird anders über den Klimawandel denken. Und wer gerne Bücher von hinten liest, fängt einfach mit dem Interview mit Professor Ortwin Renn an. Der Mann ist Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) und beschäftigt sich intenstiv mit dem Umfang moderner Gesellschaften mit Risiken. Renn weiß viel über unsere zögerliche oder widerständige Haltung in Sachen Klimaschutz, und er macht sich große Sorgen. Aber er ist nicht ganz ohne Hoffnung!

NK & CK

Buchinformation

Nick Reimer, Toralf Staud
Deutschland 2050 – Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird
Kiepenheuer & Witsch, Köln
Paperback, 374 Seiten, klimaneutral produziert
ISBN 978-3-462-00068-9

Weitere Information

Wissenschaftsportal Klimafakten.de

Science-O-Mat zur Bundestagswahl 2021

Online-Gespräch mit Nick Reimer und Toralf Staud

Podcast mit Nick Reimer und Toralf Staud

Twitter-Kanal von „Deutschland 2050“

Peter Unfried erklärt in der taz, warum die Medien eine Mitschuld an diesem in Sachen Klima vergeigten Wahlkampf tragen. Sehr lesenswert!

Der Klimaforscher Prof. Dr. Stefan Rahmstorf erklärt in viereinhalb Minuten eine Welt mit 4 Grad mehr

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Bärenpanther im Schönbuch?

Ist der Bärenpanther wieder im Schönbuch unterwegs? Foto: Norbert Kraas

Ist der Bärenpanther wieder im Schönbuch unterwegs?

Bärenpanther, 14.9.2021, 9.02 Uhr

Ist einem Tübinger Fotografen bei seiner Morgenrunde mit Hund womöglich ein echter Glückstreffer gelungen? Bei dem Tier, das ihm da im Schönbuch bei Hagelloch vor die Linse lief, könnte es sich tatsächlich um ein älteres Exemplar des sehr seltenen Bärenpanthers handeln. Der Bärenpanther wurde zum letzten Mal im Sommer 2019 im Département Ardèche gesichtet.

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Freitagsfoto: Geschnatter

„Besitzen wir irgendeine Fähigkeit, die wir nicht auch im Tun und Treiben der Tiere fänden?“ Montaigne

„Besitzen wir irgendeine Fähigkeit, die wir nicht auch im Tun und Treiben der Tiere fänden?“ Michel de Montaigne

Wahlkrampf

In gut zwei Wochen ist Bundestagswahl. Endlich! Ich weiß nicht, wie’s Ihnen geht, aber wir sind wahlkampfmüde. Zuerst ist dieser Wahlkampf, der ja oft eher einem Wahlkrampf ähnelt, lauwarm vor sich hingedümpelt, und jetzt wird die Union panisch und packt den uralten Rote-Socken-Mist wieder aus. Als ob Olaf Scholz oder Annalena Baerbock ständig mit dem Kommunistischen Manifest unterm Arm über die Marktplätze der Republik ziehen würden. Geht’s noch?

Dabei hätten wir wahrlich wichtige Themen zu besprechen: Klimawandel, Digitalisierung, Gesundheitswesen, Corona, der drohende Pflegekollaps oder Europa, ein Thema, das in diesem Wahlkampf kaum vorkommt. Warum eigentlich nicht?

Geschnatter

Und dann dieses permamente Geschnatter, Posten, Liken, Tweeten, Daumen hoch, Daumen runter. Dazu die Nachrichtenmaschine, die auch nicht mehr zur Ruhe kommt und nicht selten nachschnattert, was gerade auf Twitter trendet.

Steinzeithirn

Nein, liebe Freundinnen und Freunde, das ist alles nicht gesund! Denn unser kleines Steinzeithirn ist schnell überfordert und mag keine Reizüberflutung und digitalen Stress. Der Neurologe Dr. Volker Busch rät uns deshalb dringend, unser Gehirn mehr zu pflegen. Wie das geht, kann man hier im Interview nachhören.

