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Das Mädchenorchester von Auschwitz

Barackenfenster im Konzentrationslager Natzweiler im Elsass

Barackenfenster im ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler im Elsass

Mach dir keine Illusionen

»Kannst du Klavier spielen? Dann geh an den Flügel und spiele und singe „Madame Butterfly“.«

23 Jahre alt ist die Sängerin Fania Fénelon, als ihr diese Frage kurz nach der Ankunft im Frauenlager Auschwitz-Birkenau im Januar 1944 gestellt wird. Sie kann Klavier spielen, und sie kann singen. Ihre musikalische Ausbildung am Pariser Konservatorium rettet der jungen Frau das Leben. Als Fanny Goldstein wurde sie am 2. September 1919 in Paris als Kind jüdischer Eltern geboren. Im Mai 1943 wurde sie in Paris von der Gestapo als Mitglied der Résistance verhaftet.

Fania Fénelon wird in das Mädchenorchester von Auschwitz-Birkenau aufgenommen, das von der brillianten Geigerin und extrem strengen Dirigentin Alma Rosé, Nichte des Komponisten Gustav Mahler, geleitet wird. Die Strenge hat einen Grund: die jungen Musikerinnen spielen buchstäblich um ihr Leben. Das Orchester verdankt seine Existenz der SS-Lagerführerin Maria Mandl und dem Lagerkommandanten von Birkenau, Josef Kramer, die beide Musik liebten. Maria Mandl war verantwortlich für den Tod von tausenden weiblichen KZ-Häftlingen und wurde 1948 in Krakau hingerichtet. Der SS-Führer Josef Kramer, Lagerkommandant von Auschwitz-Birkenau, brauchte die Musik, um sich von seiner menschenverachtenden Tötungsarbeit zu erholen. Kramer wurde im Dezember 1945 im Bergen-Belsen-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichet.

»Meine Stimme ist nicht tot«

Das Konzentrationslager Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 befreit

Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 befreit

In ihrem Buch »Das Mächenorchester von Auschwitz« erzählt Fania Fénolon die erschütternde Geschichte von ihrer Gefangennahme in Paris im Mai 1943 bis zu ihrer Befreiung am 15. April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Zu diesem Zeitpunkt hing Fénelons Leben in zweifacher Hinsicht am seidenen Faden. Zum einen litt sie bereits während des Transports von Auschwitz-Birkenau nach Bergen-Belsen an lebensbedrohlichem Typhus, zum anderen waren sie und ihre Mitgefangenen schon zur Vergasung bestimmt, als das Lager in letzer Minute von englischen Infanteriesoldaten befreit wurde. Fénelon schildert ihre Rettung so:

»Der Soldat meint, ich sterbe, reißt mich aus meinem Sumpf, hebt mich auf seine Arme, es ekelt ihn nicht! Wie wohl fühle ich mich da! Ich muß leicht sein, federleicht (ich wog achtundzwanzig Kilo). An diese Männerbrust gedrückt, auf sie gestützt, meine Kraft aus der seinen schöpfend, stimme ich die Marseillaise an. Meine Stimme ist nicht tot, ich kann singen, ich lebe! …«

Wer mehr über den Holocaust und den brutalen Irrsinn der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschine wissen möchte, sollte die persönliche Geschichte von Fania Fénelon und dem Mädchenorchester von Auschwitz lesen. Fénelon schildert das erlebte Grauen in einer nüchternen Sprache und reflektiert dabei immer wieder über Gründe und Folgen der Entmenschlichung und Erniedrigung.

NK | CK

Buchinformation

Fania Fénelon
Das Mädchenorchester von Auschwitz
Taschenbuch, dtv Verlag
ISBN: 978-3-423-13291-6

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»Das Lied des Propheten« – Ein literarischer Weckruf!

Demokratie ist kein Selbstläufer. Es kommt auf jede und jeden von uns an.

Demokratie ist kein Selbstläufer. Es kommt auf jeden Baustein, auf jede und jeden von uns an.

