Für Deborah
Wenn ich sterbe
wünsche ich mir, dass du dabei bist
dass ich dich anseh
dass du mich ansiehst
dass ich deine hand noch fühlen kann.
Dann werde ich in ruhe sterben.
Dann braucht niemand traurig zu sein.
Dann bin ich glücklich.
Remco Campert (* 28. Juli 1929 in Den Haag; † 4. Juli 2022 in Amsterdam)
Liebesgedichte gibt es viele. Dieses Gedicht, das Remco Campert seiner Frau Deborah Spelman gewidmet hat, zählt für mich zu den schönsten lyrischen Liebeserklärungen, die ich kenne. Gelesen habe ich diese Zeilen zum ersten Mal im Juli 2024 im Literaturkalender der Edition Momente. Remco Campert, der als der bedeutendste Lyriker der niederländischen Literatur gilt, war mir bis dahin kein Begriff. Das hat sich dank Michael Krüger geändert.
Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen
So heißt das Buch des Dichters und Schriftstellers Michael Krüger. Bei der Lektüre dieser ganz besonderen, weil sehr persönlichen Literaturgeschichte des ehemaligen Chefs des Hanser-Verlags bin ich zum zweiten Mal auf Remco Campert gestoßen, dessen Vater als Fluchthelfer für jüdische Familien 1943 im KZ Neuengamme starb.
Michael Krüger blickt in seinem 2023 erschienenen Buch zurück auf sein aufregendes Leben, in dem sich bis heute so ziemlich alles um die Literatur dreht. Das beginnt bei Krüger schon in Kindheit und Jugend, die der 1943 in Berlin geborene Autor zwischen „Nikolassee, Schlachtensee und Wannsee“ verbrachte. Schon allein diese ersten 130 Seiten über eine deutsche Nachkriegsjugend im sich gerade erholenden Berlin machen Freude.
„Es ist fast siebzig Jahre her, dass ich zum ersten Mal das Strandbad Wannsee betreten habe. Aber ich sehe, wenn ich daran denke, sofort die gelben Klinkerseine vor mir, ich spüre den Sand am ganzen Körper, der sich tagelang nicht aus den Kleidern schütteln lassen wollte und aus den Haaren rieselte, wenn ich in der Schule über unlösbaren Problemen verzweifelte.“
Es folgen die Verlags- und Druckerlehre von Krüger in Berlin, dann die Zeit in London als Buchhändler, wo Krüger ab 1963 versuchte, englischen Kunden Günter Grass, Uwe Johnson und Heimito von Doderer schmackhaft zu machen. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Aber welchen Geistesgrößen und Künstlern Krüger in London begegnet!
1968 kam Krüger dann zum Hanser-Verlag, den er zu einem der wichtigsten, wenn nicht dem wichtigsten deutschsprachigen Verlag machte und der ihm, mir völlig unverständlich, bei seinem Ausscheiden 2013, nicht mal eine Abstellkammer als Arbeitsplatz für einen verdienten, emeritierten Verlagschef angeboten hat.
Anregend und bereichernd
Verabredung mit Dichtern: Erinnerungen und Begegnungen ist eine sehr anregende Lektüre, mindestens aber ein zum Nachschlagen von Schriftstellern ermunterndes Buch. Wir dürfen bekannte und unbekannte, berühmte und weniger berühmte Dichterinnen und Dichter aus Holland (s.o.), aus Polen, aus New York, aus Israel, aus Schweden, aus Italien mit ihren Werken und häufig auch mit ihren menschlichen Eigenheiten kennenlernen. Besonders die polnische Literatur, die für Krüger viel zu spät und viel zu wenig in der Bundesrepublik in Übersetzungen ankam, hat es ihm angetan.
