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Ukraine

Flag of Ukraine | Used under: UP9, CC BY-SA 3.0. | Source: https://t1p.de/9fbnx

Flag of Ukraine | Used under: UP9, CC BY-SA 3.0. | Source: https://t1p.de/9fbnx

„Seit heute ist nicht nur die Ukraine in größter Gefahr. Es ist der Frieden in ganz Europa.“

Diese Zeilen schreibt Michael Thumann, Moskau-Korrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT, heute am 24. Februar 2022 in einem kurzen und leider sehr treffenden Kommentar, den man hier online nachlesen kann.

Wir sind sprachlos

NK | CK

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Freitagsfoto: Bücher gegen Tristesse

Antiquariat „Le trouve tout du Livre“ in Le Somail am Canal du Midi

Antiquariat „Le trouve tout du Livre“ in Le Somail am Canal du Midi

„Schon die Anwesenheit von Büchern lässt mich jederzeit die Tristesse der Gegenwart vergessen.“

Das schreibt Axel Hacke in seiner Kolumne „Das Beste aus aller Welt“ im SZ-Magazin am 11.2.2022. Hat es nicht etwas Tröstliches zu sehen, dass es klugen Menschen in diesen trüben Zeiten ähnlich geht wie einem selbst? Und gerade der Anfang des Jahres ist doch eine zähe, bisweilen deprimierende Angelegenheit.

„Das Beste am Februar ist doch, dass der Januar vorbei ist“, sagte meine Frau vor ein paar Tagen. Und dann haben wir beide festgestellt, dass wir dank dieser elenden Pandemie mehr, und dank unseres Lesekreises vielseitiger lesen. Wenigstens was. Ja, und hätten wir mehr Platz in den Bücherregalen …

Es ist übrigens jammerschade, dass Corona und das Online-Shopping auch den Antiquariaten mehr und mehr die Luft abdrehen. In Tübingen hat in den letzten Jahren ein Antiquariat nach dem anderen dicht gemacht. Umso erfreulicher, dass es noch solche gewaltigen Bücherhöhlen wie das Antiquariat „Le trouve tout du Livre“ gibt. Wenn ihr mal nach Südfrankreich ins Languedoc kommen solltet, empfehlen wir einen Abstecher nach Le Somail am Canal du Midi. Es lohnt sich – auch deswegen, weil nach dem Stöbern in den Bücherregalen ein paar schöne Weingüter warten. Und wer wollte widersprechen, dass auch der Wein helfen kann, die Tristesse der Gegenwart für eine Weile zu vergessen?

Santé!

NK & CK

Weinberge im Minervois, Languedoc

Weinberge im Minervois, Languedoc

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Neckarfront goes Richter

Wenn man eine Fotovorlage abmalt, sieht das zuerst furchtbar aus. Als ich jedoch mit einem Wischer darübergegangen bin, war ich erstaunt, wie gut das Ganze plötzlich wirkte. Dabei kam mir das Sfumato der alten Venezianer in den Sinn. Wenn die Effekte des Verwischens die nebensächlichen Details verschwinden lassen, erscheint das Dargestellte eindeutiger, gleichzeitig aber auch geheimnisvoller.

Tübinger Neckarfront, 10. 2. 2022, verwischt fotografiert, nachbearbeitet mit Infrarotfilter

Dieser Tage hatte der Maler Gerhard Richter Geburtstag. Er kam am 9. Februar 1932 in Dresden zur Welt. Derzeit gilt Richter als einer der teuersten Maler der Welt. Klar, dass dieser Ausnahmekünstler mit diversen Ausstellungen in Deutschland gewürdigt wird, zum Beispiel in Dresden, Düsseldorf und Köln. Und auch der Reklamekasper würdigt diesen Mann: mit der verwischten Aufnahme der Tübinger Neckarfront.

