Der Opfer gedenken
Am Mittwochabend war ich auf dem Tübinger Holzmarkt bei einer Gedenkkundgebung zu Ehren der Opfer des Stalinismus und der politischen Gewalt heute. Die Veranstaltung unter dem Titel »Rückgabe der Namen« wurde vom Osteuropainstitut und dem Slavischen Seminar der Universität Tübingen in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft »Memorial« organisiert. Mit dem Verlesen einzelner Namen immer am 29. Oktober wird an die Opfer Stalins und deren Schicksal erinnert. Die Liste, die »Memorial« zur Verfügung stellt, ist unfassbar lang.
Holodomor
Unfassbar lang ist auch die Liste der Ukrainerinnen und Ukrainer, die 1932/33 dem Holodomor (ukrainisch: »Tötung durch Hunger«} zum Opfer gefallen sind. Der Holodomor war der unter Stalin geplante und angeordnete Massenmord an den Ukrainern Anfang der 1930er Jahre. Mindestens 4,5 Millionen Frauen, Kinder, Männer sind während dieser Zeit im Zuge von Stalins Zwangskollektivierung unter furchtbaren Qualen gestorben. In Putins Russland ist der Holodomor bis heute ein Tabuthema. In der Ukraine ist dieser mörderische Hunger bis heute im kollektiven Gedächtnis präsent. Ein Trauma, das durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder wachgerufen wurde.
Wie verarbeitet man so ein kollektives Trauma? Kann man dieses Grauen, Millionen von Einzelschicksalen als Literatur zwischen zwei Buchdeckel bringen? Eine Frage, die sich die ukrainische Autorin Tanya Pyankova, 40, bei der Arbeit an diesem großen Roman vermutlich nicht nur einmal gestellt hat. Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Roman ist in jeder Hinsicht gelungen; zugleich ist »Das Zeitalter der roten Ameisen« eine Herausforderung an uns Leserinnen und Leser.
Das Zeitalter der roten Ameisen
»Am Anfang ist es noch gar nicht so schlimm. Am Anfang schwellen dir nur die Beine an. Sie werden taub und gefühllos, sind wie aus Holz, voll und schwer wie zwei Fässer, die jemand täglich mit Zinn ausgießt, und sie tragen dich nicht mehr wie sonst, sie stören dich eher.«
Mit dieser ersten Hunger-Schilderung der 19jährigen Dusja beginnt »Das Zeitalter der roten Ameisen«, der Roman von Tanya Pyankova. Wir schreiben das Jahr 1933, Stalin hat die Ukraine seinem brutalen Hungerterror unterworfen. Auch im Dorf Matschuchy in der Zentralukraine frisst sich der Hunger durch alle Häuser. Stalins Schergen durchkämmen jedes Haus, plündern buchstäblich jedes einzelne Korn Getreide, schaffen alles Essbare und Nützliche weg. So soll der Widerstand der Ukraine gebrochen werden.
Die hungernden Bewohner tauschen buchstäblich alles gegen ein bisschen Essen. So auch die Familie von Dusja, die ihr Haus für acht Laib Brote hergegeben hat und jetzt bei der Oma Sanka lebt. Neben Dusja leben dort ihr jüngerer Bruder Myros, die Mutter Hanna, die Oma Sanka und später das Findelkind Melaschka. Der Vater Timofej wurde nach Sibirien deportiert. Er weigerte sich standhaft, mit Stalins Mördern zu kooperieren und für die Kolchose zu arbeiten.
Die zweite Erzählstimme gehört Solja. Sie ist mit dem roten Parteifunktionär und faktischen Dorfchef Ljoscha verheiratet und hat ihr Kind Ewa kurz nach der Geburt verloren. Solja und Ljoscha hungern nicht. Im Gegenteil: Solja ist vom Verlust des Kindes traumatisiert und leidet unter ständigen Fressattacken, die sie immer dicker werden lassen.
Swyryd Sutschok ist die dritte Stimme dieses Romans. Swyryd ist ein williger Helfer und Mitläufer. Er steht auf der Seite der Täter, er hungert nicht, aber er leidet – von Zeit zu Zeit – an schlechtem Gewissen. Wie viele andere Helfer und Mitläufer des Terrorregimes redet er sich sein Handeln schön und ertränkt das schlechte Gewissen im Schnaps.
Der Hunger
Neben diesen drei Hauptfiguren, deren Stimmen Tanya Pyankova schlüssig komponiert und deren Schicksale die Autorin gekonnt aufeinander zulaufen lässt, gibt es einen zentralen Protagonisten, der immer präsent ist. Der Hunger! Er frisst sich durch den gesamten Roman und tritt personalisiert in den unglaublichsten metaphorischen Verkleidungen auf.
»Gleich im Morgengrauen aber rührte sich der Hunger. Er tollte herum, und es kümmerte ihn nicht, dass wir schliefen. Er hat unter den Dielen das alte Getreidemahlwerk hevorgeholt, von Oma von früher, und jetzt dreht er uns durch wie Roggen, mahlt uns zu pudrig feinem Mehl, einem Mehl so zart und so schwarz wie kein Tod der Welt, nicht einmal der grausamste, es mahlen könnte.«
Zu den drei realistischen, nüchternen Erzählstimmen bringt die Autorin mit dem personifizierten Hunger eine surreale Stimme in den Roman. Es ist sprachlich beeindruckend, welche Bilder Pyankova für den Hunger, das Leiden, den Schmerz findet. Und sie macht so das unvorstellbare Grauen für uns Leser erfahrbar.