Sehr empfehlenswert zum Runterkommen sind übrigens auch Atemübungen. Eine verständliche Anleitung habe ich bei Spektrum der Wissenschaft für euch entdeckt.

So, das war’s für heute! Danke für Ihr / Euer Interesse!

NK & CK

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Hortensienwetter

Je nach Beschaffenheit des Bodes blüht sie in anderen Farben, die Hortensie (Hydrangea)

Je nach pH-Wert des Bodes blüht sie in anderen Farben, die Hortensie (Hydrangea)

Hortensienwetter

Immer wenn im Garten die Hortensien zur Blüte kommen, werde ich ein wenig melancholisch und denke an Rilke und „eines kleines Lebens Kürze“. Dieser verregnete Sommer ist der melancholischen Stimmung, die ja bei Rilke immer mitschwingt, sehr zuträglich. Da kann einem dann schon mal so ein Haiku rausrutschen:

Im Dauerregen
Gedanken an Rilke –
Hortensienwetter

Die Hortensien lieben dieses normannische Regenwetter übrigens sehr, weshalb wir in der Familie von Hortensienwetter sprechen und dabei immer an die prächtigen Hortensien von Opa Michel und Omi Georgette in Villers-sur-mer in der Normandie denken.

In welcher Farbe die Hortensie (Hydrangea) blüht, hängt, wie ich neulich gelesen habe, vom pH-Wert des Bodens ab. Bei einem pH-Wert von ca. 6 färben sich die Blütendolden rosa. Ob Rilke das gewusst hat? Keine Ahnung, er hat jedenfalls nicht nur sein berühmtes Sonnett über Die Blaue Hortensie geschrieben, das wir alle kennen, sondern auch dieses schöne Gedicht über die Rosa Hortensie:

Rosa Hortensie

Wer nahm das Rosa an? Wer wußte auch,
daß es sich sammelte in diesen Dolden?
Wie Dinge unter Gold, die sich entgolden,
entröten sie sich sanft, wie im Gebrauch.

Daß sie für solches Rosa nichts verlangen.
Bleibt es für sie und lächelt aus der Luft?
Sind Engel da, es zärtlich zu empfangen,
wenn es vergeht, großmütig wie ein Duft?

Oder vielleicht auch geben sie es preis,
damit es nie erführe vom Verblühn.
Doch unter diesem Rosa hat ein Grün
gehorcht, das jetzt verwelkt und alles weiß.

Vielleicht wird‘s ja ein schöner Nachsommer. Wer weiß?

NK & CK

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„Der Bomber war so nett, so nett“ (Hermann Gerland)

Zum Tod der Fußball-Legende Gerd Müller zeigt der NDR nochmal die Sportclub Story „Der Bomber der Nation“ vom November 2020, die der NDR anlässlich des 75. Geburtstags von Gerd Müller gebracht hat.

Der Bomber der Nation kam am 3. November 1945 in Nördlingen zur Welt und ist am 15. August 2021 gestorben. Als unser Sohn vier Jahre alt war, hat er mich mal ganz ernst gefragt: „Papa, weißt du eigentlich, wer der Bomber der Nation ist?“ Ich habe darüber vor Jahren einen kurzen Beitrag geschrieben.

https://www.youtube.com/watch?v=ZtUbpt0K6Dk

Ich weiß übrigens noch genau, wo ich das Siegtor des Bombers bei der WM 1974 gesehen habe. Wisst ihr es noch?

Schönes Wochenende!

NK & CK

PS: Der Holger Gertz hat in der Süddeutschen vom 16. August 2021 einen wunderbaren Nachruf auf Gerd Müller geschrieben, darin treten auf: Heini Kamke, Karl-Heinz Granitza und „ein paar innerlich und äußerlich volltätowierte Kunstfiguren, die so aussehen wie ihr Ebenbild auf der Playstation“. Gibt’s hier auch online.

