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Kiefer

Die Kiefer (Pinus) wird in Japan als Symbol des Lebens und der Beständigkeit verehrt.

Die Kiefer (Pinus) wird in Japan als Symbol des Lebens und der Beständigkeit verehrt.

Unser Hund ist sehr alt!
Ich bringe meine Melancholie
vor die uralte Kiefer

Our dog is very old!
I bring my melancholy
to the ancient pine

Ein Haiku, inspiriert von Yosa Buson (1716 – 1786), der dieses Sommer-Haiku dichtete:

I have brought the melancholy of my heart
up the hill
to the wild roses in flower

Euch allen gute Sommertage!

NK | CK

Die Gattung der Rosengewächse (Rosaceae) umfasst allein auf der Nordhalbkugel zwischen 100 bis 250 Arten

Die Gattung der Rosengewächse (Rosaceae) umfasst allein auf der Nordhalbkugel zwischen 100 bis 250 Arten

 

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Übers Wasser gehen mit Pat Boran

Kite-Surfer am Strand von Trouville-sur-Mer

Kite-Surfer am Strand von Trouville-sur-Mer

Jesus, he might be,
that long-haired kite-surfer dude
walking on the sea

Ein Haiku des irischen Dichters Pat Boran, den wir hier neulich schon mal mit einem Gedicht vorgestellt haben. Boran schreibt nicht nur Gedichte, sondern macht auch Filme zu Gedichten, und er fotografiert. Pat Boran, Waveforms: Bull Island Haiku, Orange Crate Books„Waveforms: Bull Island Haiku“ heißt sein kleinformatiges Büchlein mit Haiku und Fotos, die er im Laufe eines Jahres auf der kleinen Insel Bull Island in der Bucht von Dublin aufgenommen hat. Die Insel ist grade mal 5 Kilometer lang und 800 Meter breit und seit 1981 Unesco Biosphärenreservat.

Flora, Fauna, Meer und Menschen: alles, was dem Dichter bei seinen Besuchen auf Bull Island begegnet, wird ihm auf 120 Seiten Gegenstand zu einer lesenswerten Haiku-Sequenz. Dabei sind auf einer Doppelseite jeweils einem Schwarzweiß-Foto drei englischsprachige Haiku gegenübergestellt. Pat Boran ist ein genauer Beobachter, der versteht, seine Worte richtig zu setzen. Er sieht seine – oft humorvollen und überraschenden – Haiku als Kompromisse zwischen Absicht und Zufall, Handwerk und Glück sowie zwischen den Worten und dem Unsichtbaren, das diese Worte erahnen lassen.

Es gibt viel zu entdecken mit Pat Boran auf Bull Island!

NK | CK

Buchinformation

Pat Boran
Waveforms: Bull Island Haiku
120 Seiten, Taschenbuch
Orange Crate Book, April 2015
ISBN 9780993172601

Mehr zum Buch gibt’s auf der Homepage des Autors hier.

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Sommerregenzeit mit Saigyō

Es regnet und regnet und regnet: Lesewetter und Hortensienwetter gleichermaßen

Es regnet und regnet und regnet: Lesewetter und Hortensienwetter gleichermaßen

Gedankenverloren
den Tropfen nachschauend
die vom Vordach fallen –
den lieben langen Tag
zur Sommerregenzeit

Saigyō

Lyrik aus dem 12. Jahrhundert

Saigyō war ein japanischer Dichter und Wandermönch, der von 1118 bis 1190 lebte. Er gilt als „der“ Dichter der klassischen Periode Japans in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Saigyō war das große Vorbild seiner Zeitgenossen und war auch für den Haiku-Meister Bashō (1644 – 1694) ein Fixstern am Poetenhimmel, auf den er immer wieder in seinen Haiku anspielt.

Saigyō, Gedichte aus der BergklauseEkkehard May hat vor ein paar Jahren eine schöne Auswahl von Saigyōs Gedichten übersetzt, zusammengestellt und mit klugen Kommentaren versehen, die uns westlichen Leserinnen und Lesern helfen, diesen wunderbaren Dichter, der vor mehr als 800 Jahren gelebt hat, besser zu verstehen.