Fotos abmalen

Berühmt wurde Richter, so schreibt der Bayrische Rundfunk durch seine abgemalten Fotobilder, die er am Ende wieder verwischt, „um den Blick des Betrachters zu schärfen.“ Die ZEIT hat online eine lesenwerte Collage aus Gerhard-Richter-Zitaten zusammengestellt, die man hier nachlesen kann. Zum Abmalen von Fotovorlagen sagte er dieses:

„Wenn man eine Fotovorlage abmalt, sieht das zuerst furchtbar aus. Als ich jedoch mit einem Wischer darübergegangen bin, war ich erstaunt, wie gut das Ganze plötzlich wirkte. Dabei kam mir das Sfumato der alten Venezianer in den Sinn. Wenn die Effekte des Verwischens die nebensächlichen Details verschwinden lassen, erscheint das Dargestellte eindeutiger, gleichzeitig aber auch geheimnisvoller.“

Liegt das Wahre im Ungefähren, so wie hier die Wurmlinger Kapelle?

Liegt das Wahre im Ungefähren, so wie hier die Wurmlinger Kapelle?

Verschwommenes Lebensgefühl

Warum sich der kunsthistorisch völlig unbeleckte Reklamekasper heute mit Gerhard Richter befasst? Weil wir diese Wischtechnik (Verreißen hieß das früher beim Fotografieren) aus Neugierde öfter mal mit der Kamera ausprobieren, und weil wir vor ein paar Tagen zufällig ein interessantes SWR 2 Forum über Gerhard Richter gehört haben. Darin sprechen Richter-Expert:innen über die Fage, wie Gehard Richter die moderne Malerei geprägt hat, und ob „being blurry“, also unklar, verschwommen sein, ein Lebensgefühl ist. Wer mag, kann das hier nachhören.

So viel für heute zum Thema Kunst. Lasst den Kopf nicht hängen, bald wird’s Frühling!

NK & CK

Hyazinthen gehören zu den Spargelgewächsen. Ob Richter sie gemalt hat? Keine Ahnung.

Hyazinthen gehören zu den Spargelgewächsen und sehen auch verwischt gut aus

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Geschichten

Die besten Geschichten schreibt das Leben, gerne auch dramatische

Die besten Geschichten schreibt das Leben

Neulich hat diese kurze Meldung in der Süddeutschen Zeitung vom 22.1.22 uns an eine wahre Geschichte erinnert, die meine Frau anlässlich eines Schreibkurses bei der Schriftstellerin Herrad Schenk schriftlich festgehalten hat, und die ich heute hier bringen darf. In den Hauptrollen unsere Tochter Emma und ein blauer Schemel von Ikea.

Emma, allein zu Haus

Es ist ein Mittwoch im Mai im Jahr 2002. Ich gehe nicht zur Arbeit, sondern verbringe den Tag mit meiner kleinen Tochter Emma, 22 Monate alt, zu Hause. Norbert ist bei der Arbeit im Geschäft. Vor uns liegt ein gemütlicher Tag zu zweit mit ein bisschen Hausarbeit, Vorlesen, vielleicht einem Spaziergang. Das Mittagessen kocht bereits auf dem Herd, da will ich noch schnell eine Wäsche auf dem Putzbalkon aufhängen. Dieser zweite, kleine Balkon unserer damaligen Wohnung (60er-Jahre-Baustil) wird von uns so genannt, weil er uns zur Ablage von Putzutensilien und eben zum Trocknen der Wäsche dient.

Es ist sehr windig, und ich bin noch auf dem Balkon damit beschäftigt, die Wäsche gut mit Klammern zu sichern, als eine kräftige Böe mit lautem Knall die Balkontüre zuschlägt. Erschrocken drehe ich mich um, erblicke Emma auf der anderen Seite der Glastür und kann gerade noch mitansehen, wie sie den nach unten gezogenen Metallhebel der Tür nach oben schnappen lässt. Es war ein alter Schließmechanismus, wie man ihn heute kaum mehr vorfindet. Ich halte unwillkürlich die Luft an. Blitzartig wird mir bewusst, dass dieser Vorgang eine leichte Übung für Emma darstellt, der Umkehrvorgang aber, den Hebel wieder nach unten zu ziehen, für das kleine Kind geradezu unmöglich ist: es trennen Emma vom oberen Ende des Hebels mindestens 30 Zentimeter. Ich spüre einen scharfen Stich im Magen. Wie komme ich bloß wieder rein in die Wohnung?! Ich kann ja keinen Schlüsseldienst anrufen. Das Telefon befindet sich in der Wohnung. Oh Gott, wieder durchfährt es mich: der Herd ist an … und das Kind allein da drin!