Am 20. Januar 2025 wird der neue Präsident der USA vereidigt. Sein Schattenpräsident, der von der Demokratie nicht überzeugte Tech-Milliardär Musk wird vermutlich mit auf dem Podium sitzen. Am 23. Februar 2025 wählt Deutschland ein neues Parlament, die völkisch gesinnten Rechtspopulisten wittern Morgenluft. In Österreich wird womöglich bald ein Mann Kanzler, der auch vor rechtextremen und völkischen Aussagen nicht zurückschreckt.

Viel Stoff eigentlich für informative, gut recherchierte Sendungen, die Lügnern und Hetzern entgegentreten. Aber irgendwie befand sich Deutschland gefühlt in einem überraschend langen Winterschlaf. Zumindest wenn wir gelegentlich in den letzten Wochen den Fernseher eingeschaltet haben, hat uns die Fülle an belanglosen (Feiertags-)Reden und banalen bis stupiden Sendungen überrascht, von den Ablenkungen durch die ständigen Sportübertragungen ganz zu schweigen. Dabei wäre es höchste Zeit, den leisen und vernünftigeren Stimmen mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Demokratie setzt Rechtsstaatlichkeit voraus

Wir beziehen in unserem heutigen Beitrag politisch Stellung. Dazu wollen wir heute ein Buch vorstellen, das in jeder Hinsicht schwere Kost ist, absolut kein Wohlfühlbuch sozusagen. Aber vielleicht ein Buch der Stunde! Dazu gleich.

Denn ob die Staatsform der Demokratie in Deutschland und Europa weiter Bestand haben wird, entscheidet sich auch am 23. Februar 2025. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle sprach in einem lesenswerten Interview mit dem Soziologen Armin Nassehi (Kursbuch 220, 12/2024) davon, dass wir gerade die „Schicksalsjahre der Demokratie“ erleben.

Rechtsstaat und Demokratie hängen zusammen. Ohne Rechtsstaatlichkeit ist eine Demokratie nicht möglich. Deshalb: wer gegen Maßnahmen ist, die die Rechtsstaatlichkeit essentiell schützen, denkt und handelt undemokratisch. So geschehen im Dezember 2024, als die AfD sowie das BSW (letztere in Teilen) gegen die nun im Grundgesetz verankerten Regeln zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts votierten. Alle anderen Parteien, CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke sowie FDP stimmten für das Gesetz.

„Nicht jeder, der AfD wählt, ist gleich rechtsextrem oder ein Nazi.“ Dieser Satz ist uns erst neulich wieder begegnet, und es ist nicht immer einfach, ihm zu entgegnen. Es mag Wähler geben, die (immer noch) aus Protest AfD wählen und sich nicht mit ihren Programminhalten und den immer hasserfüllteren Aussagen von AfD-Politiker*innen auseinandersetzen. Diese Protestwähler sollten sich klar machen, dass sie einer Partei, die sich nachweislich antidemokratisch verhalten hat (s. oben), ihre wertvolle Stimme geben. Dabei könnte jeder, der es für sinnvoll hält, seinen Protest auch bei der Wahl anders kundtun. Indem er nicht wählen geht, oder besser noch, wählen geht und eine ungültige Stimme abgibt, „voter blanc“ nennt man das in Frankreich, wo diese Stimmen extra ausgewiesen werden.

»Das Lied des Propheten«

Das Buch, das wir heute vorstellen, heißt Das Lied des Propheten des irischen Autors Paul Lynch. Es wurde 2023 mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet und ist 2024 bei Klett-Cotta auf Deutsch erschienen.

„Dein ganzes Leben lang hast du geschlafen, wir alle haben geschlafen, und jetzt beginnt das große Erwachen.“

Dieser dystopische, von Beginn an fesselnde Roman spielt in Irland. Die Protagonistin ist Eilish Stack, promovierte Molekularbiologin, die im gehobenen Management arbeitet und mit ihrem Mann Larry vier Kinder hat: Mark, der im Laufe des Romans 17 Jahre alt wird, Molly 14jährig, Bailey 12jährig und das Nachzügler-Baby Ben.