»Saigyō – Gedichte aus der Bergklause Sankashū« heißt das schön ausgestattete Buch, das 2018 in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung in Mainz erschienen ist. Der Japanologe May hat zahlreiche Auszeichnungen auch in Japan für seine verdienstvolle Arbeit bekommen. Er schreibt in seiner Einführung zu Saigyō:

„Viele seiner schlicht-schönen Verse, die Gesehenes und Erlebtes in poetische Bilder umsetzen und auf eindringliche Weise mit existenziellen Einsichten verbanden, haben Zeitgenossen und Nachgeborene gleichermaßen fasziniert. Und Saigyōs endlos lange Wanderung in die nordöstlichen Tiefen des Landes wurde für Bashō die große Metapher des Lebenslaufes, dem er in einem Jahrtausendwerk Oku no hosomichi nach-gegangen ist.“

Tatsache ist, dass sich mit Saigyōs Gedichten dieses bisweilen anstrengende, schwüle Regenwetter besser ertragen lässt.

Physik aus dem 19. Jahrhundert

Aber warum regnet es eigentlich so viel in manchen Regionen, und warum leiden andere Gebiete auf der Welt unter verheerenden Dürren und Waldbränden? Und was hat das mit dem menschengemachten Klimawandel zu tun? Hinter diesen extremen Wetterlagen, die uns in Zukunft mehr beschäftigen werden, steckt das Clausius-Clapeyron-Gesetz (CC-Gesetz) aus dem Jahr 1850, benannt nach dem französischen Physiker Émile Clapeyron und seinem deutschen Kollegen Rudolf Clausius.

Stefan Rahmstorf ist Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam und arbeitet als Wissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Er hat das CC-Gesetz in einem lesenswerten Artikel im Spiegel gut erklärt. In aller Kürze: „Warme Luft kann mehr Wasserdampf aufnehmen, und zwar pro Grad Erwärmung rund sieben Prozent mehr.“ Den ganzen, lesenswerten Artikel von Rahmstorf kann man hier online nachlesen.

NK | CK

Buchinformation

Saigyō
Gedichte aus der Bergklause – Sankashû
ausgewählt, übersetzt, kommentiert und annotiert von Ekkehard May
Dieterisch’sche Verlagsbuchhandlung Mainz, 2018
ISBN: 978-3-87162-098-0
wunderschöne Leinenausgabe mit Lesebändchen

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Die Mühen der Ebenen · Günter Kunert

Baden verboten! Drapeau rouge am Strand von Trouville-sur-Mer

Baden verboten! Drapeau rouge am Strand von Trouville-sur-Mer

DIE MÜHEN DER EBENEN

Die Stürme werden stärker
die Sommer heißer
der Menschen mehr
der Unmenschen auch
das Elend größer
die Hoffnungen kleiner
die Zukunft wilder
wie Pythia weissagte
den Rauch aus der Erdspalte
inhalierend trotz
der Lungenkrebswarnung.
Angestrengt
verhelfen wir ihren Prophezeiungen
zur Wirklichkeit.

Günter Kunert (1929 – 2019)

„Dieser Dichter versteht sich exemplarisch als Augenzeuge großer wie kleiner Menschheitsdramen und als Stenograph unserer Katastrophen“, schrieb der Kritiker Hubert Spiegel in der FAZ über Günter Kunerts letzten Gedichtband „Zu Gast im Labyrinth“, der 2019 bei Hanser erschienen ist. Als pessimistischer Chronist sieht Kunert wenig Grund zur Hoffnung, tragen wir doch mit unserem gedanken- und rücksichtlosen Handeln dazu bei, dass Pythia, die weissagende Priesterin im Orakel von Delphi, Recht behält mit ihren dunklen Ahnungen.

Was Gunter Kunert wohl zum Trump-Urteil des Supreme Court diese Woche gedichtet hätte oder zu den Unwetterkatastrophen, von denen gerade eine die nächste jagt? Und was hätte er, dessen Familie von den Nazis verfolgt und zum Teil ermordert wurde, zum dramatischen Rechtsruck in Europa gesagt?

NK | CK

Buchinformation

Günter Kunert
Zu Gast im Labyrinth
Hanser Verlag, München
Fester Einband, 112 Seiten
ISBN 978-3-446-26463-2

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Sommerabend

Der Klatschmohn (Papaver rhoeas) ist eine zarte Schönheit und blüht von Mai bis Juli

Der Klatschmohn (Papaver rhoeas) ist eine zarte Schönheit und blüht von Mai bis Juli

Sommerabend –
niemand bemerkt
die Wildblumen

Summer evening –
no one notices
the wildflowers

Ein Haiku von Issa Kobayashi (15.6.1763 – 5.1.1828)

Es ist übrigens kein Wunder, dass gerade heute immer weniger Menschen die Schönheit der Wildblumen am Wegrand wahrnehmen. Warum? Weil sie damit beschäftigt sind, permanent in ihre Handys zu starren und sich von irgendwelchem Mist triggern zu lassen.