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”Charlie’s good tonight, ineee….“

Auch Helden leben nicht ewig

Und wir dachten immer, sie leben ewig, die Helden unserer Jugend. „Dieser August ist ein einziges Unglück. Erst Gerd Müller und jetzt Charlie Watts“, schreibt Willi Winkler in der SZ im Nachruf auf Charlie Watts (2. Juni 1941 – 24. August 2021) und empfiehlt dringend „She Smiles Sweetly“ von der LP „Between The Buttons“ von den Stones aufzulegen. Das werde ich auf jeden Fall machen und an Charlie Watts denken, den wir Hechinger Landeier 1976 im Stuttgarter Neckarstadion mit den Stones gesehen haben.

Auf ITV gibt es einen kurzen Nachruf auf Charlie Watts, in dem Paul McCartney mit den Tränen kämpfen muss.

https://www.youtube.com/watch?v=MPSqbgA6G-4

”Charlie’s good tonight, ineee….“

Dieser so legendäre wie treffende Ausspruch stammt von Mick Jacker, zu hören am Ende des Lieds „Little Queenie“ auf der LP „Get Yer Ya-Ya’s Out“.

Closed

Screenshot OfficialTwitter Account of Keith Richards. Source: https://t1p.de/7sip

Screenshot OfficialTwitter Account of Keith Richards. Source: https://t1p.de/7sip

So, und jetzt müssen wir wohl alle erst mal das Ende einer Ära verdauen, wenn ich das Foto richtig interpretiere, das Keith Richards gestern auf seinem Twitter-Account gepostet hat. Closed steht auf dem Schild, das er an die Drums von Charlie Watts gehängt hat.

So long!

NK & CK

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Streulicht: ein Roman von Deniz Ohde

„(...) orangeweißes Streulicht erfüllt den Nachthimmel, gespeist von den Neonröhren (...)“

„(…) orangeweißes Streulicht erfüllt den Nachthimmel, gespeist von den Neonröhren (…)“

Es gibt Bücher, die beschäftigen einen Tage, andere Wochen. Und dann gibt es welche, die verändern den eigenen Blick aufs Leben. Man denkt beim Lesen an frühere Begegnungen, an Menschen, denen man vielleicht unrecht getan hat, weil man sich schlichtweg nicht vorstellen konnte, mit welchem Bewusstsein, mit welchem Gefühl sie durchs Leben gehen. Solch ein Buch ist Streulicht von Deniz Ohde, das im August 2020 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Es ist kein unterhaltsamer Roman, den die 1988 in Frankfurt am Main geborene Autorin da geschrieben hat. Streulicht ist ihr erster Roman, und er fordert seine Leser, vom literarischen Anspruch wie vom Inhalt. Er zwingt zum Langsamlesen, denn Ohde schreibt unglaublich dicht und assoziativ, und vieles bleibt ungesagt – und steht doch zwischen den Zeilen.

Rückkehren

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: die Erzählerin, eine junge Frau, kehrt an ihren Heimatort zurück, um an der Hochzeit ihrer beider Freunde aus der Kindheit und Jugend, Pikka und Sophia, teilzunehmen. Wir alle wissen, wie es sich anfühlt, zurückzukehren, in alte Muster zu verfallen, bei ihr geschieht dies schon an der Ortsschwelle:

Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, dem mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er immer noch selbst durch die Straßen geht. Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht.

Diese Tarnung mittels eines ausdruckslosen Gesichts darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit einer äußerst sensiblen und wachsamen Beobachterin zu tun haben. Alle Sinne werden bei ihrer Rückkehr angesprochen, wie etwa die dicke Luft, die man wie Watte kauen könnte, das leise Brummen, ein weißes Rauschen, das den Ort zu jeder Zeit erfüllt und sich weich und rauh zugleich anfühlt wie ein vertrauter Deckenbezug.

Da bist du!

Mit diesen Worten des Vaters wird sie begrüßt. Ihren Namen sagt er nicht.