Das Unheimliche, anfangs noch vage Bedrohliche, trägt kurze Zeit kafkaeske Züge – denn Eilish bekommt zu Hause Besuch von zwei Polizisten, die ihren Mann Larry sprechen wollen, ohne dass ihr in irgendeiner Weise erklärt wird, worum es geht. Sehr schnell wird jedoch klar, dass es der neuen faschistischen Macht um die Ausschaltung kritischer Stimmen geht – und Larry ist ein hochrangiger, engagierter Gewerkschaftsfunktionär. In dieser Funktion ist er eigentlich besonders geschützt, aber dieser Schutz wird, wie so vieles andere, auf das man sich in einer Demokratie einfach verlässt, im folgenden ausgehebelt durch eine sogenannte „Notverordnung“. So auch die Habeas-Corpus-Akte aus dem Jahr 1679, nach der kein Untertan der englischen Krone ohne gerichtliches Verfahren in Haft gehalten werden darf.

„(…), tatsächlich hat der Staat nun Sonderrechte und hat die Gerichte mundtot gemacht.“

Widerstand zu leisten, wenn es bedrohlich wird, dazu ist der Gewerkschaftsanwalt Michael Given – Eilish nennt ihn feige Zunge – nicht bereit. Zum Helden sind, wenn es ernst wird, nur ganz wenige geboren.

Eilish ist bereits in ihrem normalen Alltag als vierfache Mutter und berufstätige Frau, die sich zudem noch um ihren allein lebenden, langsam dement werdenden Vater kümmern muss, sehr gefordert. Nach Larrys Verhaftung und ohne jede Information über seinen Verbleib bricht das Organisationskonstrukt der Familie schnell zusammen. Das Sich-Verlieren oder Sich-Festhalten an Details, das Nicht-Sehen-Wollen von dem, was passieren wird, ist für geschichtsbewusste Leser fast unerträglich. Dabei wird die Replay-Taste der Geschichte so eindeutig gedrückt, denn:

„Wieder wird in den Nachrichten eine Verordnung verkündet, das Hören oder Lesen jedweger ausländischer Medien ist verboten worden, Nachrichtensender aus dem Ausland werden blockiert, mit dem heutigen Tag beginnt auch eine Internetsperre.“

Was stimmt noch, was nicht?

In kürzester Zeit weiß niemand mehr, was stimmt. Die Durchschnittsmenschheit macht Panikkäufe, schnell gibt es viele Güter nicht mehr, es kommt einer dramatischen Inflation. Jede Aufgabe im Alltag wird zu einer Überforderung. Mal gibt es Strom, dann wieder nicht. Das Leben scheint eine einzige Willkür zu sein. Misstrauen macht sich breit, auch unter Menschen, die sich lange kennen.

Eilishs Schwester, die in Kanada lebt, rät ihr dringend zur Flucht. Eilish widerstrebt dies, und man kann sie verstehen: Sie hat das Gefühl, ihren Vater, ihren Mann und dann auch ihren ältesten Sohn, der sich entschlossen hat, mit den Rebellen Widerstand zu leisten, im Stich zu lassen. Zudem wird ihr der Reisepass für das Baby Ben verweigert.

It could be worse. So lautet eine gängige irische Redewendung, die eigentlich tröstlich gemeinst ist. Aber für Eilish nimmt das Drama seinen Lauf. Sie verliert ohne Angaben von Gründen ihre Arbeit. Schulen schließen. Die Tochter Molly will nichts mehr essen, Bailey spricht ständig von einem Wurm. In den Straßen kommt es immer häufiger zu kriegsähnlichen Zuständen mit Detonationen, Scharfschützen stehen an vielen Ecken. Die existenzielle Bedrohung ist alltäglich. Wir wollen es von der Handlung her hierbei belassen. Denn es kommt noch schlimmer, viel schlimmer.