Digitale Entfremdung

Der ebenso kluge wie sympathische Moderator und Autor Jürgen Wiebicke, dessen Philosophisches Radio auf WDR 5 unbedingt hörenswert ist, hat dazu neulich mit dem Philosophen Gerhard Fitzthum gesprochen. Thema: „Digitale Entfremdung“. Kann man hier nachhören., lohnt sich!

Denkt an Issa, genießt die Sommerabende!

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Sommersonnenwende

Die gelbrote Taglinie (Hemerocallis fulva) heißt auch Bahnwärter-Taglilie

Die Gelbrote Taglilie (Hemerocallis fulva) heißt auch Bahnwärter-Taglilie

Die Nächte werden länger
die Blüte der Taglilie
Schönheit und Trost

Kranō

Ein Haiku zur Sommersonnenwende, die gestern, am 20. Juni 2024 um 22.51 Uhr mitteleuropäischer Zeit, war. Die Sonne hat den höchsten Punkt ihrer Bahn erreicht, die Nächte auf der Nordhalbkugel werden wieder kürzer. Mittsommertag heißt dieser Tag in Schweden und wird groß gefeiert, wie alle kleinen und großen Fans von „Michel aus Lönneberga“ wissen.

Die Gelbrote Taglilie stammt aus Asien: Japan, China und Korea. Sie ist heute auch in Europa und Nordamerika heimisch, wo sie sich fleißig auswildert. Bahnwärter-Taglilie heißt sie, weil Bahnwärter, die früher die Schranken noch von Hand bewegt haben, oft prächtige Beete neben ihren Bahnwärterhäuschen angelegt und liebevoll gepflegt haben. Von dort hat sich die Taglilie auf den Bahndämmen ausgesamt und weiter verbreitet.

Schönes Wochenende!

NK | CK

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Tinnitus und Meer

Ein wenig Weltflucht darf schon sein in diesen schwierigen Zeiten

Ein wenig Weltflucht darf schon sein in diesen schwierigen Zeiten

Tinnitus
statt Meeresrauschen –
Willkommen im Alltag!

Nach dem Wahldebakel letzten Sonntag möchte man eigentlich nur noch aufs Meer schauen, den Alltag vergessen und an nichts denken. Oder wie geht’s euch? Eins ist jedenfalls sicher: die hundertste Talkshow mit den immer gleichen Köpfen anzuschauen, bringt exakt Null komma Null Erkenntnisgewinn – es sei denn, man möchte sich aufregen und schlecht schlafen.

Lesenswert ist hingegen der mit Zahlen unterlegte, kluge Kommentar des Politologen Dr. Andreas Püttmann aus Bonn, den man hier nachlesen kann. Lohnt sich.

Schönes Wochenende!

NK | CK

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6. Juni 1944 | 6. Juni 2024

Stummes Mahnmal: Wehrmachts-Bunker bei Villers-sur-Mer in der Normandie

Stummes Mahnmal: Wehrmachts-Bunker bei Villers-sur-Mer in der Normandie

6. Juni 1944

Am 8. Mai 1944 setzte der alliierte Oberkommandierende des Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHAEF), General Dwight D. Eisenhower, den D-Day auf den 5. Juni 1944 fest. Nachdem am 4. Juni für den nächsten Tag schlechtes Wetter vorhergesagt wurde, verschob Eisenhower den Termin auf den 6. Juni. (Quelle: Wikipedia).

Der Tagesbefehl, den General Eisenhower für den 6. Juni 1944 herausgab, ist online im National Archive der USA einsehbar. Der Originaltext lautet:

Soldiers, Sailors, and Airmen of the Allied Expeditionary Force!

You are about to embark upon the Great Crusade, toward which we have striven these many months. The eyes of the world are upon you. The hope and prayers of liberty-loving people everywhere march with you. In company with our brave Allies and brothers-in-arms on other Fronts, you will bring about the destruction of the German war machine, the elimination of Nazi tyranny over the oppressed peoples of Europe, and security for ourselves in a free world.

