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Freitagsfoto: Zikade (nur zu hören)

Wer sagt mir, wie der Baum heißt?

In den Bäumen
singen Zikaden –
ein Sommertraum

In the trees
singing cicadas –
a summer’s dream

Dans les arbres
chantant des cigales –
un rêve d’été

Uralte Zikade

Zikaden (auf dem Foto da oben nur zu hören), die uns nicht nur im Süden Frankreichs mit ihrem Gesang erfreuen, gibt es auf unserem Planeten seit dem Eozän. Das Eozän begann vor 56 Millionen Jahren und ging vor rund 33 Millionen Jahren zu Ende. Je nach Quellen beginnt unsere Geschichte als Homo sapiens vor ca. 60 000 Jahren. Verglichen mit der Existenz der Zikaden sind wir ein Mückenschiss in der Erdgeschichte. Und ich gehe davon aus, dass die Zikaden auch noch lange nach uns ihr Lied anstimmen werden.

Allein unter den Singzikaden gibt es übrigens mehr als 4000 bekannte Arten, insgesamt gibt es mehr als 45 000 beschriebene Arten dieser Gliederfüßer, faszinierend.

Man könnte sich verlieren in der Wissenschaft von Zikaden. Jean-Henri Fabre (1823 – 1915), der französische Entomologe, war so einer, der sich in der Welt der Insekten verloren hat. Demnächst mehr hier von diesem Forscher und Beobachter, der poetisch wie kaum ein anderer die faszinierende Welt der Insekten beschrieben hat.

Bei den Zikaden singen übrigens nur die Männchen – um die Weibchen anzulocken. Warum sonst? „Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber“, schrieb daraufhin der griechische Dichter Xenarchos im 4. Jahrhundert vor Christus. Wie langweilig und trostlos wäre doch die Welt, lieber Xenarchos, wenn die Frauen stumm wären.

„Männer machen immer so ein dummes Gesicht, wenn  sie ertappt werden. Und sie werden ertappt“, hat zum Beispiel meine kluge Frau Oscar Wilde zitiert, als sie diesen Beitrag Korrektur gelesen hat.

Schönes Wochenende!

P.S. Wer kann mir sagen, wie der Baum auf dem Foto heißt?

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Freitagsfoto: Vom Schilderwald zum Professorengarten

Leidsystem oder Leitsystem? Fotogene Beschilderung vor dem Tübinger Rathaus

Leitsystem oder Leidsystem? Fotogene Beschilderung vor dem Tübinger Rathaus

Schilderwald

Erik Spiekermann, 70, hat als Typograph und Gestalter in seinem Leben viele Designpreise bekommen und noch mehr stilbildende Schriften, Symbole und Leitsysteme geschaffen. Die von ihm entwickelten Schriftfamilien Meta und Officina gelten heute weltweit als Klassiker. Er hat für das ZDF gearbeitet, die Deutsche Bahn, den Düsseldorfer Flughafen und die Stadt London.

Zum Thema Leitsysteme hat Spiekermann mal gesagt, dass diese eine Anleitung für Fußgänger seien, wie man mit einer Stadt umzugehen habe und dabei natürlich auch architektonische Folgen hätten. An Spiekermann musste ich denken, als ich diese Woche auf dem Tübinger Marktplatz stand, Rücken zum Rathaus, und mir dieses überdimensionierte Schilderungetüm ins Auge sprang.

Ich bin ja auch für die Energiewende, und die Stadtwerke Tübingen und die Verwaltung leisten hier sicher sehr gute Arbeit. Aber ist es für die Besucher*innen der Stadt wirklich von Interesse, wie weit es vom Marktplatz zum Windpark Oberkochen ist? Und wer, bitteschön, möchte als Tourist*in die Photovoltaikanlage an einer Sportarena besichtigen? Ja, diese mehrköpfige Schilderhydra hat gravierende architektonische Folgen: sie verschandelt den Blick auf Fachwerkhäuser und Rathaus, je nach Standort. Ich wüsste gerne, was Erik Spiekermann dazu sagen würde.

