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Empathie gegen Ego

Jack Ridl, 74, amerikanischer Lyriker, der sich mit den Zuständen im Weißen Haus nicht abfinden will. Screenshot: Video by Fetzer Institute.

Jack Ridl, 74, amerikanischer Lyriker, der sich mit den Zuständen im Weißen Haus nicht abfinden will. Screenshot: Video by Fetzer Institute.

„Wenn die Sache irr wird, werden die Irren zu Profis“ hat der amerikanische Schriftsteller und Journalist Hunter S. Thompson (1937-2005) mal geschrieben. Thompson, der zu drastischen Worten ebenso wie zu exzentrischen Handlungen neigte, konnte nicht ahnen, dass die Sache mal so irr werden könnte. Ein irrlichternder, an Schlafstörungen leidender Präsident im Weißen Haus versetzt die Welt regelmäßig mit nächtlichen Twitter-Botschaften in einen Zustand höchster Erregung und Besorgnis. Gestern Nacht gab’s wieder so eine Botschaft, die es heute auf die Titelseite der Süddeutschen Zeitung geschafft hat: Trump kündigte in einem Tweet einen Raketenangriff auf Syrien an. Die syrische Regierung ist, wie wir wissen, mit Russland verbündet. Was für ein Irrsinn!

Empathie gegen Ego

“I have never thought of my life as divided between poetry and politics”, sagte Pablo Neruda im September 1969, als er zum Präsidentschaftskandidaten der chilenischen Sozialisten gewählt wurde. Klingt gut, aber kann Poesie etwas ausrichten gegen diesen Mann im Weißen Haus, der sich selbst für den Allergrößten hält und dies die Welt fast stündlich wissen lässt?

Christian Zaschke, New-York-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, ist der Frage, ob Lyrik etwas bewirkt, am Lake Michigan nachgegangen und hat ein äußerst lesenswertes Portrait des amerikanischen Dichters Jack Ridl geschrieben. Am Ostersamstag hat es die SZ auf der Seite Drei gebracht. Man kann dem immer lesenswerten Christian Zaschke und der SZ nicht genug danken dafür: Lyrik auf der dritten Seite!

Jack Ridl, den ich hier im Blog schon mehrfach empfohlen habe, setzt dem Lautsprecher im Weißen Haus seit dessen Wahl, an jedem Donnerstag seine klugen Gedanken und vor allem seine einfühlsamen, feinen Gedichte entgegen. Empathie gegen Ego, Leise gegen Laut. Der Dichter und emeritierte Lyrik-Professor schreibt am 17.11.2016, wenige Tage nach Trumps Wahlsieg:

“So each Thursday for the next four years, I’m going to post a poem of mine […] on my blog, as a kind of protest against the anti-soul perched atop the once free world.” (Quelle: Ridl.com)

Mittlerweile hat dieser Blog mehrere tausend Abonnenten, die sich jeden Donnerstag an seinen klugen, witzigen, einfühlsamen und auch tröstlichen Gedanken und Gedichten erfreuen. Durch die Reportage in der SZ sind mehr als 200 neue Leser*innen aus dem deutschsprachigen Raum dazugekommen, wie Ridl vor gut einer Woche auf seinem Blog schrieb. Dank Christian Zaschke, der Ridl mit diesen Worten zitiert:

„Plötzlich hat mein Schreiben einen konkreten Zweck. Plötzlich ist meine Dichtung Widerstand. Mit einem Mal ist sie im ganz unmittelbaren Sinne nützlich, auf eine neue und, vor allem, seelenvolle Weise.“ (Quelle: SZ)

Die ganze Reportage mit dem Titel „The Number of the Beast“ kann man hier online nachlesen. Es lohnt sich! Die Texte und Gedichte von Jack Ridl, die sich gegen die Trump-Administration richten findet man unter diesem Link.

practicing to walk LIKE A HERON

Lohnend ist im übrigen auch die Investition in Jacks Ridls Gedichtbände. Diese sind zwar – noch – nicht als zweisprachige Ausgaben in Deutschland erhältlich, Jack Ridls Englisch ist aber sehr gut verständlich und lesbar, und dann gibt es ja auch noch gute Lexika.

Der erste Band, den ich gekauft habe, hat den schönen Titel practicing to walk LIKE A HERON, 2013 bei Wayne State University Press erschienen. Als Einstieg, noch vor dem ersten Teil, steht ein Gedicht, das für mich Jack Ridls menschenfreundliche und achtsame Haltung – und natürlich seine Sprachkunst – wunderbar zum Ausdruck bringt. Achtsam ist Jack Ridl zum Beispiel in Bezug auf die vielen Menschen, von denen wir nichts wissen und die nicht täglich im Fokus von Fox News stehen oder bei Twitter trenden.