Your task will not be an easy one. Your enemy is well trained, well equipped and battle-hardened. He will fight savagely.

But this is the year 1944! Much has happened since the Nazi triumphs of 1940-41. The United Nations have inflicted upon the Germans great defeats, in open battle, man-to-man. Our air offensive has seriously reduced their strength in the air and their capacity to wage war on the ground. Our Home Fronts have given us an overwhelming superiority in weapons and munitions of war, and placed at our disposal great reserves of trained fighting men. The tide has turned! The free men of the world are marching together to Victory!

I have full confidence in your courage, devotion to duty and skill in battle. We will accept nothing less than full Victory!

Good luck! And let us beseech the blessing of Almighty God upon this great and noble undertaking.

Der Preis, den die alliierten Streitkräfte für die Freiheit Europas bezahlten, war gewaltig. Allein in der Normandie starben am D-Day mehr als 4000 alliierte Soldaten; manche Quellen sprechen von 6000 Gefallenen. Auf deutscher Seite fielen 4000 bis 9000 Soldaten, viele davon noch halbe Kinder.

Amerikanischer Soldatenfriedhof in Colleville-sur-Mer oberhalb Omaha Beach

Amerikanischer Soldatenfriedhof in Colleville-sur-Mer oberhalb Omaha Beach

6. Juni 2024

Gestern, am 6. Juni 2024, begannen in Europa die Europawahlen in den Niederlanden. Die meisten der 27 EU-Mitglieder, auch Deutschland, wählen am Sonntag, den 9. Juni 2024. Die Frauen und Männer, die im 2. Weltkrieg ihr Leben für die Befreiung Europas von den Nazis geopfert haben, würden sich im Grab umdrehen, wüssten sie, wie viele Menschen im Jahr 2024 wieder an den Lippen autoritärer, faschistischer Politikerinnen und Politiker hängen, die nationalistische Lösungen für die komplexen Probleme einer globalisierten Welt verspechen. Wir wissen alle, das das nicht funktioniert.

Geben wir dieses Europa, so viele Mängel es auch haben mag, nicht in die Hände von unverantwortlichen, autoritären Populisten!

NK | CK

Buchinformation

Antony Beevor
D-Day. Die Schlacht um die Normandie
Paperback , Klappenbroschur, 640 Seiten
ISBN: 978-3-570-55146-2
Pantheon Verlag, 2011

Eine erste Übersicht über den D-Day bietet der Deutschlandfunk hier

Die stratetisch extrem wichtige Pegasus Bridge bei Bénouville wurde von der britischen 6. Airborne Division erobert

Die stratetisch wichtige Pegasus Bridge bei Bénouville wurde von der britischen 6. Airborne Division erobert

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Seerose, Frosch, kein Monet

Ob sich die Frösche in Giverny von Monet übergangen fühlten?

Ob sich die Frösche in Giverny von Monet übergangen fühlten?

Im alten Teich
eine Seerose und ein Frosch –
kein Monet

So ist das mit den visuellen Schubladen: kaum steht man vor einem Teich mit Seerosen, denkt man an Monet und Giverny – und übersieht dabei fast den Frosch, der ganz still den Augenblick zu genießen scheint.

Wir sollten uns ein Beispiel am Frosch nehmen!

NK | CK

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Europa wählen, Vielfalt wählen

Europa war, so die Griechen, eine phönizische Königstochter, die Zeus in Stiergestalt nach Kreta entführte.

Europa war, so die Griechen, eine phönizische Königstochter, die Zeus in Stiergestalt nach Kreta entführte.

450 Millionen Menschen, 27 Staaten

Vom 6. bis 9. Juni dürfen 350 Millionen Bürgerinnen und Bürger Europas das zehnte Europaparlament wählen, in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl. Da in Deutschland traditionell an einem Sonntag gewählt wird, findet die Europawahl hierzulande am Sonntag, den 9. Juni statt. Das ist nicht mehr lange hin.

Höchste Zeit, noch zwei Bücher zum Thema Europa zu empfehlen. Warum? Weil es aktuell auch in Deutschland jede Menge rückwärts gewandter Nationalisten, Faschisten oder Ignoranten gibt, die dieses Europa am liebsten in Schutt und Asche legen würden. Für diese Europagegner ist „Brüssel“ für so ziemlich alles verantwortlich, was in ihrem eigenen Leben schief läuft.