Ich drücke mein Gesicht an die Glastür und sehe, wie mich Emma vergnügt anschaut, fast als erwarte sie Lob für das Umlegen des Hebels. Begreift sie, dass sie mich ausgeschlossen hat, dass sie jetzt allein in der Wohnung ist?

Mama draußen, Kind drinnen

Beruhige dich, sage ich mir. Es ist ja noch nichts passiert. Um Hilfe schreien erscheint mir plötzlich irgendwie unangemessen. Ich probiere ein halbherziges „Ist da irgendjemand?“, dem nur die Alltagsgeräusche folgen.

Wie blöd von mir, warum habe ich nicht daran gedacht, etwas in die Tür zu stellen? Ich könnte mich ohrfeigen! Habe ich die Tür zum großen Balkon nach dem Lüften geschlossen? Ich kann mich nicht erinnern. Gut sehe ich hingegen das Bild vor mir, wie Emma erst neulich auf einen Stuhl geklettert war, um über die Balkonbrüstung zu sehen. Die Achterbahn in meinem Bauch nimmt Fahrt auf. Reiß dich zusammen und heul bloß nicht los, wer weiß, was das bei Emma auslöst…

Eine Idee

Ich gehe in die Knie, unsere beiden Gesichter sind auf einer Höhe. Emma scheint noch immer vergnügt. „Emma, hörst du mich? Hol den kleinen Hocker! Hol den kleinen Hocker aus deinem Zimmer!“ Der blaue Schemel von Ikea dient Emma gerade als Hocker. Tatsächlich verschwindet das Menschlein. Oje, war das jetzt klug? Ich habe nicht wirklich nachgedacht, die Worte sind einfach aus mir herausgekommen. Das Kinderzimmer befindet sich auf der anderen Seite der Wohnung, am Ende eines langen Flurs, in dem verstreut Spielsachen von Emma liegen. Sie könnte mit den Klötzchen spielen oder ihr Lieblingsbilderbuch entdecken und Lust bekommen, darin zu blättern. Dann könnte es länger dauern.

Ich warte.

Dann rufe ich erst zaghaft, dann fester ein paar Mal um Hilfe. Keine Reaktion. Am Vormittag sind die anderen Mieter häufig nicht zu Hause. Ich schaue in die Tiefe, fünf, sechs Meter, das kann ich vergessen. Ich klopfe an die verschlossene Glastür und rufe nach Emma. Nichts. Warum gibt es hier nur blöde Schwämme, aber nichts, womit ich die Tür einschlagen könnte? Wie lächerlich, wie absurd ist diese Situation? Weil sich die Aufregung inzwischen auch auf meine Gedärme auszudehnen droht, setze ich mich auf den Boden und sehe mich lächerliches Häufchen Elend in der Glastür gespiegelt. Ich warte wieder. Aber auf was warte ich? Darauf, dass nichts passiert? Oder dass endlich etwas passiert? Von diesem Balkon ist die Wohnung nicht einsehbar. Und kein Geräusch weist darauf hin, ob alles in Ordnung ist oder sich Schlimmes anbahnt. Wie lang können sich Minuten dehnen!