Wie hätte man wissen können?

Alle Dialoge, und davon gibt es viele, sind in einem Fließtext geschrieben, was etwas gewöhnungsbedürftig ist, aber von Beginn an einen unglaublichen Sog erzeugt. Ab Kapitel 8 (mit Beginn der Straßenkriege) wird das Lesen dann noch ein wenig mühsamer, weil schwer zu unterscheiden ist, was tatsächlich passiert, und was sich nur in Eilishs Vorstellungen abspielt. Es ist das – vom Autor bewusst gewollte – Chaos, das sich auf die Leser überträgt.

Mona, eine Frau, die Eilishr auf der viel zu späten Flucht begegnet, spricht aus, worin das Problem besteht:

„Wie hätte überhaupt jemand wissen können, was noch passiert, andere haben es anscheinend ja gewusst, aber ich hab nie verstanden, wie die so sicher sein konnten, also das hätte man sich niemals vorstellen können, im Leben nicht, was da noch alles passiert, und ich hab die, die fort sind, nie verstanden, wie die einfach so gehen konnten, alles zurücklassen, ihr ganzes Leben, wie sie gelebt haben, für uns war das damals vollkommen ausgeschlossen, (…)“

„Das Lied des Propheten“ ist das Buch für unsere Zeit und erschreckend aktuell, wenn man sich vor Augen führt, wie gerne Rechtsextreme und Rechtspopulisten in Deutschland und ganz Europa die Axt an demokratische Institutionen wie zum Beispiel Verfassungsgerichte oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk legen wollen.

Wenn wir gerade die „Schicksalsjahre der Demokratie“ erleben, sollten wir alle die Chance nutzen, am 23. Februar 2025 für die Demokratie und gegen die Feinde der Demokratie zu stimmen. Denn kein vernünftiger Mensch von heute will das erleben, was Eilish Stack und ihre Familie erleben müssen.

CK | NK

Buchinformation

Paul Lynch
Das Lied des Propheten
Aus dem Englischen von: Eike Schönfeld
Klett-Cotta-Verlag, 2024
320 Seiten, gebunden,
ISBN: 978-3-608-98822-2

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Goethe hat gegendert

Sprachen von „Studirenden“: Goethe und Schiller

Sprachen geschlechergerecht von „Studirenden“: Goethe und Schiller in Weimar

„Jeder von uns muss noch ein bisschen was dazu lernen“

Dieses Zitat stammt vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918 – 2015), dessen Klugheit, Scharfsinn und Klarheit heute schmerzlich vermissst werden. Das Zitat wäre auch ein gutes Motto für das Jahr 2025. Denn man hat doch den Eindruck, dass aus dem Land der Dichter und Denker das Land der Nörgler und Besserwisser geworden ist. Man werfe nur einen Blick in die so genannten Sozialen Medien oder auf den bundesdeutschen Talkshow-Tingeltangel. Aber wir waren beim Dazulernen.

Ich habe grade jedenfalls beim Radiohören ziemlich viel dazugelernt, und zwar zum Thema geschlechtergerechte Sprache. Eitle Populisten wie Markus Söder oder Hubert Aiwanger malen ja beim Gendern gerne den Untergang des Abendlandes oder zumindest das Ende Bayerns an die Wand – und zeigen damit nur ihre Bildungslücken. Gendern ist nämlich mitnichten eine Erfindung der Grünen.

„Bereits in der deutschen Klassik wurde kräftig gegendert“, schreibt die Autorin Dr. Angela Steidele in einem sehr empfehlenswerten, messerscharf argumentierten Beitrag im Deutschlandfunk vom 29.12.2024, den man hier nachlesen und nachhören kann. Da lernen wir, dass Goethe, Lessing oder Gottsched schon im 18. Jahrhundert unzufrieden mit „grammatikalisch sächlichen Frauen“ waren. Begriffe wie „Bekanntin“ und „Verwandtin“ waren damals keine Seltenheit, sondern eher die Regel.