Robert Menasse: „Die Welt von Morgen“

Keine Frage, in Europa liegt manches im Argen, und leider hat sich Europa in einigen Bereichen ziemlich von der ursprünglichen Idee entfernt. Das meint der österreichische Schriftsteller und bekennende Europäer Robert Menasse. „Die Welt von Morgen. Ein souveränes, demokratisches Europa – und seine Feinde“ heißt seine Streitschrift, in der er mit Humor und Sachverstand benennt, was schlecht läuft in Europa und gleichzeitig leidenschaftlich dafür plädiert, dass wir endlich an einem postnationalen, gerechten Europa weiterbauen. Denn:

„Europäische Nationen sind bewusst (!) und planvoll (!!) in einen nachnationalen (!!!) Prozess eingetreten. Und das nicht, weil ein paar Politiker zufällig mit einem Schnapshändler zusammengesessen hatten und gerade so bei Laune waren.“

Für Menasse ist klar, das die Gründergeneration Europas mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 zur Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) die Lehren aus der eigenen Lebenserfahrung gezogen hatte: Konflikte, Kriege, Katastrophen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum 2. Weltkrieg.

„Der Nationalismus hatte zu den größten Menschheitsverbrechen geführt und Europa verwüstet.“

Dieser Nationalismus, der heute in jeder Sitzung des EU-Rats der Regierungschefinnen und -chefs der 27 Mitgliedsstaaten mal mehr mal weniger stark zum Ausdruck kommt, ist für Menasse eines der zentralen Grundübel. In 38 unterschiedlich langen Kapiteln setzt er sich mit diesem gefährlichen Nationalismus auseinander und zeigt schlüssig auf, dass autokratische Nationalisten wie der Ungar Orbàn in einer eng verzahnten Welt niemals halten könnten, was sie ihren Bürgern zuhause versprechen: Sicherheit und Wohlstand in einem ethnisch reinen Territorium. Das einzige, was diese Politiker können, ist, virtuos mit den Ängsten und der Wut der Menschen spielen und diese für ihren eigenen Machterhalt instrumentalisieren. Und ganz nebenbei nimmt man natürlich aus Brüssel an Geldern mit, was man kriegen kann.

Kein einziges der großen anstehenden Probleme (Klimawandel, Verteidigung, Migration) so der Autor, könne national gelöst werden werden. Wer das verspricht, so Menasse kürzlich in einem Interview im DLF sei entwender saudumm oder ein böser Zyniker.

Die Zukunft ist nachnational

Für den Österreicher ist klar, dass die Zukunft Europas nur ein „supranationales“ oder „nachnationales“ Projekt sein kann. Warum das so ist, und was sich am jetzigen Europa ändern muss, das beleuchtet er auf knapp 200 Seiten. Dabei nimmt er immer wieder Bezug auf historische Entwicklungen und spart nicht mit Kritik. Er beklagt etwa, dass die EU-Kommission faktisch vom EU-Rat (die meist national argumentierenden 27 Staats- und Regierungschefs) entmachtet und degradiert wurde. Eine Tatsache, die im übrigen nicht von den EU-Verträgen gedeckt ist.

Was die Zukunft Europas angeht, appelliert Menasse an unsere Phantasie und die Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen. Regionen und deren Vielfalt stehen für Menasse grundsätzlich vor Nationen.

„Dass supranationale oder nachnationale Staatlichkeit funktionieren kann, bewies ja der kulturelle und geistige Reichtum, den das historische Mitteleuropa hervorgebracht hat, und das beweist heute in Ansätzen wieder die Europäische Union.“

Diese kluge, lesenswerte Buch kommt – hoffentlich noch – rechtzeitig, bevor die Nationalisten und Populisten dieses Europa endgültig zerstört haben. Der Autor selbst zeigt sich trotz aller Ernüchterung und mitunter Verzweiflung angesichts der Misstände und Probleme Europas optimistisch. Wenn es denn gelänge, endlich eine Demokratie zu schaffen, die mehr ist „als Wählengehen auf der Basis national definierten Stimmrechts“. Menasse beruft sich auf Hans Kelsen, einen der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, wenn er am Ende seines Buches fordert:

„Wir müssen es zulassen, dass die Menschen in Europa zu einem demos werden, in einer gemeinsamen europäischen Demokratie, in einem gemeinsamen Rechtszustand auf der Basis der Menschenrechte, gleicher Rahmenbedingungen und Chancen für alle, die in Europa leben und ihr Glück zu machen versuchen. Darum geht es: Einheit in Vielfalt. Es wäre zu Jedermanns Nutzen.“

Klingt alles utopisch? Mag sein, aber hätten die Unterzeichner der Römischen Verträge 1957 nicht die Vision eines geeinten Europas gehabt, wären sie gar nicht erst nach Rom gefahren – und wir würden am 9. Juni wahrscheinlich kein EU-Parlament wählen dürfen.

