Schilderwald
Erik Spiekermann, 70, hat als Typograph und Gestalter in seinem Leben viele Designpreise bekommen und noch mehr stilbildende Schriften, Symbole und Leitsysteme geschaffen. Die von ihm entwickelten Schriftfamilien Meta und Officina gelten heute weltweit als Klassiker. Er hat für das ZDF gearbeitet, die Deutsche Bahn, den Düsseldorfer Flughafen und die Stadt London.
Zum Thema Leitsysteme hat Spiekermann mal gesagt, dass diese eine Anleitung für Fußgänger seien, wie man mit einer Stadt umzugehen habe und dabei natürlich auch architektonische Folgen hätten. An Spiekermann musste ich denken, als ich diese Woche auf dem Tübinger Marktplatz stand, Rücken zum Rathaus, und mir dieses überdimensionierte Schilderungetüm ins Auge sprang.
Ich bin ja auch für die Energiewende, und die Stadtwerke Tübingen und die Verwaltung leisten hier sicher sehr gute Arbeit. Aber ist es für die Besucher*innen der Stadt wirklich von Interesse, wie weit es vom Marktplatz zum Windpark Oberkochen ist? Und wer, bitteschön, möchte als Tourist*in die Photovoltaikanlage an einer Sportarena besichtigen? Ja, diese mehrköpfige Schilderhydra hat gravierende architektonische Folgen: sie verschandelt den Blick auf Fachwerkhäuser und Rathaus, je nach Standort. Ich wüsste gerne, was Erik Spiekermann dazu sagen würde.
Professorengarten
Keinen einzigen Hinweis findet man hingegen auf ein sehenswertes landschaftliches Kleinod ganz in der Nähe von Tübingen. Nur fünfeinhalb Kilometer zu Fuß sind es vom Tübinger Marktplatz zum Professorengarten bei Kusterdingen auf den Härten. Ich hatte von diesem besonderen Waldstück auch noch nie etwas gehört, in das uns unser Freund W. diese Woche zum ersten Mal geführt hat. Der Professorengarten wurde 1902 im Forstgebiet Großholz als Arboretum des Lehrstuhls für Forstwirtschaft der Universität Tübingen angelegt.
Neben dem ehemaligen Gärtnerhaus kann man im Professorengarten große Mammutbäume, exotische Nadelgehölze und japanische Zelkoven (Zelkova zerrata) bewundern, vorausgesetzt, man ist mit jemandem unterwegs, der in Baumbestimmung firm ist. Die japanische Zelkove war mir kein Begriff, sie ist bei uns als japanische Ulme bekannt und wird bis zu 30 Meter hoch. Ihr Holz gilt als sehr wertvoll und wird in Japan unter anderem zum Bogenbau eingesetzt. Sie hat eine besonders auffällige und schöne Rinde.
Der Lehrstuhl für Forstwirtschaft, der seit 1818 bestand, wurde übrigens 1920 nach Freiburg verlegt, der interessante Professorengarten geriet dadurch ziemlich in Vergessenheit. Weder auf der Homepage der Stadt Tübingen noch bei der Tübinger Touristeninformation konnte ich online einen Hinweis darauf finden. Einzig im Unimagazin attempto! gab es im Dezember 2013 einen Artikel. Schade eigentlich. Dabei verfügt der Professorengarten mit Sicherheit über mehr grünen Zauber als ein Windpark im 111 Kilometer entfernten Oberkochen.