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Geschichten

Die besten Geschichten schreibt das Leben, gerne auch dramatische

Die besten Geschichten schreibt das Leben

Neulich hat diese kurze Meldung in der Süddeutschen Zeitung vom 22.1.22 uns an eine wahre Geschichte erinnert, die meine Frau anlässlich eines Schreibkurses bei der Schriftstellerin Herrad Schenk schriftlich festgehalten hat, und die ich heute hier bringen darf. In den Hauptrollen unsere Tochter Emma und ein blauer Schemel von Ikea.

Emma, allein zu Haus

Es ist ein Mittwoch im Mai im Jahr 2002. Ich gehe nicht zur Arbeit, sondern verbringe den Tag mit meiner kleinen Tochter Emma, 22 Monate alt, zu Hause. Norbert ist bei der Arbeit im Geschäft. Vor uns liegt ein gemütlicher Tag zu zweit mit ein bisschen Hausarbeit, Vorlesen, vielleicht einem Spaziergang. Das Mittagessen kocht bereits auf dem Herd, da will ich noch schnell eine Wäsche auf dem Putzbalkon aufhängen. Dieser zweite, kleine Balkon unserer damaligen Wohnung (60er-Jahre-Baustil) wird von uns so genannt, weil er uns zur Ablage von Putzutensilien und eben zum Trocknen der Wäsche dient.

Es ist sehr windig, und ich bin noch auf dem Balkon damit beschäftigt, die Wäsche gut mit Klammern zu sichern, als eine kräftige Böe mit lautem Knall die Balkontüre zuschlägt. Erschrocken drehe ich mich um, erblicke Emma auf der anderen Seite der Glastür und kann gerade noch mitansehen, wie sie den nach unten gezogenen Metallhebel der Tür nach oben schnappen lässt. Es war ein alter Schließmechanismus, wie man ihn heute kaum mehr vorfindet. Ich halte unwillkürlich die Luft an. Blitzartig wird mir bewusst, dass dieser Vorgang eine leichte Übung für Emma darstellt, der Umkehrvorgang aber, den Hebel wieder nach unten zu ziehen, für das kleine Kind geradezu unmöglich ist: es trennen Emma vom oberen Ende des Hebels mindestens 30 Zentimeter. Ich spüre einen scharfen Stich im Magen. Wie komme ich bloß wieder rein in die Wohnung?! Ich kann ja keinen Schlüsseldienst anrufen. Das Telefon befindet sich in der Wohnung. Oh Gott, wieder durchfährt es mich: der Herd ist an … und das Kind allein da drin!

Ich drücke mein Gesicht an die Glastür und sehe, wie mich Emma vergnügt anschaut, fast als erwarte sie Lob für das Umlegen des Hebels. Begreift sie, dass sie mich ausgeschlossen hat, dass sie jetzt allein in der Wohnung ist?

Mama draußen, Kind drinnen

Beruhige dich, sage ich mir. Es ist ja noch nichts passiert. Um Hilfe schreien erscheint mir plötzlich irgendwie unangemessen. Ich probiere ein halbherziges „Ist da irgendjemand?“, dem nur die Alltagsgeräusche folgen.

Wie blöd von mir, warum habe ich nicht daran gedacht, etwas in die Tür zu stellen? Ich könnte mich ohrfeigen! Habe ich die Tür zum großen Balkon nach dem Lüften geschlossen? Ich kann mich nicht erinnern. Gut sehe ich hingegen das Bild vor mir, wie Emma erst neulich auf einen Stuhl geklettert war, um über die Balkonbrüstung zu sehen. Die Achterbahn in meinem Bauch nimmt Fahrt auf. Reiß dich zusammen und heul bloß nicht los, wer weiß, was das bei Emma auslöst…

Eine Idee

Ich gehe in die Knie, unsere beiden Gesichter sind auf einer Höhe. Emma scheint noch immer vergnügt. „Emma, hörst du mich? Hol den kleinen Hocker! Hol den kleinen Hocker aus deinem Zimmer!“ Der blaue Schemel von Ikea dient Emma gerade als Hocker. Tatsächlich verschwindet das Menschlein. Oje, war das jetzt klug? Ich habe nicht wirklich nachgedacht, die Worte sind einfach aus mir herausgekommen. Das Kinderzimmer befindet sich auf der anderen Seite der Wohnung, am Ende eines langen Flurs, in dem verstreut Spielsachen von Emma liegen. Sie könnte mit den Klötzchen spielen oder ihr Lieblingsbilderbuch entdecken und Lust bekommen, darin zu blättern. Dann könnte es länger dauern.

Ich warte.