„Die Korrektur der deutschen Grammatik im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit oder auch nur im Dienste der Logik, ist also wahrlich kein neuer Einfall. Lessing, Goethe und Co. sind uns vorausgegangen und inspirieren uns, ihren Faden wieder aufzugreifen, einen Faden, den man im Lauf des 19. Jahrhunderts zerrissen hat.“ (Angela Steidele)

NK | CK

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Wintermorgen im Rilkejahr

Eiskalte Kunst am Wintermorgen

Eiskalte Kunst am Wintermorgen

Wintermorgen

Der Wasserfall ist eingefroren,
die Dohlen hocken hart am Teich.
Mein schönes Lieb hat rote Ohren
und sinnt auf einen Schelmenstreich.

Die Sonne küßt uns. Traumverloren
schwimmt im Geäst ein Klang in Moll;
und wir gehn fürder, alle Poren
vom Kraftarom des Morgens voll.

Rainer Maria Rilke, 1895

Zum Beginn dieses Rilke-Jahres zitieren wir ein sehr frühes Gedicht, das der Dichter im im Alter von nur 20 Jahren veröffentlicht hat. Rainer Maria Rilke wurde vor 150 Jahren am 4. Dezember 1875 in Prag geboren und starb am 29. Dezember 1926 in einem Sanatorium in der Nähe von Montreux.

Rilke kann man immer wieder lesen, aber nicht zu viel auf einmal. Der bisweilen hohe Ton kann auch anstrengend sein. Man darf gespannt sein, wie viele neue Bücher über Rilke in diesem Jahr veröffentlich werden. Eine schöne Schilderung von Rilke lesen wir in Stefan Zweigs lesenswertem Buch »Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers«. Zweig schrieb über seine Begegnung mit Rilke in Paris unter anderem dies:

»Nie gab Rilke etwas aus der Hand, was nicht ganz vollkommen war.«

Gibt es ein schöneres Lob?

NK | CK

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Neujahrstag

„und dann und wann ein weißer Elephant“ – Karussell in Honfleur, Normandie

„Und dann und wann ein weißer Elephant“ – Karussell in Honfleur, Normandie

Am Neujahrstag –
wieder ein Kind zu sein,
das wünschte ich mir.

Zum neuen Jahr ein Haiku von Kobayashi Issa (1763 – 1828).

Alles Gute für 2025!

CK | NK

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Sippenhaft am Heiligabend

Wenn’s zu eng wird um den Weihnachtsbaum hilft weiter Blick und frische Luft

Wenn’s zu eng wird unter dem Weihnachtsbaum, hilft immer frische Luft

Paradoxien des Lebens

„Im Dezember schneiden die Kinder ihre Wünsche aus den Katalogen und zählen die Tage. Die Liebe irrt mit wunden Fingerknöcheln umher, bis sie vor leergekauften Regalen steht. Die Weihnachtslieder klingen aus den Lautsprechern wie die Sterbegesänge von Engeln. In den Häusern frißt man sich durch die Feiertage. Der Heiligabend nimmt einen in Sippenhaft. Niemand erlöst die Krippenfiguren, die nicht wegschauen können. Wer flüchten will, muß sich durch eines der offenen Türchen am Adventskalender zwängen.“

Walle Sayer, KohlrabenweißesSo schreibt der Dichter Walle Sayer, der bei Horb am Neckar lebt und dem es gelingt, bekannte Situationen einzufangen, um sie dann sprachmächtig, aber in zarten Tönen zu beschreiben. In seinen sprachspielerischen Paradoxien, so hat es Hermann Bausinger einmal beschrieben, spiegeln sich die Paradoxien unseres Lebens. Walle Sayers wunderbare Gedichte und Prosaminiaturen zu lesen, lohnt sich – nicht nur zur Weihnachtszeit!

Wir sagen Danke für Ihr / euer Interesse an unserem Reklamekasper und wünschen allen hier Frohe Weihnachten und erholsame Feiertage.

