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Freitagsfoto: Nur eine Rose als Stütze

Seit mehr als 2000 Jahren wird die Rose als Zierpflanze gezüchtet und in Gedichten besungen

Seit mehr als 2000 Jahren wird die Rose als Zierpflanze gezüchtet und in Gedichten besungen

Nur eine Rose als Stütze

Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft
unter den Akrobaten und Vögeln:
mein Bett auf dem Trapez des Gefühls
wie ein Nest im Wind
auf der äußersten Spitze des Zweigs.

Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle
der sanftgescheitelten Schafe die
im Mondlicht
wie schimmernde Wolken
über die feste Erde ziehen.

Ich schließe die Augen und hülle mich ein
in das Vlies der verläßlichen Tiere.
Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren
und das Klicken des Riegels hören,
der die Stalltür am Abend schließt.

Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.
Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.
Meine Hand
greift nach einem Halt und findet
nur eine Rose als Stütze.

Hilde Domin, 1959

Dies ist eines der bekanntesten Gedichte von Hilde Domin, das 1959 erstmals in dem gleichnamigen Band „Nur eine Rose als Stütze“ im S. Fischer Verlag erschien. Walter Jens sprach in seiner Kritik in der ZEIT damals von der „Vollkommenheit des Einfachen“ und nannte den Band sein Buch des Monats.

In seinem Nachruf auf die große Dichterin Domin, die am 22. Februar 2006 im Alter von 97 Jahren starb, schrieb Harald Hartung in der FAZ

„Vor allem aber wird uns ihre noble wie zarte Gestalt in Erinnerung bleiben. Hilde Domin war eine große Mutmacherin. In einem ihrer späten Gedichte beschwört sie sich und uns zugleich, nicht müde zu werden.“

Nicht müde werden

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten

Hilde Domin, 1992

Viellleicht hilft uns dieser poetische Ratschlag ja über diesen Winter: nicht müde werden, sondern staunen, uns erfreuen an den schönen Dingen, die uns umgeben. Und vielleicht, wenn wir es zulassen, kann dann ja in diesen verunsichernden Zeiten die Schönheit einer dornenbewehrten Rose zur Stütze werden.

Passt auf euch auf!

NK | CK

Buchinformation

Hilde Domin
Sämtliche Gedichte
Hg. Nikola Herweg und Melanie Reinhold
Nachwort von Ruth Klüger
S. Fischer Verlage 2015
ISBN: 978-3-596-52068-8

P.S.
Gestern habe ich in der Süddeutschen gelesen, wie man dieses Gefühl der Unsicherheit und Desorientierung nennt, das viele von uns gerade immer wieder plagt: Zozobra. Das ist Spanisch für Not, Besorgnis, ein bewegtes Meer, das einem Angst einjagt. Den Artikel von Mareen Linnartz kann man hier nachlesen.

 

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Woche der Unabhängigen Buchhandlungen 2020

„So ziehe ich mir sehr jung, ohne es zu merken und zufällig, die unheilbare Krankheit des Lesens zu.“ Agota Kristof, Die Analphabetin

„So ziehe ich mir sehr jung, ohne es zu merken und zufällig, die unheilbare Krankheit des Lesens zu.“ Ágota Kristóf, Die Analphabetin

Lesen hilft!

Ich weiß, es ist Montag, und ich bin spät dran mit dem Freitagsbeitrag. Aber am Freitag hat mich die Hexe erwischt, genauer ein Hexenschuss: ziemlich unangenehme Schmerzen in der unteren Lendenwirbelsäule. Heute geht’s schon wieder besser. Ich mache diszipliniert meine Übungen, habe mich am Wochenende in Zuversicht geübt (nicht ganz einfach in diesen Zeiten) und viel gelesen. Denn lesen hilft!

Gestern zum Beispiel hat mich ein schmales Buch von Ágota Kristóf sehr beeindruckt: Die Analphabetin. Die 1935 in Csikvánd in Ungarn geborene Kristóf hat ihr Heimatland 1956 während der bürgerlich-demokratischen Revolution verlassen und ist nach ihrer Flucht mit Mann und Tochter in der französischen Schweiz gelandet. Die als Kind Lesesüchtige beginnt in einer Uhrenfabrik zu arbeiten. Sie spricht kein Wort Französisch und muss eine komplett neue Sprache lernen. Sie fühlt sich als Analphabetin.