Dann rufe ich erst zaghaft, dann fester ein paar Mal um Hilfe. Keine Reaktion. Am Vormittag sind die anderen Mieter häufig nicht zu Hause. Ich schaue in die Tiefe, fünf, sechs Meter, das kann ich vergessen. Ich klopfe an die verschlossene Glastür und rufe nach Emma. Nichts. Warum gibt es hier nur blöde Schwämme, aber nichts, womit ich die Tür einschlagen könnte? Wie lächerlich, wie absurd ist diese Situation? Weil sich die Aufregung inzwischen auch auf meine Gedärme auszudehnen droht, setze ich mich auf den Boden und sehe mich lächerliches Häufchen Elend in der Glastür gespiegelt. Ich warte wieder. Aber auf was warte ich? Darauf, dass nichts passiert? Oder dass endlich etwas passiert? Von diesem Balkon ist die Wohnung nicht einsehbar. Und kein Geräusch weist darauf hin, ob alles in Ordnung ist oder sich Schlimmes anbahnt. Wie lang können sich Minuten dehnen!

Ein Objekt, eine Geschichte: der blaue Schemel

Ein Objekt, eine Geschichte: der blaue Schemel

Da – ein lautes Kratzen reißt mich aus meinen wirren Gedanken. Ich drücke mein Gesicht wieder an die Glastür und erblicke Emma, die – oh Wunder – den Ikea-Schemel vor die Tür zieht. „Nach links Emma, nach links!“ Ich bin wirklich nicht mehr bei Trost, wie kann ich einem so kleinen Kind mit „links“ kommen? Ich mache verzweifelt Handbewegungen auf Höhe des Schemels zum Ort, wo dieser hin soll. Wie oft, weiß ich nicht, irgendwann sehe ich Emma einen schweren Wanderstiefel von Norbert aus dem Eck räumen, es folgt kurz darauf ein zweiter und ein dritter und vierter von mir. Sie müssen alle im Eck unter dem Hebel gestanden sein. Kurz darauf stößt Emma den Hocker nach links, unter den Hebel. Es dauerte noch ein paar für mich qualvolle Versuche, aber ich bringe Emma dazu, auf den Schemel zu steigen, ihre beiden Ärmchen nach oben zu strecken, den Hebel weit oben zu greifen und sich dann daran zu hängen mit ihrem ganzen Gewicht.

Der Hebel schnappt nach unten, ich drücke mit Wucht gegen die Tür und stoße dabei fast das verschreckte Kind um. Statt verbrannter Fischstäbchen gibt es Pizza. Halleluja!

Corinna Kern

Wenn Dinge Geschichten erzählen

Beim Vorbereiten dieses Beitrags ist mir ein Buch einfallen, dass ich vor ein paar Tagen gelesen habe, und das mir gut gefallen hat. „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ heißt der kleine Band (erschienen im Unionsverlag als Taschenbuch), und es geht darin um Gegenstände in einer Salzburger Wohnung. Ein Ikea-Schemel kommt zwar nicht vor, aber ich verspreche nicht zu viel, wenn ich sage, dass die Altbauwohnung des österreichischen Autors und Journalisten Karl-Markus Gauß voll von interessanten, scheinbar nutzlosen Dingen ist, die bei ihm Kaskaden von Erinnerungen auslösen.

„Es gibt Dinge, die braucht man nicht, und deswegen kommt man ohne sie nicht aus.“

Ausgehend zum Beispiel von einem uralten Brieföffner, den im Gauß’schen Haushalt niemand mehr braucht, folgen wir dem Autor bereitwillig ins mährische Těšetice, wo 1856 der Erfinder des Baustoffs Eternit geboren wurde, um schließlich bei den legendären (mir bis dato unbekannten) Arbeitersiedlungen im österreichischen Vöcklabrück und dem sozialen Paternalismus eines Großunternehmers zu landen. Es ist ein Vergnügen, wie dieser kluge, melancholische, durch seine Wohnung mäandrierende Stilist, die Gegenstände (darunter natürlich auch Bücher) mit deren Geschichten und diese wiederum mit der Geschichte verknüpft.

Bleibt gelassen, der Frühling kommt!

NK & CK

PS: „Die Literatur ist die angenehmste Art und Weise, das Leben zu ignorieren“, hat Fernando Pessoa geschrieben. Dem ist in diesen trüben Wochen zu Beginn des Jahres nichts hinzuzufügen.

Schöne Postkarte Nr. 29 · Mit Lektüre überwintern · © www.schoenepostkarten.de

Schöne Postkarte Nr. 29 · Fernando Pessoa · © www.schoenepostkarten.de

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1 Kommentar

  1. Ihr lieben Mitschreiberlinge,
    manche Menschen bleiben einem nachhaltig anhand ihrer Geschichten in Erinnerung. Mit „Emma allein auf dem Balkon“ habe ich dich, Corinna, vor Jahren kennengelernt und mich heute sofort an die geteilte Schreibwoche erinnert.
    Nun hoffe ich Jahr für Jahr, dass wir uns wieder mal dort treffen…
    Dass diese spannende Szene wunderbar erzählt ist, steht sowieso außer Zweifel.
    Alles Gute, euch beiden und euren Kids
    wünscht Claudia

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