„Das 20. Jahrhundert hat so viele wunderbare polnische Schrifsteller hervorgebracht, dasss man ein Leben braucht, um alle zu lesen; und Gott sei Dank gab und gibt es eine Reihe von Übersetzern, die wenigstens die Hauptwerke aus diesem reichen Schatz übertragen haben.“
Gut, dass es Menschen wie Michael Krüger gibt, die felsenfest davon überzeugt sind, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn wir alle mehr Zeit mit der Lektüre von Gedichten verbringen würden. Und gut, dass der Dichter, Schriftsteller, Verleger und begnadete Erzähler Krüger bei seiner Lesung in Tübingen neulich angekündigt hat, dass wir uns, wenn alles gut geht, auf einen weiteren Band mit „Erinnerungen und Begegnungen“ mit Dichterinnen und Dichtern freuen dürfen.
NK | CK
Buchinformation
Michael Krüger
Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen
Suhrkamp Verlag, Berlin, 2023
ISBN: 978-3-518-43139-9
Ich lese das Gedicht „Für Deborah“, lese es nochmals, dann ein weiters Mal, spüre der Gänsehaut nach, die sich über den ganzen Körper ausbreitet, weil „irgendwann sterben zu müssen“ ein Ereignis ist, das jedem Lebewesen bereits im Augenblick des Zeugungsakts irgendwann unausweichlich bevorsteht. Ich schließe die Augen und versuche einen Moment lang, dem Gedanken nachzugeben, was es bedeuten könnte, niemals geboren worden zu sein und verwerfe diesen augenblicklich, weil dies keinen Sinn ergibt und es außerdem sehr verwegen ist, sich das NICHTS überhaupt vorstellen zu können, gleichwohl es am Ende der Tage jedem Lebewesen aus den unterschiedlichsten Gründen passieren wird, die meisten Glaubensrichtungen durchaus ein Leben nach dem Tod als gegeben voraussetzen und allenthalben die Buddhisten ein „für immer und ewig zu verlöschen“ im Programm haben, was eventuell „tröstlicher“ sein könnte, als ein „ewiges Leben“ (als „Seele“ oder in einem anderen Zustand ?) auf einem anderen Planeten oder im sonstigen „Irgendwo“ möglicherweise eine größere Strafe sein könnte, als für immer und ewig zu verlöschen.
Das Grauen vor dem Tod im Krieg – von einer Sekunde auf die andere aus dem Leben bombardiert, erschossen, einem Panzer überrollt, also wie auch immer auf dem Schlachtfeld von einer Sekunde zur anderen aus dem Leben gerissen zu werden, ist für die davon betroffenen Menschen möglicherweise eher eine Gnade sofern es schlagartig geschieht.
Den größten Teil des Lebens in einer glücklichen Zweierbeziehung leben zu dürfen, ist eine Vision, die nicht jedem Paar gelingt, wie es die Scheidungsraten nahelegen. Ein Miteinander ohne Streitigkeiten, unterschiedliche Meinungen und Auffassungen über dies und jenes oder sonstige Verwerfungen, deren es nahezu unzählige geben kann, sind im Leben eines Ehepaars nie wirklich auszuschließen, doch bei „glücklich“ miteinander auskommenden Menschen werden derartige „Störungen“ in der Regel schnell behoben und Dauerfehden vermieden.
Ich lese nach all diesen Überlegungen nochmals das Gedicht, weiß aber immer noch nicht, wie sich das „irgendwann sterben müssen“ anfühlen wird. Ich spüre wie sich meine Augen befeuchten und erkenne, welche Bedeutung es hat, den Tod eines Partners oder einer Partnerin so zu „begleiten“ wie es im Gedicht gewünscht wird. Eine(r) geht für immer und der oder die Überlebende bleibt. Ich spüre dem „Trost“ nach, den diese Bitte für einen im Sterben liegenden Menschen begleitet und bekomme den Gedanken nicht aus dem Kopf, wie der oder die Überlebende damit umgehen wird, den Tod eines Partners oder einer Partnerin auf diese Weise begleitet zu haben … und nun das eigene Leben ohne den Partner oder die Partnerin verkraften wird … Ich spüre dabei dem Gedanken nach, wie sich das irgendwann sterben müssen „anfühlen“ wird und versinke in Schwermut.
Danke, lieber Geoerges, für deinen aufrichtigen, anrührenden, nachdenklich machenden Kommmentar.