Orangeweißes Streulicht

Im zweiten Kapitel liegt die Hochzeit wohl schon hinter ihr, sie verabschiedet sich vom Vater und geht auf den Wegen ihrer Kindheit durch den Ort. Das Vertraute ist das Normale, und wie die Erzählerin den Industriepark beschreibt, wirkt er fast heimelig:

Bei Dunkelheit glüht der Park wie eine riesige gestrandete Untertasse, orangeweißes Streulicht erfüllt den Nachthimmel, gespeist von den Neonröhren, die jedes Stockwerk der Türme ausleuchten, und von den Markierungen der Schornsteinspitzen für den Flugverkehr, obwohl der Luftraum über dem Park gesperrt ist, denn bei einem Absturz droht eine Chemiekatastrophe.

Dieses letzte Wort „Chemiekatastrophe“ konterkariert die zunächst wahrgenommene Stimmung, immer wieder wird der Leser auf solche Alarmwörter stoßen, er wird mit der Zeit genauso wachsam werden wie die Erzählerin selbst.

Namenlos

Dann nimmt sie den Leser mit auf ihre Erinnerungsreise und lässt uns ihre Kindheit und Jugend nachleben. Nach und nach lernen wir das familiäre Umfeld, die Freunde, deren Eltern und Lehrer kennen. Die Erzählerin ist dabei fast nicht zu greifen, sie bleibt bis zum Ende namenlos. Es ist zwar von zwei Vornamen, einem offiziellen und einem heimlichen, türkischen, die Rede. Auch davon, dass die Mutter das „i“ lang ausspricht, doch genannt wird er nicht. Etwa ein erstes Zeichen dafür, wie die Erzählerin die ihr widerfahrene Teilnahmslosigkeit für sich übernommen hat?

Die Macht der Kränkung

Es ist dieses Zurücknehmen der eigenen Person, die die Erinnerungen der Erzählerin zu Erlebnissen für den Leser machen. Nicht sie ist es, die empfindet, der Leser durchlebt die vielen Kränkungen und fragt sich bald, wie viele solcher Kränkungen man aushalten kann. Ich will das an einer Szene erläutern. Die Erzählerin ist sechs, vielleicht sieben Jahre alt und befindet sich mit anderen Kindern auf dem Schulhof, als sie bei einer Feueralarmübung von einem älteren Jungen gestoßen wird:

„Von diesen Kellerkindern“, hörte ich und dann noch ein Wort, das auch mit K begann, aber ein anderes, dann ein harter Stoß in den Rücken, der näher kommende graue Asphalt, dann nichts. Dann lange, obwohl lange das falsche Wort ist, weil die Zeit aus den Angeln gehoben war, nichts.
Als ich den Kopf hob, war der Schulhof leer.

Und während der Leser noch überlegt, welches schlimme K-Wort ihm einfällt, da begreift er, dass die kleine Erzählerin ohnmächtig auf dem Asphalt des Schulhofs liegt und – dies steht nur zwischen den Zeilen und ist deshalb so hervorragend geschrieben – dass dies eine geraume Zeit einfach nicht bemerkt worden ist: Der Unterricht ist weiter gegangen, ihr Fehlen ist weder von den Mitschülern noch von der Lehrerin bemerkt worden – eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, zumal, wenn man das Alter des Kindes vor Augen hat. Als sie schließlich gefunden und von der Schulkrankenschwester versorgt wird, erfolgt keine Anteilnahme, sondern die Bagatellisierung:

„Ein Unfall (…), nichts passiert“,

was von der Lehrerin noch gesteigert wird, weil diese suggeriert, dass die Erzählerin selbst Schuld am Geschehen trägt:

„Die Kinder rennen, ohne sich einmal umzusehen“, da müsse man noch üben, (…) und sie (…) ist ja auch etwas schmächtig.“

Auch von der Mutter, die sie abholt, erfährt sie keinen Trost, obwohl sie ihr die Situation mit dem K-Wort kurz vor dem Stoß schildert.