Ein Objekt, eine Geschichte: der blaue Schemel

Ein Objekt, eine Geschichte: der blaue Schemel

Da – ein lautes Kratzen reißt mich aus meinen wirren Gedanken. Ich drücke mein Gesicht wieder an die Glastür und erblicke Emma, die – oh Wunder – den Ikea-Schemel vor die Tür zieht. „Nach links Emma, nach links!“ Ich bin wirklich nicht mehr bei Trost, wie kann ich einem so kleinen Kind mit „links“ kommen? Ich mache verzweifelt Handbewegungen auf Höhe des Schemels zum Ort, wo dieser hin soll. Wie oft, weiß ich nicht, irgendwann sehe ich Emma einen schweren Wanderstiefel von Norbert aus dem Eck räumen, es folgt kurz darauf ein zweiter und ein dritter und vierter von mir. Sie müssen alle im Eck unter dem Hebel gestanden sein. Kurz darauf stößt Emma den Hocker nach links, unter den Hebel. Es dauerte noch ein paar für mich qualvolle Versuche, aber ich bringe Emma dazu, auf den Schemel zu steigen, ihre beiden Ärmchen nach oben zu strecken, den Hebel weit oben zu greifen und sich dann daran zu hängen mit ihrem ganzen Gewicht.

Der Hebel schnappt nach unten, ich drücke mit Wucht gegen die Tür und stoße dabei fast das verschreckte Kind um. Statt verbrannter Fischstäbchen gibt es Pizza. Halleluja!

Corinna Kern

Wenn Dinge Geschichten erzählen

Beim Vorbereiten dieses Beitrags ist mir ein Buch einfallen, dass ich vor ein paar Tagen gelesen habe, und das mir gut gefallen hat. „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ heißt der kleine Band (erschienen im Unionsverlag als Taschenbuch), und es geht darin um Gegenstände in einer Salzburger Wohnung. Ein Ikea-Schemel kommt zwar nicht vor, aber ich verspreche nicht zu viel, wenn ich sage, dass die Altbauwohnung des österreichischen Autors und Journalisten Karl-Markus Gauß voll von interessanten, scheinbar nutzlosen Dingen ist, die bei ihm Kaskaden von Erinnerungen auslösen.

„Es gibt Dinge, die braucht man nicht, und deswegen kommt man ohne sie nicht aus.“

Ausgehend zum Beispiel von einem uralten Brieföffner, den im Gauß’schen Haushalt niemand mehr braucht, folgen wir dem Autor bereitwillig ins mährische Těšetice, wo 1856 der Erfinder des Baustoffs Eternit geboren wurde, um schließlich bei den legendären (mir bis dato unbekannten) Arbeitersiedlungen im österreichischen Vöcklabrück und dem sozialen Paternalismus eines Großunternehmers zu landen. Es ist ein Vergnügen, wie dieser kluge, melancholische, durch seine Wohnung mäandrierende Stilist, die Gegenstände (darunter natürlich auch Bücher) mit deren Geschichten und diese wiederum mit der Geschichte verknüpft.

Bleibt gelassen, der Frühling kommt!

NK & CK

PS: „Die Literatur ist die angenehmste Art und Weise, das Leben zu ignorieren“, hat Fernando Pessoa geschrieben. Dem ist in diesen trüben Wochen zu Beginn des Jahres nichts hinzuzufügen.

Schöne Postkarte Nr. 29 · Mit Lektüre überwintern · © www.schoenepostkarten.de

Schöne Postkarte Nr. 29 · Fernando Pessoa · © www.schoenepostkarten.de

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Winterbienen – ein Roman von Norbert Scheuer

Honigbiene (Apis) spät im Jahr bei der Arbeit auf einer Herbstaster

Bis zu diesem Sommer gab es den Autor Norbert Scheuer nicht in unserem Bücherregal. Ja, vielleicht hatte man den Namen mal im Feuilleton gelesen, und vielleicht gab es eine kleine Erinnerung an den besonderen Titel seines letzten Buches, „Winterbienen“. Das war’s aber auch schon. Und Kall, der kleine Ort in der Eifel, wo Scheuers Romane spielen – nie gehört. Obwohl wir vor Jahren mal in der Eifel waren, in Langenbroich, da wohnte Böll, den heute leider fast niemand mehr liest.

