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Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol

Osteuropäische Zwangsarbeiter lebten nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Entwurzelte ohne Heimat in der jungen Bundesrepublik

Osteuropäische Zwangsarbeiter lebten als Entwurzelte ohne Heimat in der jungen Bundesrepublik

„Dass ich den Namen meiner Mutter in die Suchmaschine des russischen Internets eintippte, war nicht viel mehr als eine Spielerei.“

Mit diesem Satz beginnt das autobiographische Buch „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin, die am 8. Dezember 1945 als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter im fränkischen Fürth geboren wurde. Und mit diesem Satz beginnt eines der spannendsten und bewegendsten Bücher, das ich in diesem Jahr gelesen habe.

Als Zwangsarbeiter nach Nazi-Deutschland verschleppt

Auf rund 360 Seiten erzählt die Autorin die erschütternde Lebens- und Familiengeschichte ihrer Mutter, die 1944 von den Nazis als „Ostarbeiterin“ von Mariupol nach Deutschland verschleppt wurde. Gemeinsam mit ihrem Mann musste sie in Leipzig in einem deutschen Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns Zwangsarbeit leisten.

„Im Zweiten Weltkrieg hatte man sie als Dreiundzwanzigjährige zusammen mit meinem Vater aus Mariupol zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert, ich wusste nur, dass beide in einem Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns in Leipzig eingesetzt waren. Elf Jahre nach Kriegsende hatte meine Mutter sich in einer westdeutschen Kleinstadt das Leben genommen, unweit einer Siedlung für Heimatlose Ausländer, wie man die ehemaligen Zwangsarbeiter damals nannte. Außer meiner Schwester und mir gab es wahrscheinlich auf der Welt keinen einzigen Menschen mehr, der sie noch gekannt hatte.“

Natascha Wodin war selbst schon Ende 60 und hatte die Suche nach der Geschichte ihrer Mutter schon fast aufgegeben. Zu schwierig erschien es ihr – bis zu eben diesem Tag, als sie auf einer ukrainischen Internetseite namens „Azov’s Greeks“ landet und auf erste Spuren stößt. Die Seite entpuppt sich für die Autorin als Glücksfund, denn sie lernt dort einen freundlichen, zugewandten Mann namens Konstantin in Mariupol kennen. Unermüdlich und kreativ hilft er ihr bei der Recherche nach den verblassenden Stücken dieses Familienpuzzles.

Displaced Persons: heimatlos, entwurzelt, einsam

Als Leser folgen wir dieser Spurensuche mit angehaltenem Atem. Parallel dazu reflektiert die Ich-Erzählerin ihre Hoffnungen wie emotionalen Erschütterungen. Den Plan, über das Leben der Mutter zu schreiben, hatte Natascha Wodin schon lange. Aber ihr fehlten Informationen über sie. Es gab nur sehr wenig Material über die ehemaligen Zwangsarbeiter, von denen viele in Nazi-Deutschland bei der Arbeit zu Tode geschunden wurden.

„Seit vielen Jahren schon suchte ich nach irgendeinem Buch von einem ehemaligen Zwangsarbeiter, nach der einer literarischen Stimme, an der ich mich hätte orientieren können, vergeblich. Die Überlebenden der Konzentrationslager hatten Weltliteratur hervorgebracht, Bücher über den Holocaust füllten Bibliotheken, aber die nicht-jüdischen Zwangsarbeiter, die die Vernichtung durch Arbeit überlebt hatten, schwiegen.“

Dabei wurden Millionen Zwangsarbeiter zum überwiegenden Teil aus Osteuropa deportiert. Sie lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen in rund 30.000 Lagern, die es im Deutschen Reich allein für Zwangsarbeiter gab. Viele von ihnen blieben nach Kriegsende in der Bundesrepublik. Sie galten als „Displaced Persons“ (Heimatlose), so auch die Eltern der kleinen Natascha, die wenige Monate nach dem 8. Mai 1945 auf die Welt kam.

„Die längste Zeit meines Lebens hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangsarbeitern bin. Niemand hatte es mir gesagt, nicht meine Eltern, nicht die deutsche Umwelt, in deren Erinnerungskultur das Massenphänomen der Zwangsarbeit nicht vorkam. (…) Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war.“

Natascha Wodin verleiht mit diesem schonungslos ehrlichen Buch ihrer Mutter Jewgenia Jakowlewa Iwaschtschenko posthum eine Würde, die diese Frau bis zu ihrem Freitod wahrscheinlich nie empfunden hat.

Entwurzelte, die versuchen zu überleben

Indem die Erzählerin sich immer tiefer in diese Familiengeschichte hineingräbt, breitet sie vor ihren Lesern die ganze furchtbare Geschichte Europas im 20. Jahrhundert aus. Als die Mutter 1920 in Mariupol in eine wohlhabende Adelsfamilie hineingeboren wird, liegt die russische Oktoberrevolution gerade mal drei Jahre zurück. Der Adel wird brutal verfolgt, hingerichtet, vertrieben. Es beginnt die Zeit des Bürgerkriegs, des Terrors, der Säuberungen und später des tödlichen Hungers. Alles unter Stalin, der seit 1922 Generalsekretär der KP und ab 1927 Alleinherrscher der Partei war.

Natascha Wodin: Sie kam aus MariupolDie einst angesehene Familie der Mutter ist der kommunistischen Willkürherrschaft des Regimes ausgeliefert. Manche wurden in die Gulags verbannt,  andere haben mit Stalins System kooperiert. Und mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion und der Besatzung der Ukraine durch die Nazis beginnt ein neues, furchtbares Kapitel dieser Familiengeschichte.

1944 werden Wodins Eltern als Zwangsarbeiter nach Leipzig verschleppt. Sie werden die Ukraine und das einstmals schöne Mariupol nie wiedersehen. Wären sie nach Kriegsende in die Sowjetunion zurückgekehrt, wären sie vom Stalin-Regime mit großer Wahrscheinlichkeit als Verräter und Kollaborateure hingerichtet worden.

Zu viele Erniedrigungen

Schließlich, mit 36 Jahren, erträgt die Mutter dieses entwurzelte Schicksal und die Erniedrigungen, die auch im Nachkriegsdeutschland kein Ende nehmen, nicht mehr. Sie ertränkt sich in dem fränkischen Flüsschen Regnitz. Ein Ereignis, das die kleine Natascha stets verhindern wollte.