„Es ist ein Schimpfwort“, sagte sie. „Aber du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.“

Dieser fehlende Widerhall, diese fehlende Einordnung des Erlebten lassen erahnen, wie verunsichert ein Kind bezüglich der eigenen Empfindungen aufwachsen kann. Und so überrascht es nicht, dass die Erzählerin wenig später feststellt:

Die eigene Stimmung war etwas Vernachlässigbares

Ein Leben im Paradox

Die Erzählerin beschreibt uns den Vater, der keinen Besuch empfängt, der niemanden grüßt, um im Gegenzug in Ruhe gelassen zu werden. Ein Mensch, bei dem das Wort Wunsch verboten ist. Er kann nichts wegschmeißen wie schon sein vom Krieg traumatisierter Vater. Aus Angst nichts zu haben, werden Unmengen an billigen Kleidungsstücken, kaputtem Krimskrams und Lebensmitteln gekauft und gehortet, eine  Mischung aus Völlerei und Selbstkasteiung. Dieses Paradox begegnet der Erzählerin immer wieder und erklärt vielleicht den besonderen Erzählton: Sie urteilt nicht, sie klagt nicht an, ja sie stellt nicht mal eine Kausalität her. Sie hält sich fest an dem, was sie wahrnimmt.

Das Ausmaß an zwanghaftem Verhalten beim Vater wird in fast harmlos wirkenden Bildern festgehalten: der schmale Trampelpfad, der zum Bett des Vaters führt; die Zimmertür, die sich nicht schließen lässt. Und doch erlebt der Leser eine langsame Intensivierung, die ihn nichts Gutes ahnen lässt. So werden die Gerüche in der Wohnung intensiver: zum feuchten Putz, dem Staub, dem süßlichen Geruch der Schränke kommen der Tabak, der Geruch nach altem Schweiß, dann auch der nach ausgedünstetem Alkohol und verdorbenem Essen hinzu. Auch wird es lauter, die Eltern schreien sich an, regelmäßig wird mit Gegenständen geworfen, geht etwas zu Bruch.

Ebenso verdichten sich die Eindrücke der Verwahrlosung. Da sind zunächst die zu kurz gewordenen Kleidungsstücke, die Tiefkühlpizza  zum Mittagessen, das nicht bei Tisch und deshalb auch nicht gemeinsam eingenommen werden kann, weil es auf diesem auch gar keinen Platz mehr hat. Oder die dem Kind verschlossene Wohnungstür, weil die Eltern aus Unachtsamkeit den Schlüssel von innen im Schloss stecken lassen. Und ganz allmählich verwandeln sich Teilnahmslosigkeit und Verwahrlosung in eine wachsende Gefahr, die die Erzählerin in eine ständige Alarmbereitschaft versetzt.

Die türkische Mutter verfügt über mehr Resilienz, ja sogar Freiheitsdrang, doch sie kann sich gegenüber ihrem Mann und dessen Vater nicht durchsetzen, im Gegenteil, sie muss sich selbst schützen:

… die Tür einen Spaltbreit offen lassen, damit mein Vater sich versichert sah, immer hineingehen zu können, wenn er wollte; es war die beste Vorkehrung dagegen, dass er wirklich kam.

Diese wachsame, subtile Vorsicht verbindet Mutter und Tochter, ansonsten jedoch nicht allzu viel. Die Mutter spricht Deutsch, man weiß nicht wie gut, jedenfalls spricht und versteht die Erzählerin kein Türkisch. Der vielleicht gut gemeinte Verzicht der Mutter, ihrem Kind die eigene Sprache beizubringen, um ihm eine klarere Identität zuzuweisen (Du bist Deutsche) erklärt vielleicht die zunehmende Sprachlosigkeit zwischen Mutter und Tochter. Als die Mutter entscheidet zu gehen, lässt sie die Tochter nicht nur zurück beim trinkenden, gewalttätigen Vater, sondern auch ohne Erklärung.

Die Abenteuer, die die Erzählerin mit Pikka und Sophia, ihren Freunden, erlebt, sind die seltenen, kurzen Ausbrüche aus einer trostlosen, erlebnisarmen Kindheit. Aber sie täuschen nicht darüber hinweg, dass auch hier keine Beziehungen entstehen, die das Wort Nähe verdient hätten. Die auf sich bezogene Sophia nimmt ihre Freundin nicht ernst, erniedrigt sie im Spiel mit anderen und verstärkt sogar noch deren Verunsicherung:

Das bildest du dir ein. Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich.