Gut erhalten und heute ein Paradies für Spinnen: Gärnterhütte im Professorengarten

Gut erhalten und heute ein Paradies für Spinnen: Gärtnerhütte im Professorengarten

Professorengarten

Keinen einzigen Hinweis findet man hingegen auf ein sehenswertes landschaftliches Kleinod ganz in der Nähe von Tübingen. Nur fünfeinhalb Kilometer zu Fuß sind es vom Tübinger Marktplatz zum Professorengarten bei Kusterdingen auf den Härten. Ich hatte von diesem besonderen Waldstück auch noch nie etwas gehört, in das uns unser Freund W. diese Woche zum ersten Mal geführt hat. Der Professorengarten wurde 1902 im Forstgebiet Großholz als Arboretum des Lehrstuhls für Forstwirtschaft der Universität Tübingen angelegt.

Neben dem ehemaligen Gärtnerhaus kann man im Professorengarten große Mammutbäume, exotische Nadelgehölze und japanische Zelkoven (Zelkova zerrata) bewundern, vorausgesetzt, man ist mit jemandem unterwegs, der in Baumbestimmung firm ist. Die japanische Zelkove war mir kein Begriff, sie ist bei uns als japanische Ulme bekannt und wird bis zu 30 Meter hoch. Ihr Holz gilt als sehr wertvoll und wird in Japan unter anderem zum Bogenbau eingesetzt. Sie hat eine besonders auffällige und schöne Rinde.

Auffällige Borke der japanischen Ulme (Zelkova serrata)

Borke der japanischen Ulme (Zelkova serrata)

Der Lehrstuhl für Forstwirtschaft, der seit 1818 bestand, wurde übrigens 1920 nach Freiburg verlegt, der interessante Professorengarten geriet dadurch ziemlich in Vergessenheit. Weder auf der Homepage der Stadt Tübingen noch bei der Tübinger Touristeninformation konnte ich online einen Hinweis darauf finden. Einzig im Unimagazin attempto! gab es im Dezember 2013 einen Artikel. Schade eigentlich. Dabei verfügt der Professorengarten mit Sicherheit über mehr grünen Zauber als ein Windpark im 111 Kilometer entfernten Oberkochen.

Zelkoven haben kurze, dicke Stämme und bilden eine weit ausladende Krone, wenn sie Platz haben. In der Nähe von Osaka steht ein Exemplar, das mehr als 1000 Jahre alt ist.

Zelkoven haben kurze, dicke Stämme und bilden eine weit ausladende Krone, wenn sie Platz haben. In der Nähe von Osaka steht ein Exemplar, das mehr als 1000 Jahre alt ist.

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Freitagsfoto: Gärtnern

Keine Frage von Reichtum: englisches Gartenglück in Nayland, Suffolk

Keine Frage von Reichtum: englisches Gartenglück in Nayland, Suffolk

„Gärtnern ist keine Frage von Renommee oder Reichtum, Gärtnern ist ein Lebensstil.“

Dieses Zitat stammt von Beth Chatto, 95, die mit den Beth Chatto Gardens im Osten von Essex aus einem verwilderten Ödland ein wahres Gartenparadies geschaffen hat. Ein Besuch dort ist äußerst inspirierend.

Man muss aber nicht gleich nach England fahren, um sich in Sachen Garten und Gärtnern anregen zu lassen. Dieses Wochenende finden zum Beispiel in der Tübinger Staudengärtnerei von Erika Jantzen die Kräutertage statt. Am Samstag und Sonntag, jeweils von 10 bis 17 Uhr, bieten die kundigen Staudenmädchen allen Gärterinnen und Gärtnerinnen klugen Rat und natürlich viele gesunde Kräuter und andere Pflanzen zum Mitnehmen.

Inspierend ist übrigens auch der unterhaltsame, teils anrührende Briefwechsel zwischen Beth Chatto und Christopher Lloyd, den ich hier schon mal erwähnt habe. Christopher Lloyd hat den Garten Great Dixter in East Sussex zu einem Mekka für Gartenfreunde gemacht. Dear Friend and Gardener! heißt das Buch. Es geht um Gärtnern, Gärten, das Leben, Musik, Essen, Trinken und die intensive Freundschaft zweier Gartenkünstler. Eine Leseprobe gibt es hier online. Prädikat lesenwert, nicht nur für Gartenfreunde.