Diese Familiengeschichte, die Natascha Wodin in einer klaren Sprache aus vielen Einzelschicksalen gekonnt komponiert, rücken die Abgründe des 20. Jahrhunderts sehr nahe an den Leser ran. Wir erleben, wie brutal die große Geschichte in die Lebensgeschichten einzelner Menschen eingreift. Wir lesen über Familienmitglieder in den Gulags in Karelien und leiden mit dem kleinen Mädchen in den Barackensiedlungen für ehemalige Zwangsarbeiter in der jungen Bundesrepublik.

Dieses wichtige Buch einer schmerzhaften Spurensuche ist ergreifend und lässt einen nicht los. Hilfreich, das sei noch angemerkt, ist angesichts des großen Personenkreises ein Stammbaum der Autorin am Ende des Buches.

NK | CK

Buchinformation

Natascha Wodin
Sie kam aus Mariupol
Rowohlt Taschenbuch, 2018
ISBN 978-3-499-29065-7

Von Dagmar Manzel gibt es eine schöne Hörbuchfassung, z. B. bei Spotify.

Im Gespräch

Tanja Runow hat für den Deutschlandfunk ein hörenswertes, längeres Gespräch mit Natascha Wodin geführt. Die Autorin spricht darin über ihre Eltern, ihre Kindheit, über ihr Schreiben einiges mehr. Kann man hier nachhören.

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Freitagsfoto: Banlieue im Winter

Ja, das beschauliche Hölderlin-Tübingen kann auch Banlieue ganz gut

Ja, das beschauliche Hölderlin-Tübingen kann auch Banlieue, ziemlich gut sogar

Der Winter

Wenn ungesehn und nun vorüber sind die Bilder
Der Jahreszeit, so kommt des Winters Dauer,
Das Feld ist leer, die Ansicht scheinet milder,
Und Stürme wehn umher und Regenschauer.

Als wie ein Ruhetag, so ist des Jahres Ende,
Wie einer Frage Ton, daß dieser sich vollende,
Alsdann erscheint des Frühlings neues Werden,
So glänzet die Natur mit ihrer Pracht auf Erden.

d. 24 April 1849

Mit Untertänigkeit
Scardanelli

Friedrich Hölderlin

PS: Das Foto da oben wäre auch ein Motiv für die Tübinger Künstlerin Ava Smitmans, eine Spezialistin für triste, bedrohte, auch mal schmuddelige Orte und Ecken, denen sie in ihren Werken künstlerisch ein Denkmal setzt. „Orte festhalten, bevor sie verschwinden“ steht auf ihrer Homepage.

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Cela vous rajeunit !

Abendstimmung in Trouville-sur-Mer

Abendstimmung in Trouville-sur-Mer

Zu den unangenehmen Gefühlen gehört die Reue nach einer ohnehin schon nicht einfach getroffenen Entscheidung. Nachdem wir wochenlang nicht sicher waren, wonach es uns eigentlich war und deshalb das Reiseziel bis zehn Tage vor Urlaubsbeginn nicht feststand, buchten wir dann, als wir endlich entschieden waren, recht zügig. Ich hatte nach kurzer Suche auf dem Portal für Ferienwohnungen vermeintlich etwas Tolles entdeckt: eine Wohnung direkt am Strand mit super Blick aufs Meer. War das nicht etwas, was ich mir schon immer gewünscht hatte?!

Cela vous rajeunit !

Erst als wir anderen unseren gebuchten Fund zeigten, fiel auf, dass auf den Fotos kein Bett zu sehen war. „Ich seh‘ nur ein kleines Sofa…“ meinte unsere Tochter. „Ach, das macht nichts“, warf meine Mutter ein, „cela vous rajeunit“! Was ungefähr bedeutet: das macht euch wieder jünger!

Nach ein paar Mal Hin und Her mit dem Vermieter erfuhren wir, dass es in der Wohnung tatsächlich nur ein Schlafsofa gab, dafür weder Spül- noch Waschmaschine. Handtücher, Bettwäsche und Bettdecke sollten wir bitte auch mitbringen. „Wir fahren doch allein, Schatz, ohne Hund und Kinder … haben also viel Platz… cela nous rajeunit?“ versuchte ich gute Stimmung zu machen.

Vollbepackt

Zu zweit, aber das Auto dennoch vollbepackt, die Gymnastikmatte hatte wegen der drohenden Rückenschmerzen auch noch einen Platz finden müssen, fuhren wir in etwas verhaltener Freude los. Kaum waren wir auf der Autobahn horchten wir auf. „Hörst du dieses Klacken auch? Jetzt, da wieder!“ Irgendetwas war definitiv nicht in Ordnung. Rechts hinten am Auto vermuteten wir die Quelle des Geräuschs. Hoffentlich war das kein Leck am Tank oder eine Unwucht in der Hinterachse. Die Stimmung sank Kilometer für Kilometer, bis wir endlich auf einer Raststätte an der Autobahn feststellten: Das Theraband, das wir um die Gymnastikmatte gezogen hatten, hing gut vierzig Zentimeter aus der Autotür und klackte so unregelmäßig an den Tank. Erleichtert (aber leicht gealtert) fuhren wir weiter.

Schon etwas müde, aber im ganzen ohne größere Probleme der Orientierung ließen wir am Nachmittag Paris hinter uns. Wir brauchen nur wieder etwas Übung, du wirst sehen: cela nous rajeunit …

Blick beim Spülen

Blick beim Spülen

Nun, das kleine Schlafsofa erwies sich als gute Schlafstätte, der Vermieter hatte sogar noch eine dünne Matratze zum Drüberlegen gekauft. Mit der mitgebrachten Bettwäsche fühlten wir uns wohl wie zu Hause. Alles war sauber und geschmackvoll. Das Spülen hätte bei dem traumhaften Blick, den wir vom Küchenfenster hatten, stundenlang dauern können. Und wie Inge und Walter Jens führten wir beim Spülen hochgeistige Gespräche – also, wir versuchten es …

Abendliche Verjüngungskur

Abends schalteten wir das französische Fernsehen an und wurden von einer ganz ungewohnten Werbung überrascht: statt diversen Salben gegen Rückenschmerzen, nächtlichem Harndrang und der Frage, was wir eigentlich für unser Gedächtnis tun, wurden uns Parfums, Dessous und prickelnder Champagner vor den Abendnachrichten serviert! Cela vous rajeunit !!!