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Wie viel Einsamkeit erträgt ein Mensch?

Mit allem ist die Erzählerin allein, zu Hause, in der Schule, mit ihrer ersten Periode oder mit ihrem scheiternden Versuch, aus den Gewohnheiten ihres bedrückenden Alltags auszubrechen:

… ich war allein auf einer Insel, an die unablässig Zigarettenrauch, Unrat und stumme Trauer anbrandeten.

Und die obige Frage, wieviele Kränkungen ein Mensch aushalten kann, kann man auch so stellen: Wieviel Einsamkeit erträgt ein Mensch?

Immer wieder versucht sie sich an ihrer Umgebung zu orientieren, und doch bleibt es für sie ein Leben im Paradox zwischen dem Sei still ihrer Eltern und dem Sprich lauter in der Schule.

Gefühle werden nicht benannt, sondern durch Handlungen geschildert, wie etwa der Neid der Erzählerin auf ihre Freundin, deren Allerwelts-Namen, deren Scout-Ranzen oder deren Mutter, aus deren Verhalten ein sicheres Frausein sprach. Dadurch wird der Leser immer wieder gezwungen, die Gefühle selbst zu erleben, darunter alle Formen der Kränkung: Bloßstellungen, Erniedigungen, Demütigungen, Scham, es nimmt kein Ende. Und doch hofft man, klammert man sich an den Satz von Cansu, einer jungen Frau, die die Erzählerin auf der Abendschule kennenlernt:

Du bist noch jung, du kannst noch alles retten.

Deniz Ohde: Streulicht, Roman, SuhrkampDie anschaulichen Milieubeschreibungen der etwas älteren Erzählerin lassen den Leser einen satirischen Anflug erkennen, der die verborgenen sprachlichen Fähigkeiten der Erzählerin erahnen lassen.

Natürlich ist man versucht, auf eine mögliche Parallele zwischen Autorin und Erzählerin zu hoffen. Dabei gibt es Andeutungen genug, dass, wer solch eine Kindheit und Jugend erlebt, immer droht, durchs Raster zu fallen, in den Abgrund.

Der Roman Streulicht hat alle denkbaren literarischen Preise verdient. Denn was kann Literatur mehr leisten, als dies: als Leserin oer Leser auf so hohem sprachlichen Niveau ein fremdes Leben, ein fremdes Bewusstsein, so intensiv nachzuerleben?

CK / NK

Buchinformation

Deniz Ohde
Streulicht
Fester Einband mit Schutzumschlag, 284 Seiten
Suhrkamp Verlag, 2020
ISBN: 978-3-518-42963-1

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„Das geheime Frankreich“ – unser unbekannter Nachbar

In aller Frühe märchenhaft schön, der Gardon, der aus den Cevennen kommt und in die Rhone mündet

In aller Frühe märchenhaft schön, der Gardon, der aus den Cevennen kommt und in die Rhone mündet

Vor ein paar Jahren haben wir mit der Familie in der Nähe des Pont du Gard in Frankreich Urlaub gemacht. Unsere kleine Ferienwohnung befand sich in Collias am Gardon, der, wenn er ausreichend Wasser führt, aus der 1000-Seelen-Gemeinde ein Mekka des Kanu-Sports macht. Ansonsten ist nicht allzu viel los in dem kleinen Ort, 40 Kilometer westlich von Avignon: ein Café, ein Laden, eine Boulangerie, ein Winzer, ein Kanu-Verleih und ein kleines Resto am Fluss. Alles in allem einer dieser lässig charmanten, in der Nebensaison leicht verschlafenen Orte im Süden Frankreichs, in denen es sich trefflich urlauben lässt. Wir haben uns wohl gefühlt dort, aber dieses Wohlgefühl wurde eines Abends in ungeahnte Höhen katapultiert. Das kam so:

Unscheinbarer Hinweis, große Küche: in Frankreich kein Widerspruch

Unscheinbarer Hinweis, große Küche: in Frankreich kein Widerspruch

Kulinarisches Hochamt im Bistro

Irgendwann beim morgendlichen Croissants-Holen fragte mich die Bäckerin, ob wir denn schon mal in dem Bistro in der Nähe des Kanuverleihs zum Essen gewesen wären. Ich verneinte höflich und dachte gleich an die kulinarischen Abgründe, die sich in Deutschland bisweilen an solchen Standorten auftun. Das sollten wir aber unbedingt tun, insistierte die freundliche Dame. Nun, wer wäre ich schwäbisches Kleinstadtei, einer charmanten Französin zu widersprechen?