Aber zurück zu Norbert Scheuer. Der hat nach der Hochwasserkatastrophe im Sommer 2021 einen Text für die Süddeutsche Zeitung geschrieben. „In den Trümmern von Kall“ hieß die Überschrift, man kann das noch online (hinter der Paywall) nachlesen. Scheuer beschreibt dort auf eindringliche Art, wie „die Wasser stiegen und auch die kleine Stadt in der Eifel einfach mit sich rissen.“ Dieser Text war der Impuls, sich mit dem Schriftsteller Norbert Scheuer auseinanderzusetzen.

Winterbienen

„Die Aufgabe der jetzt lebenden Winterbienen besteht darin, die im Frühjahr zu erwartende neue Generation der Larven warm zu halten, zu schützen und zu füttern und so das Überleben des Volkes zu sichern. In der kalten Jahreszeit halten sie die Temperatur in ihrem Staat konstant auf zwanzig Grad, das ist gerade warm genug, damit ihre Königin und sie selbst nicht erfrieren.“

Egidius Arimond, der Erzähler im Roman „Winterbienen“, schreibt diese Zeilen am Donnerstag, den 6. Januar 1944 in sein Tagebuch. So ungewöhnlich der Name, so ungewöhnlich ist auch dieser Mann, der uns aus seinem Leben in der Zeit zwischen Winter 1944 und Frühjahr 1945 berichtet.

Winterbienen erzeugen Temperatur durch Muskelkontraktionen und bringen die Königin über den Winter

Es ist das letzte Kriegsjahr, Nazi-Deutschland ist praktisch geschlagen, auch wenn es die großen und kleinen Anhänger noch nicht wahrhaben wollen. Die Angriffe der alliierten Bomber, die von Westen über die Eifel fliegen, werden zahlreicher und richten immer mehr Zerstörung an. Die Wehrmacht hat den Bomberverbänden nur noch wenig entgegenzusetzen. Der Endkampf, der noch so viele Opfer auf allen Seiten fordern sollte, hat begonnen.

Die Welt ist aus den Fugen geraten

Auch die Welt von Egidius Arimond, der als einer der wenigen Männer aus der Kleinstadt Kall nicht zur Wehrmacht einzogen wurde. Arimond, der früher als Lehrer alte Sprachen unterrichtet hat, leidet an Epilepsie, weshalb ihn die Nazis zuerst zwangssterilisiert und dann aus dem Schuldienst entfernt haben. Sein Leben ist für die Anhänger des Rassenwahns nicht lebenswert, das Damoklesschwert der Euthanasie schwebt ständig über ihm. Das hindert den etwas verschrobenen, aber liebenswürdigen und gebildeten Außenseiter nicht daran, sein Leben zu genießen – so gut es eben mit dieser Krankheit und angesichts der äußeren Umstände geht.

Egidius Arimond schildert uns sein Leben in einer unaufgeregten, leichten Sprache, die in deutlichem Kontrast zum Bombenhagel und den immer wieder stattfindenden Gewitterstürmen in Arimonds Kopf steht. Arimonds Leben dreht sich im Wesentlichen um vier Dinge: Bienen, Frauen, seine Krankheit und die Geschichte seiner Familie.

„Meine Erinnerungen gleichen denen der Winterbienen in ihrem dunklen Stock; ich weiß nicht, ob etwas erst gestern gewesen ist oder schon lange zurückliegt. Sie erscheinen mir wie ein winziger Punkt in einem unendlichen Raum.“

Die Geschichte der Arimonds beginnt mit dem Mönch Ambrosius Arimond, der Anfang des 16. Jahrhunderts aus dem Tessin in das Urftal gekommmen ist. Dort hat Ambrosius in einem Kloster gelebt und Bienen gezüchtet, so lange bis er aufgrund eines Verhältnisses mit einer Frau das Kloster verlassen musste. Die Bienen übrigens hat dieser erste Arimond von südlich der Alpen mitgebracht. Und diese Bienen spielen für Egidius Arimond, den Epileptiker, im letzten Kriegsjahr eine ganz zentrale Rolle: sie sind sein Lebensinhalt. Seine ganze Kraft zieht er aus dem Bienenstock, dieser summenden Energiequelle.