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Noch 75 Tage bis Neujahr. Schon Kalender besorgt?

Die momente-Kalender 2023: Es geht ums Kochen, um Literatur, ums Miteinander

Die momente-Kalender 2023: Es geht ums Kochen, um Literatur, ums Miteinander

Dieses an schrecklichen Nachrichten wahrlich nicht arme Jahr geht in den Schlussspurt. Heute sind es nur noch 75 Tage bis Neujahr, und spätestes dann wird es Zeit, die neuen Kalender zu besorgen und aufzuhängen, also zumindest für Menschen wie wir, die noch auf Kalender aus Papier stehen. Wir haben uns zwei Kalender vorab angeschaut.

1. Der Literaturkalender 2023

„Momente des Miteinander“

Das ist das Thema des „Literaturkalender 2023“ der edition momente. Und dieses Thema passt ja gut in eine Zeit, in der einem die Suchmaschine 330.000 Treffer auswirft, wenn man „Spaltung der Gesellschaft“ googelt. „Wir könnten viel, wenn wir zusammen stünden“: das ist von Friedrich Schiller. Und gilt auch noch für 2023.

Doch zurück zum Literaturkalender, in dem dieses Miteinander viel weiter gefasst ist. Da treffen wir das schöne, das harmonische Miteinander ebenso wie das schwierige und das komplizierte. Es geht um Liebe, Freundschaft, Familie, um Melancholie, Vertrauen, Wut und vieles mehr. Wir treffen viele – bekannte und weniger bekannte – Autorinnen und Autoren mit Auszügen ihres Schaffens und schönen Fotos.

E. M. Forster und Benjamin Britten

Zum 1. Januar 2023 ziert E. M. Forster das Kalenderblatt. „Wiedersehen in Howard’s End“ hat Forster geschrieben, „Zimmer mit Aussicht“ und einiges mehr. Die Verfilmung von „Howards End“ mit Emma Thomson und Anthony Hopkins ist unbedingt sehenswert. Aber das wissen Sie schon. Forster hat aber auch gemeinsam mit Eric Crozier das Libretto zu Benjamin Brittens Oper „Billy Budd“ geschrieben. Das Miteinander zwischen Forster und Britten in Aldeburgh an der englischen Ostküste soll nicht immer einfach gewesen sein.

„The Scallop“, monumentale Skulptur am Strand von Aldeburgh zu Ehren Benjamin Brittens

„The Scallop“, Skulptur von Maggi Hambling am Strand von Aldeburgh zu Ehren Benjamin Brittens

Der englische Komponist Britten hat in Aldeburgh (Suffolk) das Aldeburgh Festival ins Leben gerufen, zusammen mit dem Sänger Peter Pears und dem Librettisten Eric Crozier. Forster und den Geräuschen des Meeres zu Ehren steht die Skulptur „The Scallop“ am Strand von Aldeburgh.

Anaïs Nin und Henry Miller

Am 21. Februar hat Anaïs Nin Geburtstag, die 1903 geboren wurde und ein leidenschaftliches „Miteinander“ mit Henry Miller hatte. Nin war eine große Tagebuchschreiberin und eine Meisterin der erotischen Erzählung, letztere findet man in dem Band „Das Delta der Venus“.

Ossip und Nadeschda Mandelstam

Ossip und Nadeschda Mandelstam im Literaturkalender 2023 von momente

Ossip und Nadeschda Mandelstam im Literaturkalender 2023 von momente

Das letzte Kalenderblatt des Jahres 2023 dieses schön gestalteten und jede Woche aufs Neue anregenden Kalenders ist dem großen russichen Dichter Ossip Mandelstam und seiner Frau, der Autorin Nadeschda Mandelstam, gewidmet. Ossip Mandelstam wurde 1891 in Warschau geboren und starb halb verhungert und schwer krank am 27. Dezember 1938 in der Stalinschen Verbannung. An seine Frau schrieb er:

Komm schnell zurück.
Das Atmen fällt mir schwer
ohne Dich. Der Frühling ist mir
keine Freude. Komm schnell
zurück … Beeil Dich.

Ossip Mandelstam an Nadeschda Mandelstam, Woronesch, 4. Mai 1937.

Ossip Mandelstam wurde übrigens unter anderem von dem Tübinger Dr. Kay Borowsky übersetzt. So viel Lokalpatriotismus darf sein.

Information

Der Literaturkalender 2023:
Momente des Miteinander
Text und Bilder aus der Weltliteratur
Herausgeberin: Elisabeth Raabe
Gestaltung: Max Bartholl
60 Blätter, 53 Fotos, farbig
24 x 32,5 cm (BxH)
ISBN 978-3-0360-2023-5
edition momente
Kalenderpreis des Deutschen Buchhandels: Bester Longseller

2. Der literarische Küchenkalender 2023

Streuselkuchen in Edgar Selges Kindheit: ganz große Sache

Streuselkuchen in Edgar Selges Kindheit: ganz große Sache

Seit vielen Jahren sind Rosmarin-Nudeln in unserem Haus ein Familienklassiker. Das Rezept ist denkbar einfach. Man braucht gute Penne, Parmesan, Olivenöl (oder Butter) und ein paar Zweige frischen Rosmarin, und schon hat man ein einfaches, ehrliches Essen, zu dem ein kräftiger Rosé oder ein nicht zu schwerer Rotwein wunderbar passen. Als Musik zum Essen sei Paolo Conte empfohlen.

Literatur geht durch den Magen

Das Nudelrezept haben wir vor Jahren im literarischen Küchenkalender von Sybil Gräfin Schönfeldt entdeckt. Dieser Kalender ist bei uns auch fast schon ein Klassiker. Er passt in jede Küche und erfreut Koch und Köchin jede Woche mit einem literarischen Zitat zum Thema Kochen und Essen, dazu gibt es immer das Rezept. Auch „Der literarische Küchenkalender 2023“, den die 95jährige Gräfin Schönfeldt wieder herausgibt, folgt dieser Idee: Lesen, Kochen, Essen. Dazu gibt es Fotos, Illustrationen, Bilder und natürlich ein Wochenkalendarium.