Infos zum Buch

Beth Chatto, Christopher Lloyd: Dear Friend and Gardener!
DVA Random House, 2013.
ISBN: 978-3-421-03887-6

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Empathie gegen Ego

Jack Ridl, 74, amerikanischer Lyriker, der sich mit den Zuständen im Weißen Haus nicht abfinden will. Screenshot: Video by Fetzer Institute.

Jack Ridl, 74, amerikanischer Lyriker, der sich mit den Zuständen im Weißen Haus nicht abfinden will. Screenshot: Video by Fetzer Institute.

„Wenn die Sache irr wird, werden die Irren zu Profis“ hat der amerikanische Schriftsteller und Journalist Hunter S. Thompson (1937-2005) mal geschrieben. Thompson, der zu drastischen Worten ebenso wie zu exzentrischen Handlungen neigte, konnte nicht ahnen, dass die Sache mal so irr werden könnte. Ein irrlichternder, an Schlafstörungen leidender Präsident im Weißen Haus versetzt die Welt regelmäßig mit nächtlichen Twitter-Botschaften in einen Zustand höchster Erregung und Besorgnis. Gestern Nacht gab’s wieder so eine Botschaft, die es heute auf die Titelseite der Süddeutschen Zeitung geschafft hat: Trump kündigte in einem Tweet einen Raketenangriff auf Syrien an. Die syrische Regierung ist, wie wir wissen, mit Russland verbündet. Was für ein Irrsinn!

Empathie gegen Ego

“I have never thought of my life as divided between poetry and politics”, sagte Pablo Neruda im September 1969, als er zum Präsidentschaftskandidaten der chilenischen Sozialisten gewählt wurde. Klingt gut, aber kann Poesie etwas ausrichten gegen diesen Mann im Weißen Haus, der sich selbst für den Allergrößten hält und dies die Welt fast stündlich wissen lässt?

Christian Zaschke, New-York-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, ist der Frage, ob Lyrik etwas bewirkt, am Lake Michigan nachgegangen und hat ein äußerst lesenswertes Portrait des amerikanischen Dichters Jack Ridl geschrieben. Am Ostersamstag hat es die SZ auf der Seite Drei gebracht. Man kann dem immer lesenswerten Christian Zaschke und der SZ nicht genug danken dafür: Lyrik auf der dritten Seite!

Jack Ridl, den ich hier im Blog schon mehrfach empfohlen habe, setzt dem Lautsprecher im Weißen Haus seit dessen Wahl, an jedem Donnerstag seine klugen Gedanken und vor allem seine einfühlsamen, feinen Gedichte entgegen. Empathie gegen Ego, Leise gegen Laut. Der Dichter und emeritierte Lyrik-Professor schreibt am 17.11.2016, wenige Tage nach Trumps Wahlsieg:

“So each Thursday for the next four years, I’m going to post a poem of mine […] on my blog, as a kind of protest against the anti-soul perched atop the once free world.” (Quelle: Ridl.com)

Mittlerweile hat dieser Blog mehrere tausend Abonnenten, die sich jeden Donnerstag an seinen klugen, witzigen, einfühlsamen und auch tröstlichen Gedanken und Gedichten erfreuen. Durch die Reportage in der SZ sind mehr als 200 neue Leser*innen aus dem deutschsprachigen Raum dazugekommen, wie Ridl vor gut einer Woche auf seinem Blog schrieb. Dank Christian Zaschke, der Ridl mit diesen Worten zitiert:

„Plötzlich hat mein Schreiben einen konkreten Zweck. Plötzlich ist meine Dichtung Widerstand. Mit einem Mal ist sie im ganz unmittelbaren Sinne nützlich, auf eine neue und, vor allem, seelenvolle Weise.“ (Quelle: SZ)

Die ganze Reportage mit dem Titel „The Number of the Beast“ kann man hier online nachlesen. Es lohnt sich! Die Texte und Gedichte von Jack Ridl, die sich gegen die Trump-Administration richten findet man unter diesem Link.

practicing to walk LIKE A HERON

Lohnend ist im übrigen auch die Investition in Jacks Ridls Gedichtbände. Diese sind zwar – noch – nicht als zweisprachige Ausgaben in Deutschland erhältlich, Jack Ridls Englisch ist aber sehr gut verständlich und lesbar, und dann gibt es ja auch noch gute Lexika.