„Ich lege mein Ohr an die Bienenkästen, höre meine Völker; ihre leisen Melodien erinnern mich an die Gesänge der Mönche, ich knie vor dem Altar einer unendlich großen Kathedrale.“

Helfer, aber kein Held

Aber die Bienen retten nicht nur das Leben des Imkers, sondern auch das Leben von jüdischen Flüchtlingen, die er im Auftrag einer unbekannten Hilfsorganisation aus dem Land schafft. Bei diesen gefährlichen Rettungsaktionen treffen die Bienen und die Frauen, die Arimond gleichermaßen liebt, zusammen – in Form von Königinnen und Lockenwicklerröllchen. Das ist so unglaublich wie spannend. Und Arimonds Tagebuchtonfall verhindert, dass wir Leser hier mit dramatischem Heldenpathos eingelullt werden.

„Man sollte sich nicht einbilden, sein Schicksal und das, was man denkt und fühlt, selbst bestimmen zu können.“

Wie Norbert Scheuer in diesem Roman auf rund 300 Seiten die zentralen Komponenten – Bomben und Bienen, Epilepsie und Erotik, Leiden und Lust, Vorfahren und Vernichtung – miteinander verknüpft, ist bemerkenswert und von einer Intensität, der man sich nicht entziehen kann. Klug und fast spielerisch deutet der Autor immer wieder die Verbindungen zwischen den verschiedenen Welten an: der Welt der Bienen und der Welt des Erzählers, zwischen dem Gewitter im Kopf des Epileptikers und dem realen Bombenhagel, zwischen dem Transport eines echten Menschenherzens über die Alpen und dem Transport der Flüchtlinge über die Grenze nach Belgien.

„Ich sitze am Nachmittag bei den Einfluglöchern. Die Bienen schwirren mit vollen Pollentaschen vorm blauen Stock, glitzern wie Bernsteintropfen in der Sonne. Sie lieben das Blau mehr als alle anderen Farben, landen auf den Einflugbrettchen und laufen im Kreis, berichten bestimmt, wo jetzt Schneeglöckchen, Huflattich und Weiden blühen.“

Wer in diesen zähen, bisweilen trüben Tagen und Wochen zu Beginn des Jahres eine Lektüre sucht, die ihn wegträgt vom Alltag und den Hauptnachrichten, dem empfehlen wir „Winterbienen“ von Norbert Scheuer, ein wundersames Buch, das lange nachhallt.

NK / CK

Buchinformation

Norbert Scheuer
Winterbienen
C. H. Beck, gebundene Ausgabe, 319 Seiten
978-3-406-73963-7

Postskriptum: Honigpanscher

Vor einigen Wochen hat uns die Leserin K. einen Artikel aus der FAZ zum Thema Bienen und Honig zukommen lassen, den wir hier empfehlen wollen. Es geht darin um gepanschten, mit Zuckersirup gestreckten Honig aus China, der zu Spottpreisen nach Deutschland importiert wird und unseren Imker:innen das Leben schwer macht.

Dabei ist die Imkerei schwer genug: Klimawandel, der Einsatz von Insektiziden in der Landwirtschaft, Bedrohung der Lebensräume der Bienen, um nur ein paar Probleme zu nennen. Die Honigpanscherei ist natürlich illegal, der Kampf gegen die Panscher ein Wettlauf gegen die Technik und die Zeit.

Aber: Bienen dürfen Honig erzeugen, und dem Endprodukt der Bienen, dem Honig, darf nichts hinzugefügt oder entzogen werden. Die Europäische Honigverordnung ist hier glaskar. Unser Fazit: Man sollte seinen Honig ausschließlich von einheimischen, möglichst regionalen Imkern des Vertrauens kaufen. Der Artikel ist hier online lesbar.