Streuselkuchen im Februar

In der Woche vom 6. bis 12. Februar treffen wir zum Beispiel auf den Autor und Schauspieler Edgar Selge, dessen wunderbares Buch „Hast du uns endlich gefunden“ wir vor einer Weile hier im Blog besprochen haben.

„Dieser Streuselkuchen! Den die Schwiegermutter immer besser gebacken hat als sie. Immer war der Boden vom Streuselkuchen bei der Schwiegermutter dünner, die Streusel dicker, süßer, buttriger, sind leichter auf der Zunge zergangen.“

Schreibt Selge in seinem autobiographisch gefärbten Roman. Und man hätte gerne diesen Streuselkuchen von der Schwiegermutter mal probiert. Bisher gilt nämlich: den besten Streuselkuchen der Welt hat Oma Liesel aus Hechingen gebacken, aber das ist eine andere Geschichte.

Scones im November

Die Britischen Inseln sind ohne Scones schlicht nicht vorstellbar

Die Britischen Inseln sind ohne Scones schlicht nicht vorstellbar

Mindestens so wichtig wie für Edgar Selge der Streuselkuchen sind den Iren, Schotten und Engländern ihre Scones (zur Aussprache bitte hier lang). Scones sind der Klassiker zur Tea Time und werden üblicherweise mit Clotted Cream (als Ersatz geht auch Schmand) und Erdbeermarmelade gegessen. Als Tee würden wir zu einem guten Earl Grey raten und am Ende der Tea Time passt ein Single Malt. In dem düsteren Familiendrama „Tod und Nachtigallen“ des Iren Eugenes McCabe, den der Küchenkalender in der Woche vom 30. Oktober 2023 vorstellt, werden die Scones zu Porridge gegessen. Das Scones-Rezept im Küchenkalender stammt aus Irland aus dem Jahr 1883. Das war das Jahr des Hungers, der Kartoffelfäule und der Aufstände der Landarbeiter.

Das Schöne an diesem Kalender ist, dass man entweder auf Texte stößt, die man schon gelesen hat (das ist wie alte Bekannte treffen) oder aber zu neuen literarischen Entdeckungen angeregt wird.

Information

Der literarische Küchenkalender 2023:
Mit Texten, Rezepten, Bildern
Herausgeberin: Sybil Gräfin Schönfeldt
Gestaltung: Max Bartholl
60 Blätter, 76 Abbildungen, farbig
19,2 x 31,5 cm (BxH)
ISBN 978-3-0360-4023-3
edition momente
ausgezeichnet mit dem Kalenderpreis des Deutschen Buchhandels

Lesen und essen Sie gut!

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Reichspogromnacht 1938

Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass, eines der brutalsten Arbeitslager mit 70 Außenlagern

Konzentrationslager Natzweiler-Struthof im Elsass, eines der brutalsten Arbeitslager mit 70 Außenlagern

Der «Holocaust»,
vor dem mir graust,
ein Wort wie fühllos durchgepaust
aus einem Fremdwortduden

Peter Rühmkorf

Das englische Wort Holocaust kommt ursprünglich aus dem Altgriechischen ὁλόκαυστος / holókaustos und bedeutet auf Deutsch „vollständig verbrannt“. Bezeichnet wird damit das Unfassbare: die Ermordung von 5,6 bis 6,3 Millionen europäischen Juden durch die Nationalsozialisten.

Für den Dichter Peter Rühmkorf (1929 – 2008) ist das Wort Holocaust, das uns oft nur allzu leicht über die Lippen geht, offensichtlich nicht in der Lage, das unsagbare Grauen auch nur annähernd zum Ausdruck zu bringen. Es bleibt für ihn eine Vokabel aus einem Fremdwortduden – oder eben heute aus Wikipedia.

Der in Reutlingen lebende Dichter Bernd Storz, lässt das Thema Shoa in seinem Gedicht „Buttenhausen“ konkreter werden. Buttenhausen ist ein kleiner Ort auf der Schwäbischen Alb, und auch dort haben die Nazis gewütet.

Buttenhausen

Die bemoosten Grabsteine. An der Auffahrt
stand die Synagoge.

Judenkinder, Christenkinder
Himmel und Hölle
und an Ostern
Eierrollen.

An der Lauter das Haus
flatternde Wäsche
dunkelhäutige Kinder.

Bernd Storz

Buttenhausen ist heute ein Ortsteil von Münsingen. Es gab dort seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde, die mit der Ansiedelung von 25 jüdischen Familien durch den Freiherrn Philipp Friedrich von Liebenstein begann. Im 19. Jahrhundert war Buttenhausen eine der wenigen jüdischen Landgemeinden in Württemberg, in denen mehr Juden als Christen lebten.

„Die aufblühende jüdische Gemeinde brachte technische Neuerungen ins Dorf und sorgte für wachsenden Wohlstand. Bemerkenswertes Zeugnis davon ist die Bernheimer’sche Realschule aus dem Jahr 1903. Kommerzienrat Lehmann Bernheimer (1841 bis 1918) erbaute sie zum Andenken an seine Familie.“ (Quelle: Gedenkstätten in Baden-Württemberg)

Während der Naziherrschaft emigrierte ungefähr die Hälfte der jüdischen Bevölkerung. Die 1933 noch in Buttenhausen verbliebenen 89 jüdischen Bürgerinnen und Bürger überlebten die Judenvernichtung durch die Nazis allesamt nicht. Die Bernheimer’sche Realschule ist heute ein kleines Museum und kann besucht werden (Informationen).