NK | CK

Buchinformation

Kohlrabenweißes: Menschenbilder, Ortsbestimmungen
Klöpfer & Meyer, Tübingen, 2001
ISBN 978-3421057105
nur noch antiquarisch erhältlich

Die aktuellen Bücher von Walle Sayer findet man in der Buchhandlung vor Ort.

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»Ein glückliches Tal« – Glückliche Leser

»Ein glückliches Tal« ist die Geschichte einer Landärztin im 21. Jahrhundert

»Ein glückliches Tal« ist die wahre Geschichte einer Landärztin im 21. Jahrhundert

Die Journalistin und die Ärztin

»Ich habe ein Buch gefunden, das über fünfzig Jahre niemand aufgeschlagen hat. Eine alte Penguin-Taschenbuchausgabe von John Bergers ’A fortunate man‘, ausgepreist mit 45 New Pence oder 9 Shillings.«

So beginnt »Ein glückliches Tal«, für uns eines der beglückendsten Bücher, das 2024 erschienen ist. Geschrieben hat es die englische Journalistin und Dokumentarfilmerin Polly Morland. Das Buch, das sie beim Ausräumen ihres Elternhauses findet, erzählt die Geschichte eines englischen Landarztes in Gloustershire in den 1960er Jahren. Die Lektüre des Fundstücks mit dem Titel »A Fortunate Man« (John Berger) wird zum Ausgangspunkt für Polly Morlands eigenes Buch. Denn sie erkennt beim Lesen das ländlich geprägte Tal, in dem sie selbst aufgewachsen ist. Schnell wird ihr klar, dass sie auch die Nachfolgerin des berühmten Landarztes kennt, der so vielen Ärztinnen und Ärzten in England zum Vorbild wurde.

Morland kontaktiert die Nachfolgerin des längst verstorbenen Landarztes, und aus zahlreichen Begegnungen und Gesprächen entsteht ein dichtes, authentisches Porträt einer englischen Hausärztin im 21. Jahrhundert und gleichzeitig eines ländlich geprägten Tals im Südwesten Englands. Die Hauptfigur, im Buch nur »die Ärztin« genannt, lässt uns an ihrer Arbeit, ihren Freuden und ihren Sorgen teilhaben. Sie liebt ihren Beruf über alles, und sie erzählt, auf welchen Umwegen sie ihre Berufung als Hausärztin fand, wie hart und teils demütigend die Ausbildung in den Kliniken war, und wie sie schließlich ihre Bestimmung in diesem Tal fand, in dem sie seit vielen Jahren praktiziert.

Gelungene literarische Mischung

»In den ersten Jahren im Tal drehte sich für sie alles darum, ihren Weg als Ärztin zu finden – in jederlei Sinn. Tatsächlich verlor sie in den ersten Tagen, damals noch ohne Navi oder anständigen Handyempfang, jede Menge Zeit bei Hausbesuchen, indem sie sich schlicht verirrte.«

»Eine Landschaft weiß nicht, wer sich in ihren Falten und Hügeln ein Leben baut«

»Eine Landschaft weiß nicht, wer sich in ihren Falten und Hügeln ein Leben baut«

»Ein glückliches Tal« ist eine gelungene, auf Tatsachen beruhende Mischung aus Biographie,  medizinischen Fallgeschichten, Sozialstudie, Medizingeschichte und Naturbeschreibungen. Immer sind wir als Leserinnen und Leser ganz dicht am Geschehen, so etwa zum Einstieg, als ein Schafzüchter in der Sprechstunde nicht mit seinem wirklichen Anliegen rausrückt, sondern am liebsten gleich wieder verschwinden möchte.