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Graureiher an der Tübinger Steinlach

Graureiher sind Fischliebhaber, weshalb sie auch Fischreiher heißen und bei Anglern nicht beliebt sind

Graureiher sind Fischliebhaber, weshalb sie auch Fischreiher heißen und bei Anglern nicht beliebt sind

This Is Just to Say

I have eaten
the fish
who swam in
the cold brook

and who
would have probably
liked
to live longer

Forgive me
he was so delicious
so tasty
and so cold

Norbert Kraas

Bei diesem Gedicht, in dem ein Graureiher die Hauptrolle spielt, handelt sich um ein Pastiche (französisch = Nachahmung) des bekannten Gedichtes „This Is Just to Say“ des US-amerikanischen Dichters und Arztes William Carlos Williams (17. September 1883 – 4. März 1963). Williams ist neben T. S. Eliot und Ezra Pound der bedeutendste Lyriker der amerikanischen Moderne. Etliche seiner Gedichte gehören zum amerikanischen Kanon. Das Gedicht vom roten Schubkarren (The Red Wheelbarrow) konnte in den USA – zumindest früher – jedes Schulkind auswendig. Hier das Original, auf das sich das Pastiche bezieht:

This Is Just to Say

I have eaten
the plums
that were in
the icebox

and which
you were probably
saving
for breakfast

Forgive me
they were delicious
so sweet
and so cold

William Carlos Williams

Hans Magnus Enzensberger hat dieses Gedicht für die rororo-Anthologie „William Carlos Williams, Gedichte“ so übersetzt:

Nur damit du Bescheid weißt

Ich habe die Pflaumen
gegessen
die im Eisschrank
waren

du wolltest
sie sicher
fürs Frühstück
aufheben

Verzeih mir
sie waren herrlich
so süß
und so kalt

Die flüchtigen Augenblicke

Der Literaturwissenschaftler, Übersetzer und Lyriker Heinrich Detering schrieb in der Frankfurter Anthologie der FAZ über dieses Gedicht: „Es ist eigentlich nur ein Zettel auf dem Küchentisch. Doch je länger man sich auf seine einfache Botschaft einlässt, desto weitläufiger werden die Zusammenhänge. Und am Ende sieht man eine fast perfekte Ehe vor sich.“ Die ganze, lesenswerte Besprechung findet man hier online.

Der Arzt William Carlos Williams, der sein ganzes Leben in Rutherford, New Jersey praktiziert hat, war ein großer Dichter des poetischen Moments im Alltag. Und: Williams will uns, seine Leserinnen und Leser, ermutigen,  „die flüchtigen Augenblicke des eigenen Lebens als potentielle Kristallisationen wahr- und ernstzunehmen, die als nebensächlich unterschätzten, inoffiziellen Momentereignisse (…)“, wie die Schriftstellerin Brigitte Kronauer in einer Rezension von Williams’ Autobiographie (FAZ 21.11.1994) treffend schrieb.

Das wäre doch mal ein Vorsatz für 2022: mehr auf die unterschätzten, eher beiläufigen Momente zu achten und diese wahrzunehmen.

NK & CK

Buchinformation

William Carlos Williams
Gedichte
 – Der harte Kern der Schönheit
Herausgeber: Joachim Sartorius
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2001
ISBN 3-499-22840-8
nur noch antiquarisch erhältlich

Graureiher (Ardea cinerea) können bis zu einem Meter lang werden, wiegen aber nur ein bis zwei Kilo

Graureiher (Ardea cinerea) können bis zu einem Meter lang werden, wiegen aber nur ein bis zwei Kilo

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Rohheit, Realität, Kunst

Tübingen ist nicht nur Neckarfront und Hölderlinturm, sondern hat auch seine Schmuddelecken

Tübingen ist nicht nur Neckarfront und Hölderlinturm, sondern hat auch seine Schmuddelecken

 

Rohheit, Realität, Kunst

„Ohne Kunst würde die Rohheit der Realität die Welt unerträglich machen“, hat der irische Dramatiker, Politiker und Nobelpreisträger George Bernard Shaw (26.7.1856 – 2.11.1950) mal gesagt. Und irgendwie passt dieses Zitat ziemlich gut in unsere Zeit, nicht?