Bernd Storz, der auch Romane, Drehbücher und Theaterstücke schreibt, hat auch der Kleinstadt Hechingen am Fuße des Hohenzollern ein Gedicht gewidmet. In diesem Gedicht wird die Vertreibung und Vernichtung der Juden am Beispiel des Leon Schmalzbach so lakonisch wie erschreckend zum Ausdruck gebracht. Dazu zitiert Storz „aus der Behördlichen Anordnung zu der Deportation der letzten jüdischen Bücher aus Hechingen 1945.“

Hechinger Notiz

oder Was Leon Schmalzbach nach Riga mitnehmen durfte

Wasserdichter Waschbeutel.
Kamm Bürste Staubkamm.
Kopfwaschpulver.
Ohrenschützer.
Frostsalbe.
Läusesalbe.
Insektenpulver.
Sicherheitsnadeln.
Aluminiumteller.
Sockenhalter.
Hartwurst.
Trockengemüse.
Becker mit Henkel.
Haarschneidemaschine.
Rasierzeug mit Seife.
Ersatzklingen.

Transportnummer: 715.

Im Anhang seines Gedichtbands „Sommerspräche“ (2021, KrönerEditionKlöpfer) erläutert Bernd Storz, wer Leon Schmalzbach war. Schmalzbach, geboren 1882 in Jaroslaw im südlichen Polen, wirkte in Hechingen als Lehrer, Musiker und Rabbinatsverweser. Schmalzbach „gehörte zu den elf letzten Juden, die 1941 aus Hechingen deportiert wurden. Er starb 1942 im KZ Jungfernhof bei Riga/Lettland an Hunger, wie man auf der Homepage der Synagoge Hechingen nachlesen kann.

Storz hat den Hechinger Juden auch ein Theaterstück gewidmet: Sabbat. Die deutschen Juden in H., das 1988 in der Alten Synagoge in Hechingen uraufgeführt wurde. Auch die Hechinger Synagoge wurde in der Reichpogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 geplündert und zerstört. Niedergebrannt wurde sie wahrscheinlich deshalb nicht, weil die Nachbarhäuser sonst auch gefährdet gewesen wären. Von den 106 jüdischen Mitbürger:innen, die 1933 in Hechingen lebten, kehrte niemand zurück. Die Renovierung der Synagoge in den 1980er Jahren stieß übrigens in Hechingen mitnichten auf breite Zustimmung, wie man hier nachlesen kann. Die Geschichte der Hechinger Juden und der Synagoge kann man hier in in einem Artikel (pdf) nachlesen oder runterladen.

1938 – 2022

Vor 84 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der Reichspogromnacht, fanden in Deutschland die Novemberpogrome der Nazis ihren Höhepunkt. Jüdische Geschäfte, Einrichtungen, Wohnungen, Schulen und Synagogen wurden geplündert und zerstört. In Deutschland und Österreich wurden rund 1400 Synagogen angezündet und etwa 7500 Wohnungen und Geschäfte jüdischer Bürgerinnen und Bürger verwüstet.

Der Autor und Journalist Dr. Nils Minkmar schreibt in seinem exzellenten Text „Wenn wir hassen“ in der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe, 9. 11. 2022, aktuell hinter der Bezahlschranke) darüber, was uns diese Reichspogromnacht lehrt und was diesen 9. November so „furchtbar aktuell macht“. Er mahnt mehr Geschichtsbewusstsein an (schon in den Schulen!) und beschreibt klar, wie man sich unter den Nazis allmählich an Hass und Gewalt gewöhnte: „ – und ein wesentlicher Teil dieser Gewöhnung war die kulturelle Ausgrenzung.“ Und leider, so Minkmar, „ist die internationale und nationale Lage von einer Wiederkehr solcher Gedanken geprägt.“ Man kann diese Diagnose angesichts des Erstarkens rechter Kräfte in Europa gar nicht genug unterstreichen.

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Jüdischer Friedhof in Baisingen (Landkreis Tübingen), wo die Synagoge am 10. 11. 1938 zerstört wurde.

Jüdischer Friedhof in Baisingen, Landkreis Tübingen, wo die Synagoge am 10. 11. 1938 zerstört wurde.

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Herbstsonne

Stillleben im Stall mit alter Schubkarre, die es schon in der Antike gegeben haben soll

Stillleben im Stall mit alter Schubkarre, die es schon in der Antike gegeben haben soll

Und doch
scheint über allem
die Herbstsonne

Der Herbst galt und gilt vielen Haiku-Dichterinnen und -Dichtern als die schönste Jahreszeit. Schönheit und Vergänglichkeit werden in zahllosen Haiku thematisiert. Aber, aller Vergänglichkeit zum Trotz gibt es schon im Herbst auch erste Zeichen von Neuanfang. An unserem alten Birnbaum zum Beispiel hängt im Moment kein Blatt mehr, aber an den Zweigen haben sich schon neue Knospen gebildet, die geduldig auf das Frühjahr warten.

Vincent van Gogh, der fürwahr kein einfaches Leben hatte und uns dennoch so viel Schönheit hinterlassen hat, soll einmal gesagt haben: „Und trotzdem fällt auf alles noch eine Menge Licht.“

Haltet Ausschau nach dem Licht!

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Freitagsfoto: Kastanien

Rosskastanien gehören zu den Seifenbaumgewächsen, deren Früchte man auch zum Waschen nutzen kann.

Haiku zum Herbst

„Dann fallen urplötzlich die ersten Blätter und die Feuchte des Herbstes legt ein Gespinst über das Land.“ Schreibt der Haiku-Dichter Georges Hartmann aus dem Westerwald einleitend zu seinem schönen Haiku:

Braunäugig blinzelt
aus stacheliger Schale
die Kastanie

Wer mehr Haiku und Kurzprosa (Haibun) von Georges lesen möchte, dem sei ein Besuch seiner Seite hier empfohlen. Es lohnt sich.

Wir wünschen Georges sowie unserem Freund S. gute Besserung!

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Proust, Schmidt, Cassidy

Der Strand von Cabourg (Normandie), das bei Marcel Proust Balbec heißt

Der Strand von Cabourg (Normandie), das bei Marcel Proust Balbec heißt

„Dort hat jeder Sommer ein eigenes Gesicht gehabt, die Form eines Wesens und eines Landes, aber noch mehr die Form eines Traumes, in dem ich alles miteinander – Wesen und Land – vermischte.“ Marcel Proust

Proust

Keine Sorge, das wird hier keine Besprechung der siebenbändigen „Recherche“, wie auch deutsche Leserinnen und Leser Prousts Mammutwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ salopp nennen – wenn sie den siebten und letzten Band geschafft haben. Ob man Proust gelesen haben muss? Das sollte jeder selbst entscheiden. Hat man sich dazu entschieden, die Pilgerschaft durch die mehrere tausend Seiten anzutreten, sind drei Dinge hilfreich, so viel kann ich schon sagen. Erstens: sich nicht zu viele Seiten pro Tag vornehmen; zweitens: auf diese Expedition unbedingt einen kundigen, humorvollen Führer mitnehmen; und drittens: unbedingt in der Nachsaison in die Normandie reisen.