So kehrten wir also dort ein, und was soll ich sagen? Wir genossen ein kleines kulinarisches Hochamt mit Blick auf den malerischen Gardon. Der Wirt, ein Elsässer, servierte uns eine Foie Gras, die uns trotz schlechten Gewissens zum Dahinschmelzen brachte. Dazu gab es einen köstlichen Gewürztraminer aus dem Elsaß von einer Weinkarte, die Restaurants in Großstädten zur Ehre gereicht hätte.

Leben, um zu essen

„Das Essen spielt in Frankreich die Rolle einer Religion – samt allen möglichen Orden, Sekten und Fanatikern.“

Das schreibt der Journalist und Buchautor Nils Minkmar in seinem Buch „Das geheime Frankreich: Geschichten aus einem freien Land“, das 2017 bei S. Fischer erschienen ist. Der Satz steht zu Beginn des dritten Kapitels, in dem sich der Autor mit der Rolle des Essens bei unseren Nachbarn beschäftigt. Dessen Stellenwert ist, wir ahnen es, westlich des Rheins ein anderer, quer durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch.

„Irgendwohin essen gehen zu können, dort wirklich willkommen zu sein – das ist in Frankreich nun mal konstitutiver Bestandteil der Menschenwürde.“

Minkmar (Jahrgang 1966, Mutter Französin, Vater Deutscher) legt mit seinem Buch keinen Reiseführer mit Geheimtipps vor. Statt dessen nimmt er uns mit auf eine lehrreiche und unterhaltsame Reise durch ein Frankreich hinter der Fassade. Dabei schaut der erfolgreiche Journalist (u.a. FAZ, SPIEGEL, jetzt Süddeutsche) und promovierte Historiker auf ein Land, das wir Deutschen eigentlich viel besser kennen sollten.

Frankreich: Verbündeter und Handelspartner

Nicht nur, weil Frankreich einer unserer wichtigsten politischen Verbündeten ist, auch wenn das viele deutsche Politiker:innen heute nicht mehr so sehen. Deutschland ist für Frankreich auch der wichtigste Handelspartner weltweit, so die deutsch-französische Industrie- und Handelskammer. Und „Frankreich ist Deutschlands zweitwichtigster Handelspartner in Europa und weltweit Nummer vier nach China, den Niederlanden und den USA.“ Neben dem Handel verbindet unsere beiden Länder auch eine lange, oft schmerzhafte Geschichte. So fiel der Großvater meiner französischen Schwiegermutter in der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg, während der Großvater meiner Mutter auf der deutschen Seite gegen den sogenannten Erbfeind kämpfte und traumatisiert aus dem Krieg zurückkam.

Wie ticken die Franzosen?

Wer sich also jetzt während der Ferienzeit näher mit unseren Nachbarn beschäftigen möchte, vielleicht sogar als Vorbereitung auf einen Frankreich-Urlaub, dem sei „Das geheime Frankreich“ empfohlen. Das Buch macht nicht nur Lust auf gutes Essen, sondern erklärt auch manche auf uns befremdlich wirkende Eigenheit der Franzosen. Abgesehen davon, dass die Lektüre selbst ein stilistischer Genuss ist. Und Nils Minkmar lässt keinen Zweifel daran, wie wichtig ihm, der beide Pässe besitzt, das deutsch-französische Verhältnis ist.