Milan Kundera: „Der entführte Westen“

Robert Menasse hebt in seinem Buch ausdrücklich das historische Mitteleuropa und dessen kulturellen und geistigen Reichtum hervor. Neben anderen Autoren, die dazu Kluges geschrieben haben, erwähnt er explizit Milan Kunderas Essay „Der entführte Westen“, den der gebürtige Tschechoslowake 1983 im französischen Exil verfasst hat.

Der Kampa-Verlag hat diesen Essay jetzt als Buch herausgebracht und gleich noch einen zweiten Aufsatz von Kundera aus dem Jahr 1967 dazu gepackt: „Die Literatur und die kleinen Nationen“.

Liest man heute „Der entführte Westen“ springt einen die Aktualität dieser 40 Seiten förmlich an. Kundera beschreibt 1983 (!), wie der Westen die Länder Mitteleuropas (v.a. Polen, Ungarn, Tschechoslowakei) sehenden Auges der Einflusssphäre der Sowjetunion überlassen hat. Politisch und kulturell wurde diese Region für Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg „Fly-over-Country“. Man konzentrierte sich auf Moskau, fühlte sich Russland und der undefiniertbaren russischen Seele verbunden (für Kundera eine „Lächerlichkeit“) und freute sich bis zum Februar 2022 über billiges Gas und Öl.

Westliche Gleichgültigkeit

Kundera, der bis 1975 in der Tschechoslowakei lebte und dann nach Frankreich emigrierte, kritisiert die gleichgültige Ignoranz des Westens scharf und beschreibt mit klaren Worten, was mit der Zerstörung der mitteleuropäischen Kultur durch die Sowjetunion verloren ging – für die Menschen Mitteleuropas, aber auch für den Westen.

Der Volksaufstand und das Massaker 1956 in Ungarn, der Prager Frühling und die sowjetische Besetzung der Tschechoslowakei 1968, die polnischen Aufstände 1956, 1968 und 1970 und die Streiks in den 1980ern waren Tragödien für die jeweilige Bevölkerung. Leider wollte man im Westen nicht sehen, dass die Menschen in diesen Ländern in der Mehrheit nicht russifiziert werden wollten. Denn sie fühlten sich Europa zugehörig und nicht der Sowjetunion. So wie sich die Ukrainerinnen und Ukrainer heute dem Westen zugehörig fühlen und auf keinen Fall wieder Teil der russischen Einflusssphäre sein wollen.

„Deshalb empfindet jenes Europa, das ich Mitteleuropa nenne, die Veränderung seines Schicksals nach 1945 nicht nur als politische Katastrophe, sondern als Infragestellung seiner Zivilisation. Der tiefere Sinn seines Widerstands ist die Verteidigung seiner Identität; oder anders ausgedrückt: Es ist die Verteidigung seiner Zugehörigkeit zum Westen.“

Dies schreibt Milan Kundera 1983 im Pariser Exil. Es fällt schwer, bei diesen Worten nicht an die Ukraine zu denken, die in seinem Essay auch erwähnt wird:

„Die Ukraine, eine der großen europäischen Nationen (…) ist im Begriff, langsam zu verschwinden. Und dieser ungeheuerliche, nahezu unglaubliche Vorgang vollzieht sich, ohne das die Welt es bemerkt.“

Liest man Menasses Buch und das von Kundera zusammen, wird deutlich, dass wir die kulturelle und ethnische Vielfalt Europas in seinen vielen Regionen als Bereicherung und Stärke sehen sollten. Und klar wird auch, dass die Ukraine als Land Mitteleuropas den Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit nicht verlieren darf.

NK | CK

Buchinformation

Robert Menasse
Die Welt von Morgen. Ein souveränes, demokratisches Europa – und seine Feinde.
Suhrkamp Verlag, 2024
ISBN: 978 3 518 43165 8

Milan Kundera
Der entführte Wesen. Die Tragödie Mitteleuropas
Kampa Verlag, 2023
ISBN 978 3 311 10120 8

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