Letzteres haben wir gerade gemacht und sind noch immer verzaubert – von fast leeren, weiten Stränden, dem Kreischen der Möwen, dem (mitunter auch an den Nerven zerrenden) Krachen der Brandung und von den sanften, grünen Hügeln des Hinterlandes. Natürlich hatten wir Proust dabei, und natürlich waren wir auch in Cabourg, dem Ort, den sowohl Proust als auch sein Erzähler so geliebt haben. Im Roman heißt der Ort übrigens Balbec und das Grand Hotel, in dem Proust wohnte, wenn er in der Normandie war, steht noch an der unfassbar langen Uferpromenade im vollem Glanz der Belle Epoque.

Besonders sehenswert in Cabourg ist die „Villa du Temps retrouvé“, ein Museum, das uns zum einen Marcel Proust und seine Zeit näherbringt. Das Museum ist ziemlich neu und wirklich hervorragend gemacht, in Frankreich kann man so was. Dazu sind unsere Nachbarn in der beneidenswerten Lage, dass sie so ein Museum ohne Probleme mit original Kunstwerken aus der Zeit bestücken können: Monet, Manet, Boudin, Rodin. Neben den Bildern, Möbeln, original Manuskripten wird man als Besucherin auch mithilfe der Musik, die im Werk Prousts eine große Rolle spielt, in die Zeit der Belle Epoque versetzt.

Schmidt

„Ich hatte geplant, ein halbes Jahr jeden Tag zwanzig Seiten Proust zu lesen, (…)“ schreibt Jochen Schmidt in seinem Buch „Schmidt liest Proust“, das 2021 in einer veränderten Neuausgabe bei Voland & Quist erschienen ist. Schmidt ist der ideale Expeditionsleiter durch die sieben Bände. Ich bin aktuell in der Mitte des dritten Bandes (Guermantes) und ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob ich es ohne Schmidt packen würde. Proust perlt ja nicht auf jeder Seite wie Champagner, sondern mutet seinen Leserinnen und Lesern immer wieder Passagen zu, die an abgestandenen Cidre erinnern, den man dann halt auch verdauen muss. Da ist es ziemlich tröstlich, dass auch der Autor Schmidt „Schon am zweiten Tag Zweifel am Unternehmen“ hat. Michael Maar, selbst ein eminenter Proust-Kenner, hält Schmidts Buch für eines der besten Bücher über Proust (SZ 22.4.2009). Dass der Verlag Voland & Quist dieses Buch verlegt hat, dafür sollte man den Leuten dort die Goldene Madeleine überreichen, mindestens, und Jochen Schmidt sowieso.

Cassidy

Wie schon erwähnt, spielt die Musik sowohl in Prousts Werk als auch in seinem Leben eine wichtige Rolle. Letzteres gilt wahrscheinlich für die meisten von uns. Kaum hören wir eine Musik, die wir kennen, vielleicht noch aus unserer Kindheit, trägt uns unsere Erinnerung für einen Moment (oder auch länger) zurück in die Situation, in der wir dieses Lied zum ersten Mal gehört haben. Und damit sind wir bei Eva Cassidy, eine Sängerin, die bis vor wenigen Wochen in unserem Haushalt kein Begriff war; aber das muss nichts heißen.

Es war die Schriftstellerin Natascha Wodin, die in einem Interview meinte, Eva Cassidys Version von „Autumn Leaves“ wäre die schönste überhaupt. Man mag da nicht widersprechen:

Eva Cassidy war eine amerikanische Sängerin mit einer unglaublichen Stimme. Sie wurde am 2. Februar 1963 geboren und starb an einem Krebsleiden am 2. November 1996 im Alter von nur 33 Jahren; und richtig berühmt wurde sie erst nach ihrem viel zu frühen Tod. Ich habe ein wenig recherchiert und im Deutschlandfunk eine schöne Würdigung dieser einzigartigen Künstlerin gehört, die während ihrer ganzen Karriere praktisch nur Songs von anderen Künstlern gesungen hat. Diese aber hat sie so gut interpretiert, dass zum Beispiel Sting meinte, Cassidys Fassung von „Field of Gold“ sei besser als seine eigenen. „Jeder muss einmal im Leben Eva Cassidy gehört haben“, meint die Redakteurin Kerstin Poppendieck in dem hörenswerten Beitrag, den man hier findet.

Macht’s gut, bis zum nächsten Mal!

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Für die Freiheit

Mit allen brutalen und menschenverachtenden Mitteln versucht derzeit das diktatorische Regime im Iran, die Proteste in der Islamischen Republik nach dem gewaltsamen Tod der Studentin Mahsa Amini zu unterdrücken. Instagram, WhatsApp, zum Teil Mobilfunkprovider werden lahmgelegt. So weit, so schlimm.

Trotzdem rauscht gerade ein Protestsong aus dem Iran unaufhaltsam durch das freie Internet. Es ist das Lied des iranisches Sängers Shervin Hajipour «baray-e azadii» («Für die Freiheit»), der dafür verhaftet wurde und jetzt gegen Kaution wieder freigelassen wurde. Das Video haben wir hier bei der Deutschen Welle erstmals gesehen. Das Lied wurde gerade auch für einen Grammy vorgeschlagen, berichtet der Deutschlandfunk.

For Woman, Life, Liberty

Die iranisch-amerikanische Singer-Songwriterin Rana Mansour hat das Lied ins Englische übersetzt und inhaltlich auf ihre eigene Lebenssituation adaptiert und einen bewegenden Song zur Unterstützung der Protestbewegung im Iran eingespielt. Den Text haben wir bei ihr auf Youtube kopiert und unter das Video gestellt. Die deutsche Fassung von Shervin Hajipours Lied liegt uns leider nicht vor.