Der erste Band, den ich gekauft habe, hat den schönen Titel practicing to walk LIKE A HERON, 2013 bei Wayne State University Press erschienen. Als Einstieg, noch vor dem ersten Teil, steht ein Gedicht, das für mich Jack Ridls menschenfreundliche und achtsame Haltung – und natürlich seine Sprachkunst – wunderbar zum Ausdruck bringt. Achtsam ist Jack Ridl zum Beispiel in Bezug auf die vielen Menschen, von denen wir nichts wissen und die nicht täglich im Fokus von Fox News stehen oder bei Twitter trenden.

In diesem Gedicht schafft er es in 8 Strophen, die unterschiedlichsten Menschen mit wenigen Strichen so zu charakterisieren, dass man das Gefühl hat, man würde in derselben Kleinstadt leben wie diese Leute.

“Write to Your Unknown Friends“ (Jeff Gundy)

This is for Bob. He’s a good guy, likes
to fly fish, records each catch, where
he caught it, the weather, type of fly,
time of day. He tosses everyting back.

This is for Tanya. She’s a single mom
with three kids. She works behind
the counter in the post office, knows
everyone in town. Years ago she
threw away the “Return to Sender.
Address Unknown” stamp.

This is for Ted. Ted sells cars.
He wishes cars with fins would
come back. He knows gas mileage
matters. But “You don’t see
mileage when a car drives by.”

This is for Kenny. He never made it
past the sixth grade. In the winter,
he plows driveways, shovels walks.
The rest of the year he paints houses,
mows lawn, hauls junk. Each morning
he buys a paper, reads it over a cup
of coffee, black, and does the crossword.

This is for Ann. In her backyard, she
has a perennial garden, best in town,
more than a hundred different plants.
She has four greyhounds and a parakeet.
Where she goes, she wears a hat.

This is for Martha. She talks to
sparrows. She tries to tell them
something they’ve never heard.

This is for Sammy. He’s always late.
He loves to play blackjack. He’s
no good at counting cards. He wants
to own a motorcycle and ride it
to places he’s never been – Toledo,
Jacksonville, Los Angeles, Maine.

Today there’s no one around.
Too bad. It’s a good day
to call some friends, see if
they’s like to come over, shoot
the breeze, have some pizza, maybe
watch an old movie on TV.

Jack Ridl
(used here with permisson of the author)

„Schreib’ deinen Freunden, die du nicht kennst“ (Jeff Gundy)

Das ist für Bob. Er ist ein netter Kerl. Geht gerne
Fliegenfischen, notiert jeden Fang, wo
er ihn gefangen hat, Wetter, welche Fliege,
Tageszeit. Er wirft alles zurück.

Das ist für Tanya. Alleinerziehende Mutter
mit drei Kindern. Sie arbeitet hinterm
Schalter bei der Post, kennt
jeden in der Stadt. Vor Jahren
hat sie den Stempel „Zurück an Absender!
Adresse unbekannt“ weggeworfen.

Das ist für Ted. Ted verkauft Autos.
Er wünscht sich Autos mit Heckflossen
zurück. Er weiß, dass Verbrauch
wichtig ist. Aber: „Du siehst den
Verbrauch nicht, wenn ein Auto vorbeifährt.“

Das ist für Kenny. Er hat’s nie
über die 6. Klasse raus geschafft. Im Winter
räumt er die Einfahrten, schippt die Fußwege.
Den Rest des Jahres streicht er Häuser,
mäht Rasen, fährt Gerümpel weg. Jeden Morgen
kauft er die Zeitung, liest sie bei einer Tasse
Kaffee, schwarz, und löst das Kreuzworträtsel.

Das ist für Ann. Hinter ihrem Haus hat
sie einen Staudengarten, den schönsten in der Stadt,
mehr als hundert verschiedene Pflanzen.
Sie hat vier Greyhounds und einen Sittich.
Egal, wo sie hingeht, sie trägt immer Hut.