»Sie berührt ihn an der Schulter, um ihn aufzuhalten; nun spielt die Ärztin auf Zeit. Sie fragt, wie es da oben auf dem Hügel so gehe, sie misst seinen Blutdruck, seinen Puls, seine Temperatur. (…) Stück für Stück zieht sie ihm die ganze Geschichte aus der Nase. Der erwähnte Ärger ist vor zwei Wochen passiert. Der Schmerz geht seitdem nicht mehr weg.«

Der Schmerz rührt, wie die Ärztin durch ihr empathisches Nachfragen und nach einem Röntgenbild rausfindet, am Ende von einem gebrochenen Oberschenkelhalsknochen. Eine schwere Verletzung, die den Farmer nicht davon abgehalten hat, zwei Wochen lang unter größten Schmerzen seinen trächtigen Schafen beim Lammen zu helfen.

Person statt Fall

Liest man die Fallgeschichten, möchte man eigentlich sofort in dieses Tal ziehen und Teil dieser Gemeinschaft werden, aber vor allem, um Patient einer so engagierten, klugen und empathischen Ärztin zu sein.

Authentisch, poetisch, menschlich, lesenswert!

Authentisch, poetisch, menschlich, lesenswert!

Wir erleben die langen Tage einer Medizinerin, die in jeder Beziehung ihren Platz in der Welt gefunden hat: landschaftlich, beruflich und in ihrer Familie. Wir sehen eine erfahrene, in Zusammenhängen denkende Ärztin, die weiß, dass genügend Zeit für Patientengespräche entscheidend für einen guten Heilungsprozess ist. Die stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Fotos von Richard Baker zeigen die Ärztin in den verschiedensten Situationen während der Arbeit und in der Freizeit. Dabei verklärt die Autorin Polly Morland keine romantische Landidylle, denn auch das englische Gesundheitssystem NHS verändert sich – und leider nicht zum Besten. Wie überall fehlt Geld und Personal, aber auch der Wille zu erkennen, worauf es wirklich ankommt.

Aber trotz aller Widrigkeiten, zu denen für eine Weile auch die Corona-Pandemie zählt, bleibt sich die empathische Ärztin treu, denn ihr ist es wichtig,

»die körperlichen, sozialen und geistigen Verwundbarkeiten zu verstehen, zu benennen und sich jeder von ihnen wie einer Person, statt einem Krankheitsbild zu widmen.«

»Ein glückliches Tal« hat garantiert keine Nebenwirkungen, sondern hinterlässt glückliche Leserinnen und Leser!

NK | CK

PS: Dieses Buch gehört, die Anregung sei erlaubt, unbedingt auf die Lektüreliste von Gesundheitspolitiker*innen und vor allem angehenden Ärztinnen und Ärzten.

Buchinformation

Polly Morland
Ein glückliches Tal. Die Geschichte einer Landärztin
Übersetzung: Hans Jürgen Balmes
S. Fischer Verlag, 2024
Gebundene Ausgabe, 304 Seiten
ISBN 978-3-10-397622-9

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Haiku on Black Friday

237 Kilogramm Verpackungsmüll pro Kopf fielen 2021 in Deutschland an. Quelle: Statistische Bundesamt

237 Kilogramm Verpackungsmüll pro Kopf fielen 2021 in Deutschland an. (Statistisches Bundesamt)

Black Friday!
Konsumterror
im Rabattkleidchen

Haiku | Kranō

„Für die Aktionstage Black Friday und Cyber Monday im Jahr 2024 wurden Ausgaben durch Online-Shopper in Deutschland in Höhe von rund 5,9 Milliarden Euro prognostiziert. Im Vorjahr beliefen sich die Ausgaben der Online-Käufer rund um die beide Aktionstage ebenfalls auf 5,9 Milliarden Euro.“ (Quelle: Statista.de)

Sollten wir angsichts dieser Zahlen nicht endlich aufhören, über den sterbenden Einzelhandel und unsere verödeten Innenstädte zu lamentieren?

Schönes Wochenende!

NK | CK

Es gibt wohl keine Stadt, in der der Leerstand nicht zunimmt.

Es gibt wohl keine Stadt, in der der Leerstand nicht zunimmt

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