„Ich habe gelernt, dass Mut nicht die Abwesenheit von Furcht ist, sondern der Triumph darüber. Der mutige Mann ist keiner, der keine Angst hat, sondern der, der die Furcht besiegt.“ (Nelson Mandela)

Wie mutig müssen die Männer und Frauen im Iran sein, die dort gegen das Regime protestieren, wissend, dass eine Festnahme ihr Todesurteil bedeuten kann.

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For dancing in the allies and the streets,
For the thrill and the fear of getting caught kissing
For my sister, my brother, and unity
For all the times we tried to change their minds and stale beliefs
For the loss of pride, and poverty
For the dream of just a normal life for you and me
For all the children who are starving for a loaf of bread
For the greed of politics and all the lies they spread
For all the mass-polluted air we breathe,
For all the litter in the streets and all the dying trees
For all the animals who suffer from elimination
For all the cats and dogs who love us without no conditions
For all the tears that seem to never end
For all the images that keep on turning in our heads
For a simple smile, for just a little while
For the future generations fighting for their time
For empty promises of heaven in the after-life
For all the imprisonment of beautiful minds
For all the babies who are born and for the ones who died
For all the times you told the truth, and all the times you lied
For all the speeches that we heard about a million times
For all the shacks and shelters that were sold to make a dime
For just a glimpse of a peaceful life,
For the rising of the sun after an endless night
For all the pills we pop just to get some sleep
For all mankind, for our country
For all the boys and girls who never knew equality
For woman, for life, liberty.

Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=HCUfgHHkLcA

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„Auf, zu, crapaud!“ – Pilgerfahrt in die Vergangenheit

„Damals in den 1970er Jahren war das Becken selbstverständlich nicht beheizt“

„Damals in den 1970er Jahren war das Becken selbstverständlich nicht beheizt“

„Die Dichter behaupten, daß wir für Augenblicke das in uns wiederfinden, was wir einst gewesen sind, wenn wir in ein bestimmtes Haus, einen bestimmten Garten treten, in denen wir unsere Jugend verbracht haben. Doch sind dies höchst gewagte Pilgerfahrten, in deren Verlauf man ebenso viele Enttäuschungen wie Erfüllungen erlebt.“

(Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 3, Guermantes)

Lange Zeit wussten wir dieses Jahr nicht, wohin wir in Urlaub fahren sollten. Klar war, wir mussten mal wieder raus, aber es fehlte uns schlicht die Übung, daher sollte es nicht zu weit weg und auch nicht zu fordernd sein. Andererseits sollte es uns Abwechslung zum Alltag bringen. Irgendwann haben wir dann doch gespürt, was uns schon länger am meisten fehlte: das Meer. Nicht kleine, romantische Buchten sollten es sein, sondern die große Weite von Himmel und Meer.

So kamen wir auf die Normandie, die wir von einigen Reisen schon kannten, die aber bisher immer verbunden war mit viel Familie und Gepäck und einem bereits klar strukturiertem Tagesablauf. Diesmal waren wir zu zweit, ohne Kinder und Hund. Da Corinna als Kind und Jugendliche viele Ferien im Sommerhaus ihrer französischen Großeltern an der normannischen Küste verbracht hatte, wählten wir bewusst einen anderen Ort, um nicht ständig Erinnerungen aufkommen zu lassen. Proust warnt ja zurecht vor den gewagten Pilgerfahrten an die Orte der eigenen Vergangenheit.

Schließlich fanden wir ein kleines Appartment direkt am Meer. Aus allen drei Fenstern sahen wir einzig das Meer und den Himmel. Es war zauberhaft. Aber natürlich haben wir dann doch ein paar der Orte aufgesucht, die vor allem Corinna aus ihrer Vergangenheit schon kannte. Und so fuhren wir an einem eher kühlen, wolkenverhangenen Morgen nach Villers-sur-Mer und fanden dort das alte Schwimmbecken an der Strandpromenade, in dem Corinna schwimmen gelernt hat. „Und mit einem Mal war die Erinnnerung da.“ Das ist ihre Geschichte:

„Auf, zu, crapaud!“

Die langen Sommerferien, die wir im kleinen Sommerhaus der französischen Großeltern in der Normandie verbrachten, boten allen Familienmitgliedern die Gelegenheit zu besonderen Freizeitbeschäftigungen und dem Erlernen mancher Sportarten. Als wir noch Kleinkinder waren, hatte sich Papa gar ein Segelboot gekauft. Es hieß „windflower“, hatte ein orangefarbenes „w“ auf dem weißen Segel, und wackelte gefährlich – klein und leicht wie es war, in den großen Wellen des Ärmelkanals. Keine Frage, solange wir nicht schwimmen konnten, durften wir Kinder nicht in das Boot.

Als meine Schwester Ninia neun und ich sechs Jahre alt waren, meldete uns unsere Mutter bei einem Schwimmkurs an. Ich nehme an, es hatte mit diesem Segelboot zu tun, dass ich ausnahmsweise zusammen mit Ninia etwas erlernen sollte. Normalerweise war Ninia als Älteste von uns drei Mädchen die erste, die ein neues Feld der Großen erkundete. Ich wurde regelmäßig später zusammen mit meiner um zwei Jahre jüngeren Schwester Alexandra zu einem Kurs angemeldet. Alexandra und ich bildeten daher lange Zeit ein Paar, wir waren die „Puzzeles“, was wohl auf das schwäbische „Butzele“ zurückging. Da Ninia das „B“ aber wie ein „P“ aussprach, dachte ich lange, wir seien kleine Puzzle-Teilchen, die einfach aus Sicht der Älteren, die über uns entschieden, für so Vieles noch zu klein schienen. Ninia mochte wohl diese Abgrenzung, denn sie wollte von der Gewohnheit, uns so zu bezeichnen, noch lange nicht Abstand nehmen. Vielleicht profitierte ich in diesem Sommer aber auch von Ninias Qualen unter einer strengen Schwimmlehrerin in der Grundschule. Wollte man mir, die ich bald zur Schule gehen sollte, das ersparen?