Das ist für Martha. Sie redet
mit Spatzen. Sie versucht, ihnen
Dinge zu erzählen, die sie noch nie gehört haben.

Das ist für Sammy. Er kommt immer zu spät.
Spielt gerne Black Jack. Er kann
keine Karten zählen. Er möchte
ein Motorrad haben und damit an
Orte fahren, wo er noch nie war – Toledo,
Jacksonville, Los Angeles, Maine.

Heute ist keiner da.
Zu schade. Ist ein guter Tag,
um Freunde anzurufen, fragen, ob sie
vorbeikommen wollen, bisschen
quatschen, Pizza essen, vielleicht
einen alten Film im Fernsehen anschauen.

Kleine Anmerkung: Ich bin weder Lyriker noch Lyrikübersetzer aber immer offen für Verbesserungsvorschläge. Ich übersetze, mit kluger Unterstützung meiner Frau, weil es mir Freunde macht und weil damit auch eine intensivere Beschäftigung mit einem Gedicht einhergeht.

Infos zum Buch

Jack Ridl: practicing to walk LIKE A HERON
Wayne State University Press, Detroit, 2013
ISBN: 9780814334539

Das Buch, wie auch die anderen Bücher von Jack Ridl kann man in jedem guten Buchladen vor Ort kaufen oder bestellen.

#supportyourlocalbookstore

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Freitagsfoto: Kröten im April

April is not
the cruellest month –
listen! the toads

April ist nicht
der grausamste Monat –
horch! die Kröten

Das öde Land

“April is the cruellest month”, so beginnt das berühmte, komplexe Langgedicht „The Waste Land“ von T.S. Eliot (1888 – 1965), der 1948 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Ich gebe zu, ich habe das Gedicht nicht ganz gelesen. Die Zeile fiel mir aber ein, als ich mit meinem Sohn bei einem Spaziergang auf einen Teich gestoßen bin, in dem es ziemlich heiß herging. Das Gedicht gibt es bei Insel in einer zweisprachigen Ausgabe (ISBN 978-3-518-42022-5).

Kröten

Wer sich über das Wesen der Kröten, eines der ältesten Lebewesen auf unserem Planeten, informieren möchte, dem sei das Buch „Kröten“ von Beatrix Langner empfohlen. Eine Natur- und Kulturgeschichte dieser besonderen Tiere, erschienen 2018 in der schönen Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz in Berlin (ISBN 978-3-95757-546-3). Wie alle Bücher dieser Reihe ein bibliophiler Genuss, da sage ich nichts Neues.

Krötienou

Seit meine Schwiegermutter eine Zeitlang vor ihrer Kellertür eine Kröte namens „Krötienou“ als Mitbewohnerin hatte, bin ich der Meinung, dass Kröten völlig zu Unrecht als abstoßend empfunden werden. Und wurde nicht im „Räuber Hotzenplotz“ die Fee Amaryllis vom bösen Zauberer Petrosilius Zwackelmann in eine Unke (Feuerkröte) verwandelt? Lange musste sie im Unkenpfuhl ausharren, bis Otfried Preußler sie vom Kasperl in einer dramatischen Aktion befreien ließ. Ach, was für ein großartiges Kinderbuch – übrigens auch für Erwachsene. Erschienen beim Thienemann-Verlag in Stuttgart (ISBN 978-3-522-10590-3). Prädikat: Unbedingt lesenswert!

 

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Freitagsfoto: Holzofenbrot und Weißwein

„Was macht es eigentlich mit dem Gehirn der Menschen, wenn ihr Dasein zunehmend virtuell stattfindet?“, fragt sich Sibylle Berg in ihrer aktuellen, sehr lesenswerten Kolumne auf Spiegel-online. Mark Zuckerberg wird uns diese Frage nicht beantworten, weil es ihm wahrscheinlich ziemlich egal ist, dass das Leben von immer mehr Menschen nur noch im Netz abläuft. Berg klagt, wie ich finde, zurecht, dass es „immer weniger gibt, das real stattfindet, das ein anderes Gefühl herstellt, außer Gereiztheit“.