„Erst zusammen mit Frankreich wird Deutschland eine wahrnehmbare Größe, in Europa und in der Welt. Nur diese beiden Länder zusammen ergeben eine interessante Einheit, erzählen in ihrer singulären historischen Partnerschaft eine weltweit inspirierende Geschichte.“

Wie enttäuschend muss es für ihn gewesen sein, dass Angela Merkel nach ihrer anfänglichen Sympathiebekundungen für Emmanuel Macron dem jungen Präsidenten ein ums andere Mal eine Abfuhr erteilt hat. Und dass der mit so viel politischem Talent ausgestattete Präsident letztendlich so wenige seiner Ideen für Europa in seiner bisherigen Amtszeit hat umsetzen können.

Fünf geheime Kammern

Minkmar versammelt seine oft persönlichen Frankreich-Geschichten in fünf Kapiteln, in denen er jeweils einen Ort als Ausgangspunkt für seine mäandrierenden Überlegungen nimmt: ein Museum in Bordeaux, den Elysée-Palast, ein Gasthaus, das Pariser Krankenhaus Hôtel de Dieu, die Wohnung von Bernard Henry Lévy. Wir wollen nur ein paar der Themen aufführen, die der Autor in seinem Buch behandelt: Da geht es um Regeln, die die Franzosen ebenso lieben wie anarchisch lustvoll brechen. Er beleuchtet den Präsidentenpalast, der seine Bewohner verändert – leider nicht zum Besten. Minkmar denkt über französische Höflichkeit und Diskretion nach, „die konstitutiv ist, für das, was die Franzosen ausmacht“. Es geht um die Rolle der (intellektuellen) Frau in Frankeich, und nicht zuletzt beschäftigt ihn die schwierige Haltung Frankreichs zu seiner unzureichend aufgearbeiteten Geschichte, die verbunden ist mit dem

„Wunsch nach einer Geschichte, in der Frankreich insgesamt auf der Seite der Guten steht, ein Agent von Fortschritt und Aufklärung in der Geschichte, tragende Kraft des Bürgertums ist.“

Nils Minkmar, Das geheime Frankreich – Geschichten aus einem freien LandLiberté

Minkmars lesenswertes Buch endet mit sehr persönlichen Worten über einen französischen Großcousin, einen Mathematiklehrer, der Motorrad fährt, Krimis und anderes schreibt und dessen „ihm gemäße Daseinsform die Leichtigkeit ist“. Ein Mann, der in der Welt des Südens seine Nische kultiviert und dennoch das große Ganze im Blick behält. Bei aller kritischen Bewunderung, die der Autor in seinem Buch für Intellektuelle vom Kaliber eines Bernard Henry Lévy zum Ausdruck bringt, verkörpert dieser sympathische freiheitsliebende Großcousin für ihn

„das Beste an diesem Land und eben das, was Deutsche dort studieren, üben und lernen können: dass es die Heimat der Freiheit ist.“

À bientôt !

NK / CK

Buchinformation

Nils Minkmar
Das geheime Frankreich – Geschichten aus einem freien Land
S. Fischer Verlag, 2017, 208 Seiten

Jeden Sonntag gibt es übrigens von Nils Minkmar „Geschichten und Gedanken zur Gegenwart“ auf seinem Blog.

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als ob sie Emma hießen …

Die Silbermöwe ist mit einer Flügelspannweite von 122 – 155 cm eine exzellente Fliegerin

Die Silbermöwe ist mit einer Flügelspannweite von 122 – 155 cm eine exzellente Fliegerin

Möwenlied

Die Möwen sehen alle aus,
als ob sie Emma hießen.
Sie tragen einen weißen Flaus
und sind mit Schrot zu schießen.

Ich schieße keine Möwe tot,
ich lass sie lieber leben –
und füttre sie mit Roggenbrot
und rötlichen Zibeben.

O Mensch, du wirst nie nebenbei
der Möwe Flug erreichen.
Wofern du Emma heißest, sei
zufrieden, ihr zu gleichen.

Christian Morgenstern

Allen Emmas, die heute Geburtstag haben, gratulieren wir ganz herzlich und wünschen immer guten Wind unter den Flügeln und ab und an ein paar rötliche Zibeben.

NK & CK

PS: Was Zibeben sind, wisst ihr alle, oder?

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