Da haben wir auf der einen Seite die zunehmende Rohheit in den sozialen Medien und auch teilweise im sozialen Miteinander. Zum anderen fallen einem die städtischen Schmuddelecken ein, die es natürlich auch im schönen Tübingen gibt. Auf unserer Hunderunde laufen wir oben in Waldhausen regelmäßig an dieser verlassenen Gaststätte vorbei. Seit zwei, drei Jahren steht das Ding leer und verkommt mehr oder weniger dekorativ. Wobei, ganz ehrlich, die Architektur dieses Kastens war schon vor dem Verfall ziemlich fragwürdig. Wer wollte eigentlich in einem Gebäude speisen, dass den Charme einer 60er-Jahre-Raststätte auf der A5 versprüht?

Ausstellung

Eigentlich würde das Foto auch in unsere Serie „Kein schöner Land“ passen, die wir vor ein paar Wochen hier gestartet haben. Aber, es passt auch gut zum Stichwort „Kunst“. Warum? Weil uns gerade eine Einladung zur Jahresausstellung des Künstlerbundes Tübingen per Mail ins Haus geflattert ist, die noch bis Samstag, den 8. Januar 2022 zu sehen ist: alle Infos hier.

Dort stellt auch die Tübinger Künstlerin Ava Smitmans aus, die wir hier im Blog vor einer Weile vorgestellt haben. Ava Smitmans hat, wie sie selbst schreibt, ein besonderes Verhältnis zu den Ecken in Dörfern und Städten, die eher weniger beachtet werden und häufig vom Verfall und Abriss bedroht sind. Eine solche Ecke ist das verlassene Areal an der Tübinger Waldhäuser Straße ohne Zweifel. Und wir sind sicher, dass Ava Smitmans mit ihrer Kunst die Hässlichkeit dieses Gebäudes erträglich und das Besondere sichtbar machen könnte. Beispiele zum Thema „Urbane Landschaften“ kann man auf der Homepage der Künstlerin anschauen. Prädikat sehr sehenswert!

Wir wünschen Ihnen / Euch ein guten Start ins neue Jahr!

NK & CK

PS: Wer es bis 8.1.2022 nicht nach Tübingen zur Ausstellung des Künstlerbundes schafft: hier ein absolut virensicherer Video-Rundgang.

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Zum Jahresausklang – The End of This Year

„Lesen stärkt die Seele.“ Voltaire (21. November 1694 – 30. Mai 1778)

„Lesen stärkt die Seele.“ Voltaire (21.11.1694 – 30.5.1778)

The End of This Year

The best place to be is here,
at home, the two of us, while

others ski or eat out. It will be
quiet. We won’t watch the ball

fall, the crowd in Times Square.
They will celebrate while here

there is this night. Tomorrow
some will start over, or vow

to stop something; maybe try
again. Here the snow will

fall through the light over
the back door and gather

on the steps. We will hope
our daughter will be safe.

She will wonder what
the year will bring. Maybe

we will say a prayer.

A poem by Jack Ridl, used here with kind permission of the poet.

“Maybe we will say a prayer.”

Wir haben lange überlegt, wie unser Beitrag zu Weihnachten und zum Jahresausklang aussehen könnte und sind uns dann einig gewesen, dass dieses Gedicht wohl am ehesten unserer Stimmung entspricht.

Weit weg von Lärm, Konsum und Glitzer genießt ein Paar die Ruhe, den Schnee auf der Treppe, den Einfall des Lichts an der Tür. Sie hoffen, dass ihre Tochter in Sicherheit ist. Und vielleicht sprechen sie ein Gebet.

Wir bedanken uns bei allen Leserinnen und Lesern für die Treue und die motivierenden Kommentare und wünschen entspannte Weihnachten und ein gutes neues Jahr!

Genießt die Ruhe und haltet zusammen!

NK & CK

Buchinformation

Practicing to Walk Like a Heron
Poems by Jack Ridl
Paperback, 176 Seiten
Wayne State University Press, 2013
ISBN: 9780814334539


“The best place to be is here, / at home, the two of us (...)” Jack Ridl

“The best place to be is here, / at home, the two of us (…)” Jack Ridl

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