Wir sind immer woanders

Irgendwie scheinen viele von uns immer mehr woanders zu sein, aber nie da, wo sie sich real gerade befinden. Morgens zum Beispiel, wenn ich mit unserem Hund am Waldrand spaziere, begegnen mir die ersten Jogger*innen oder Walker*innen mit ernstem Blick, sauber verstöpselt und verkabelt – und weit weg vom Schrei des Bussards über ihnen oder dem wütenden Krächzen der Rabenkrähen Saatkrähen (Danke, Rickmer!) ein paar Meter neben ihnen auf dem frisch gepflügten Acker. Und wie sollten diese in anderen Welten Herumgeisternden auch auf meinen Morgengruß reagieren können, wo sie ihn doch gar nicht hören? Wieder ein kleines Stück weniger Begegnung und ein wenig mehr Vereinsamung, auch für mich. Aber genug lamentiert jetzt, kommen wir zu etwas Schönem:

Von derlei Dingen hängt unser Leben ab

Im Blog Kaffeehaussitzer bin ich auf eine bemerkenswerte Textstelle aus Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray (Insel Taschenbuch, ISBN 978-3-458-36219-7) gestoßen. Ich habe den Roman noch nicht gelesen, er liegt seit vorgestern im Stapel auf meinem Nachttisch. Oscar Wilde schreibt:

„Du magst wähnen, du ständest sicher da und seist stark. Aber ein zufälliger Farbton in einem Zimmer oder ein Morgenhimmel, ein besonderer Duft, den du einst geliebt hast und der tiefe Erinnerungen mit sich führt, eine Zeile eines vergessenen Gedichts, die dir wieder einfällt, ein paar Takte aus einem Musikstück, das du nicht mehr gespielt hast, ich sage dir, Dorian, von derlei Dingen hängt unser Leben ab.“

Was uns anrührt

Was für ein Satz! Natürlich wissen wir alle, dass es nicht immer eine Klaviersonate von Mozart oder eine vergessene Gedichtzeile von Rilke sein müssen, die uns anrühren. Es darf gerne auch der Duft von frisch gebackenem Holzofenbrot sein oder der erste Schluck Weißwein an einem sonnigen Frühlingstag, wenn es für das T-Shirt noch zu kalt und für die Winterjacke schon zu warm ist. Ob von solchen Dingen unser Leben abhängt? Vielleicht nicht im wörtlichen Sinn, aber sind es nicht solche Momente, die das Leben um so vieles lebenswerter machen?

Santé und Frohe Ostern!

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Freitagsfoto: Tea Time

Wer würde da nicht gerne zum Tee eingeladen werden? Strandhütte in Whitstable, Kent.

Wer würde da nicht gerne zum Tee eingeladen werden? Strandhütte in Whitstable, Kent.

Am 21. März war Welttag der Poesie. Zufällig bin ich dieser Tage auf das Gedicht „Tea“ der schottischen Lyrikerin Carol Ann Duffy gestoßen. Duffy wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet und war im Jahr 2009 Poet Laureate des Britischen Königreichs. „Tea“ ist, wie ich finde, ein außergewöhnliches Liebesgedicht, aufgehängt an dem profanen Alltagsthema Tee.

Tea

von Carol Ann Duffy

I like pouring your tea, lifting
the heavy pot, and tipping it up,
so the fragrant liquid streams in your china cup.

Or when you’re away, or at work,
I like to think of your cupped hands as you sip,
as you sip, of the faint half-smile of your lips.

I like the questions – sugar? – milk? –
and the answers I don’t know by heart, yet,
for I see your soul in your eyes, and I forget.

Jasmine, Gunpowder, Assam, Earl Grey, Ceylon,
I love tea’s names. Which tea would you like? I say
but it’s any tea for you, please, any time of day,

as the women harvest the slopes
for the sweetest leaves, on Mount Wu-Yi,
and I am your lover, smitten, straining your tea.

nachzulesen in:
Love Poems
Picador, 2010
ISBN: 978-0330512725
oder in:
Rapture
Picador, 2010
ISBN: 9781509852789

Tea, gelesen von Carol Ann Duffy:

Die Bücher von Carol Ann Duffy gibt’s in jedem guten lokalen Buchladen. Die Tees aus dem Gedicht gibt’s in Tübingen in Hinrichs Teehus in der Froschgasse. Das Foto ist in Whitstable, Kent entstanden, und wird demnächst als Postkarte bei Schöne Postkarten erscheinen.