Das Schwimmbad befand sich unmittelbar an der Strandpromenade im Stadtzentrum des kleinen Städtchens. Es war ein reines Lehr-Schwimmbecken ohne Dach. Darüber befindliche Stufen luden Spaziergänger zum Verweilen ein. Damals in den 1970er Jahren war das Becken selbstverständlich nicht beheizt und zudem, weil Schutzwände fehlten, dem ständigen Wind in der Normandie ausgesetzt. Damit der Familien-Tagesablauf durch die Schwimmstunden nicht gestört wurde, hatte unsere Mutter die tägliche Lektion zudem für den frühen Vormittag vereinbart.

In zwei sehr engen Kabinen zogen wir uns um, um gleich wieder einen Pullover über den Badeanzug anzuziehen, da wir erst auf ein Zeichen des Schwimmlehrers warten mussten, bevor wir ins Becken steigen durften. Ich konnte die violett-blauen Lippen der anderen Kinder im Wasser sehen, und es war schwer zu sagen, ob ich diese wegen der Tortur bemitleidete oder sie vielmehr beneidete, weil deren Ende nahte. Bei sonnigem Wetter hätte die hellblaue Farbe des Wassers vielleicht noch etwas Einladendes haben können. Da der normannische Himmel jedoch oft gänzlich von Wolken bedeckt ist, wirkte das Blau kalt und abweisend. Die Beckenwände fühlten sich rau an und hatten unangenehme Kanten. Ich wäre in diesen Minuten des Wartens wohl viel lieber ein Puzzele gewesen, um nicht ins Becken steigen zu müssen.

Über viele Jahre waren es immer dieselben zwei Schwimmlehrer, die dort unterrichteten, an ihre Namen erinnere ich mich nicht. Wir unterschieden sie als Kinder ohnehin nur an der immer selben Farbe ihrer Badehosen. Ninia hatte den mit der roten Badehose als Lehrer bekommen, ich den mit der blauen; beide schienen sie uns gleich streng. Nein, heimlich dachte ich, der mit der roten Hose sei vielleicht noch etwas strenger, denn er hatte die Angewohnheit, scharf und kurz zu pfeifen, wenn seine Schüler nicht folgten.
Die ersten Stunden waren die schlimmsten, denn mit all dem, was ich noch außerhalb des Beckens anzulegen hatte, konnte ich mich kaum mehr bewegen. Um den Bauch bekam ich einen Schwimmgurt, der aus einem schwarzen Gürtel mit einigen abnehmbaren, harten, gelben Luftdosen bestand. Darüber wurde ein breiter, schwarzer Ring um die Brust gestülpt, und mit den Armen musste ich mich an einem Brett festhalten. Dieses Brett hatte ein Loch, durch welches der Schwimmlehrer seine lange Metallstange führte und einen so durch das Wasser zog.

Verstehen konnte ich seine Anweisungen nicht, dazu genügte mein Französisch damals nicht. Ich war auf Mama als Übersetzerin angewiesen. Daher war es besonders schlimm, wenn Mama noch etwas in der Stadt erledigen wollte und sich vom Schwimmbad entfernte. Ich wollte nicht den Unmut des Schwimmlehrers auf mich ziehen, indem ich seinen Anweisungen nicht nachkam. Deshalb ließ ich meinen Schwimmlehrer nicht aus den Augen, damit mir keine seiner Gesten entging.

Von Anfang an, also ohne dass ich schwimmen konnte, musste ich den Kopfsprung üben. In voller Montur ließ mich der Lehrer aus dem Becken steigen und mich auf dem mit nassem Tuch bedeckten Brett am tieferen Ende des Beckens niederknien. Dann waren die Arme nach oben auszustrecken und hinter die Ohren zu legen. So galt es, zunächst die übereinander gelegten Hände, dann den Kopf und schließlich den Oberkörper langsam zum Wasser hinzubewegen, bis man nach vorne überkippte. Alle paar Tage wurde die Aufgabe schwieriger, denn dann musste ich das Ganze aus der Hocke und anschließend im Stehen ausführen. Gelangte nicht der Kopf als erstes ins Wasser, musste man die Übung so lange wiederholen, bis er es tat.

Die Schwimmstunde dauerte wahrscheinlich nicht länger als 20 Minuten, aber diese erschienen mir unendlich lang. Wenn das ersehnte Handzeichen zum Ende des Unterrichts vom Lehrer kam, konnte ich, einmal dem Becken entstiegen, mich kaum mehr bewegen. Sowohl beim Ablegen der Schwimm-Montur als auch beim Anziehen musste mir meine Mutter helfen. Sie flösste uns heißen Tee ein, an dem wir uns Lippen und Zunge verbrannten. Eingehüllt in sämtliche Kleidung, die zur Verfügung stand, begannen Ninia und ich zu schlottern. Ein paar Mal, erinnere ich mich, kam Opa Michel zum Zuschauen, und er kaufte uns heiße Crêpes mit viel Zucker und zerlaufener Butter.

Den ganzen Tag übte ich meine Schwimmbewegungen – im Trockenen, versteht sich, wahlweise auf dem rosafarbenen Teppich des Wohnzimmers oder auf der Schaukel. Dazu wiederholte ich mir immer wieder die von Mama beschriebene Abfolge der Beinbewegungen: Auf – zu – crapaud, auf – zu – crapaud. „Crapaud“ heißt auf französisch Kröte, und noch heute kann ich keine Krötenbeine betrachten, ohne an meine ersten Schwimmstunden zu denken.

Fast jeden Tag entfernte der Lehrer eine der gelben Luftdosen vom schwarzen Gürtel, und immer hatte ich sogleich das Gefühl, wieder stärker nach unten zu sinken. Auf einem alten Film, den Papa gedreht hat, ist zu sehen, wie ich den Kopf weit in den Nacken lege, um wenigstens mein Gesicht aus dem Wasser zu halten.

Zehn unendlich lange Tage dauerte es, dann hieß es, sämtliche Schwimmhilfen abzulegen, die Handflächen wie zum Gebet vor die Brust zu nehmen und das Becken hin und zurück zu durchqueren. So haben wir schwimmen gelernt.

Corinna Kern

Der wolkenverhangene Charme der Nachsaison

Der wolkenverhangene Charme der normannischen Nachsaison

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