Im Nachwort zu ihrem Roman schreibt die Autorin, dass die Geschichten ihrer Figuren nicht erfunden seien. Sie betont, dass es kaum eine Familie in der Ukraine gibt, die nicht vom Holodomor betroffen war. Sie habe noch von ihrer Oma gelernt, buchstäblich jedes Kraut und jedes Unkraut, das man draußen findet, zu einer Mahlzeit zu verarbeiten. Diese Mahlzeiten, die die Autorin noch heute ab und an kocht, »haben mit tief im genetischen Gedächtnis eingebrannten Erinnerungen zu tun, konkret mit Erinnerungen an die Hungerjahre.«
»Die Zeit der roten Ameisen« ist ein außergewöhnlicher Roman über eine furchtbare Zeit, ein Buch über Schuld, Verantwortung und auch Menschlichkeit. Tanya Pyankova hat eine Form und eine stimmige Sprache für das Grauen gefunden, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer im Holodomor erleiden mussten. Die Übersetzung von Beatrix Kersten ist so, dass man förmlich in den Roman hineingezogen wird.
Das Terrorregime von Stalins Brigaden, die »roten Ameisen« wirkt bis heute nach. Und mehr noch, schreibt die Autorin am Ende dieses aufwühlenden Buches:
»Russlands Genozid am ukrainischen Volk dauert an.«
NK | CK
PS: Die Tübinger Reihe »Brennpunkt Ukraine« wird im Wintersemester 2025/26 fortgesetzt. Das aktuelle Programm ist hier zu finden.
Buchinformation
Tanya Pyankova
Das Zeitalter der roten Ameisen
Taschenbuch, Nagel und Kimche, 2024
ISBN 9783312013180
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Mal wieder eine hervorragende Buchbesprechung. Inhaltlich und sprachlich ein Genuss. Ich habe sie gern gelesen. Und natürlich eine große Versuchung, das Buch gleich zu kaufen und selbst zu lesen.
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Liebe Grüße
Inge Simon
Ich lese und spüre, wie sich das Grauen in mir ausbreitet und ich keine Vorstellung habe, wie sich ausgehungert anfühlen könnte und welche Grausamkeiten sich „Menschen“ ausdenken, die nicht mehr das Recht haben sollten, als solche bezeichnet zu werden. Noch während ich nachdenklich vor mich hin sinniere, wie es sich anfühlen könnte, vom Hunger ausgemergelt zu werden, spüre ich der Hilflosigkeit nach, welcher die Ukrainer damals ausgesetzt waren und aktuell nunmehr seit vier Jahren wieder mit Granaten, Bomben, bis hin zu Mord, Totschlag, Vergewaltigungen, Entführung von Kindern, täglichem Beschuss mit Drohnen, Zerstörung von Infrastruktur, der Vernichtung von Heizkraftwerken mit einem derartigen Holocaust zu kämpfen haben, weil Putin es aus mir bislang nicht nachvollziehbaren Gründen einfach so beschlossen hat und unerbittlich weiter verfolgt.
Irgendwann, habe ich gehört, dass die Ukraine auch die Werte der westlichen Staaten verteidigt, was allenthalben immerhin den Macron einmal hat äußern lassen, seine Armee zur Unterstützung der Ukrainer einmarschieren zu lassen …, aber dann davon Abstand genommen hat. Und was ist aus dem Trumpschen Machtwort geworden, diesen unseligen Krieg innerhalb von drei Tagen beenden zu können? Nichts …
Immerhin schürt es die Ängste vor der weiteren Eskalierung und die Gefahr einer sich schier endlos hinziehenden Auseinandersetzung, bis nur mehr Schutt und Asche übrig bleiben.
Allein das mittlerweile auch in unserer Republik angekommene Wort von der „Kriegstüchtigkeit“, schürt in mir das Unbehagen einer nicht mehr enden wollenden Eskalation. Es sind die Debatten rund um die Ausweitung der „Wehrhaftigkeit“, die mich an jene Zeit erinnern, als auch ich den Musterungsbescheid erhalten hatte, jedoch riesig erleichtert war, für den Wehrdienst als völlig unbrauchbar erachtet wurde, ein Wort, das in jedem anderen Kontext eine Abwertung bedeutet, die man möglicherweise so interpretiert, gleichermaßen auch für vieles andere ohne jeglichen Nutzen zu sein.
Ein Krieg, der demnächst in ein weiteres Jahr wechselt, während die Sichtung russischer Drohnen über europäischen Flughäfen darauf schließen könnte, dass man damit ausdrücken mag: „Wagt es nur nicht, euch in kriegerischer Art und Weise einzumischen.“ Womit eigentlich auch ausgedrückt werden könnte, dass die mehrfach verschärften Sanktionen lediglich belächelt werden, zumal Russland in China, Nordkorea und möglicherweise noch weiteren Staaten in dieser Welt, diesem Krieg keine Steine in den Weg legen. Ängste zu schüren, ist ebenfalls ein altbewährtes Mittel, sich nicht in diesen Konflikt einzumischen und funktioniert bislang, wenn immer mal wieder über weit tragende Waffen debattiert wird, die sich die Ukraine schon seit längerem sehnlichst herbei wünscht und selbst die „Schattenflotte“ unbehelligt lässt, die Russland immerhin weitere Optionen offen hält und Geld in die Kriegskasse leitet.
Insoweit ist das Zeitalter der „roten Ameisen“ für die Ukrainer neuerlich zu einer perfiden „Neuauflage“ gekommen, die vor den Hunger nunmehr den Tod durch Waffen ablöst.