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Frühling auf der Fensterbank

Hyazinthen sind eine Gattung innerhalb der Spargelgewächse und duften nach Frühling

Hyazinthen sind eine Gattung innerhalb der Spargelgewächse und duften nach Frühling

die Küche
duftet nach Frühling –
draußen liegt Schnee

Die Hyazinthe hat ihren Namen aus der griechischen Mythologie. Der Gott Apollon soll den schönen Jüngling Hyakinthos aus Versehen mit einem Diskus getötet haben. Apollon soll darüber so traurig gewesen sein, dass er die Blutstropfen in Blumen verwandelt hat.

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Freitagsfoto: The Blue Watering Can

The Blue Watering Can

so much depends
upon

a blue
watering can

on the white
snow

beside the green
one

frei nach William Carlos Williams

Arzt und Dichter

Der amerikanische Dichter William Carlos Williams (1883 – 1963) hat sein ganzes Leben als Kinder- und Allgemeinarzt in seiner Geburtsstadt Rutherford in New Jersey an der amerikanischen Ostküste verbracht. Geschrieben hat er meist in aller Herrgottsfrühe vor den Sprechstunden oder am späten Abend; oft hat er sich auch zwischen zwei Patienten schnell ein paar Notizen gemacht.

Apfel und Hirn

Williams gilt heute als einer der Wegbereiter der Moderne und als der erste Dichter, der seine Themen und seine Sprache dem amerikanischen Alltag entnahm. Immer geht es Williams um das genaue Hinschauen, die Betrachtung aller Details eines Gesichtes oder eines Objektes im jeweiligen Moment. Dieses Objekt konnte ein Apfel sein, wie in dem Gedicht „Perfection“, oder ein Hirn ohne Schädeldecke, das er als Student im Sezierkurs gesehen hatte („These Purists“), oder auch eine rote Schubkarre, die er in einem seiner bekanntesten Gedichte „The Red Wheelbarrow“ besungen hat. Zu diesem Gedicht gibt es eine nette Anekdote, die ich vor Jahren in einem Text von Stefana Sabin in der Neuen Zürcher Zeitung (27.3.1999) gelesen habe:

Geschenkt

Wallace Stevens, ein anderer Großmeister der amerikanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts, war mit Williams befreundet und hat diesem in einem Brief im Jahr 1915 von seinen Schwierigkeiten mit den letzten Zeilen eines Gedichts berichtet, an dem er, Stevens, gerade arbeitete. Williams riet Stevens die letzten Zeilen einfach wegzulassen. Stevens folgte dem Rat und schenkte Williams diese Zeilen, aus denen Williams dann einen lyrischen Klassiker formte, den wohl die meisten älteren Amerikaner auswendig können.

The Red Wheelbarrow

so much depends
upon

a red wheel
barrow

glazed with rain
water

beside the white
chickens.

Rowohlt hat 2001 eine zweisprachige Ausgabe der Gedichte von William Carlos Williams als Taschenbuch rausgebracht. Dort findet man auch die Übertrag von „The Red Wheelbarrow“ von Walter Fritzsche:

Die rote Schubkarre

so viel hängt ab
von

einer roten Schub-
karre

glänzend von Regen-
wasser

bei den weißen
Hühnern

Poetisch schön: Paterson

Eine filmische Annäherung an William Carlos Williams bietet übrigens der Film „Paterson“ von Jim Jarmusch aus dem Jahr 2016, der die Geschichte des dichtenden Busfahrers Paterson in der amerikanischen Kleinstadt Paterson erzählt. Es ist wohl kein Zufall, das das berühmteste Langgedicht von Williams auch Paterson heißt. Paterson ist ein leiser, poetischer, stellenweise anrührender Film und damit ein wohltuender Gegensatz zu dem lauten Gebrüll, mit dem uns der Bewohner des Weißen Hauses jeden Tag aufs Neue auf die Nerven geht.

Infos zum Buch:

William Carlos Williams: Gedichte
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2001
ISBN 3-499-22840-8
nur noch antiquarisch erhältlich

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