In diesem Gedicht schafft er es in 8 Strophen, die unterschiedlichsten Menschen mit wenigen Strichen so zu charakterisieren, dass man das Gefühl hat, man würde in derselben Kleinstadt leben wie diese Leute.

“Write to Your Unknown Friends“ (Jeff Gundy)

This is for Bob. He’s a good guy, likes
to fly fish, records each catch, where
he caught it, the weather, type of fly,
time of day. He tosses everyting back.

This is for Tanya. She’s a single mom
with three kids. She works behind
the counter in the post office, knows
everyone in town. Years ago she
threw away the “Return to Sender.
Address Unknown” stamp.

This is for Ted. Ted sells cars.
He wishes cars with fins would
come back. He knows gas mileage
matters. But “You don’t see
mileage when a car drives by.”

This is for Kenny. He never made it
past the sixth grade. In the winter,
he plows driveways, shovels walks.
The rest of the year he paints houses,
mows lawn, hauls junk. Each morning
he buys a paper, reads it over a cup
of coffee, black, and does the crossword.

This is for Ann. In her backyard, she
has a perennial garden, best in town,
more than a hundred different plants.
She has four greyhounds and a parakeet.
Where she goes, she wears a hat.

This is for Martha. She talks to
sparrows. She tries to tell them
something they’ve never heard.

This is for Sammy. He’s always late.
He loves to play blackjack. He’s
no good at counting cards. He wants
to own a motorcycle and ride it
to places he’s never been – Toledo,
Jacksonville, Los Angeles, Maine.

Today there’s no one around.
Too bad. It’s a good day
to call some friends, see if
they’s like to come over, shoot
the breeze, have some pizza, maybe
watch an old movie on TV.

Jack Ridl
(used here with permisson of the author)

„Schreib’ deinen Freunden, die du nicht kennst“ (Jeff Gundy)

Das ist für Bob. Er ist ein netter Kerl. Geht gerne
Fliegenfischen, notiert jeden Fang, wo
er ihn gefangen hat, Wetter, welche Fliege,
Tageszeit. Er wirft alles zurück.

Das ist für Tanya. Alleinerziehende Mutter
mit drei Kindern. Sie arbeitet hinterm
Schalter bei der Post, kennt
jeden in der Stadt. Vor Jahren
hat sie den Stempel „Zurück an Absender!
Adresse unbekannt“ weggeworfen.

Das ist für Ted. Ted verkauft Autos.
Er wünscht sich Autos mit Heckflossen
zurück. Er weiß, dass Verbrauch
wichtig ist. Aber: „Du siehst den
Verbrauch nicht, wenn ein Auto vorbeifährt.“

Das ist für Kenny. Er hat’s nie
über die 6. Klasse raus geschafft. Im Winter
räumt er die Einfahrten, schippt die Fußwege.
Den Rest des Jahres streicht er Häuser,
mäht Rasen, fährt Gerümpel weg. Jeden Morgen
kauft er die Zeitung, liest sie bei einer Tasse
Kaffee, schwarz, und löst das Kreuzworträtsel.

Das ist für Ann. Hinter ihrem Haus hat
sie einen Staudengarten, den schönsten in der Stadt,
mehr als hundert verschiedene Pflanzen.
Sie hat vier Greyhounds und einen Sittich.
Egal, wo sie hingeht, sie trägt immer Hut.

Das ist für Martha. Sie redet
mit Spatzen. Sie versucht, ihnen
Dinge zu erzählen, die sie noch nie gehört haben.

Das ist für Sammy. Er kommt immer zu spät.
Spielt gerne Black Jack. Er kann
keine Karten zählen. Er möchte
ein Motorrad haben und damit an
Orte fahren, wo er noch nie war – Toledo,
Jacksonville, Los Angeles, Maine.

Heute ist keiner da.
Zu schade. Ist ein guter Tag,
um Freunde anzurufen, fragen, ob sie
vorbeikommen wollen, bisschen
quatschen, Pizza essen, vielleicht
einen alten Film im Fernsehen anschauen.

Kleine Anmerkung: Ich bin weder Lyriker noch Lyrikübersetzer aber immer offen für Verbesserungsvorschläge. Ich übersetze, mit kluger Unterstützung meiner Frau, weil es mir Freunde macht und weil damit auch eine intensivere Beschäftigung mit einem Gedicht einhergeht.

Infos zum Buch

Jack Ridl: practicing to walk LIKE A HERON
Wayne State University Press, Detroit, 2013
ISBN: 9780814334539

Das Buch, wie auch die anderen Bücher von Jack Ridl kann man in jedem guten Buchladen vor Ort kaufen oder bestellen.

#supportyourlocalbookstore

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