Auf knapp 80 eindrücklichen Seiten beschreibt Kristóf in einer verdichteten Sprache ihren harten, entbehrungsreichen Weg vom behüteten Kind eines Lehrers zur Arbeiterin in einem fremden Land, die schließlich in einer neuen Sprache Bücher schreibt und damit auch noch Erfolg hat. Am 27. Juli 2011 ist Ágota Kristóf in Neuenburg in der Schweiz gestorben. Unbedingte Lesempfehlung!

„Ich lese. Das ist wie eine Krankheit. Ich lese alles, was mir in die Hände, vor die Augen kommt: Zeitungen, Schulbücher, Plakate, auf der Straße gefundene Zettel, Kochrezepte, Kinderbücher. Alles, was gedruckt ist.“

Ágota Kristóf, Die Analphabetin

Lesen! Schöne Postkarte Nr. 45 · © www.schoenepostkarten.de · Tübingen

Lesen! Schöne Postkarte Nr. 45 · © Schoene Postkarten, Tübingen

Buchhandlungen sind Begegnungsstätten – auch im Lockdown

Heute beginnen ja wieder vier Wochen der Einschränkung für uns alle. Theater, Restaurants, Kneipen: vieles muss dicht bleiben. Nicht jedoch die Buchhandlungen und die Bibliotheken. Die bleiben unter Einhaltung der Hygienevorschriften auf.

Da trifft es sich gut, dass aktuell vom 31.10.2020 bis zum 7.11.2020 die Woche der unabhängigen Buchhandlungen gefeiert wird. Diese sogenannten Indies sind inhabergeführte Buchhandlungen, in denen kluge, freundliche Menschen sich um das Kulturgut Buch kümmern. Es lohnt sich darum, gerade jetzt die unabhängigen Buchhandlungen in der eigenen Stadt, im eigenen Viertel zu unterstützen. Was die unabhängigen Buchhandlungen ausmacht, bringt Roma Maria Mukherjee im Blog der Hamburger Buchhandlung Lesesaal auf den Punkt:

„Ein Buch ist für uns keine Ware, sondern ein Kulturgut, dass jeder nach der Lektüre verinnerlicht und welches einen bestenfalls für immer begleitet. Die unabhängigen Buchhandlungen zeichnet aus, dass jede ihr eigenes Konzept, ihre eigene Philosophie und ihr eigenes Herz hat. Das Viertel und der Ort, an dem sie wirken, wird durch sie belebt und inspiriert. Unabhängige Buchhandlungen sind Begegnungsstätten: von Menschen untereinander, von Ideen, von Menschen und ihren Lieblingsbüchern und manchmal auch von wunderbaren Freundschaften, die vor einem Buchregal entstehen.“

Schreiben macht Freude

Lesen und schreiben gehören zusammen. Und gerade im Lockdown freut man sich besonders, wenn man mal keine WhatsApp oder SMS bekommt, sondern eine handgeschriebene Postkarte oder gar einen Brief. Deshalb empfehlen wir heute unsere literarischen Postkarten mit Zitaten zu Büchern und zum Lesen. Alles selbst fotografiert und produziert. Alle Motive gibt’s auf Schöne Postkarten zu sehen. Dort steht auch, wo man die Postkarten kaufen kann. Ja, es sind auch einige Indie-Buchhandlungen in Tübingen, Mössingen und Hechingen dabei.

Schöne Postkarte Nr. 54 · © www.schoenepostkarten.de · Tübingen

Schöne Postkarte Nr. 54 · © Schöne Postkarten, Tübingen

Und wenn Sie Buchhändlerin oder Buchhändler sind und unsere Postkarten gerne Ihren Kundinnen und Kunden anbieten möchten, dann freuen wir uns auf Ihre Anfrage. Einfach eine kurze Mail schreiben, wir melden uns bei Ihnen.

Euch allen eine gute Woche und passt auch euch auf!

NK | CK

#SupportYourLocalBookstore

Schöne Postkarte Nr. 9 · © www.schoenepostkarten.de · Tübingen

Schöne Postkarte Nr. 9 · © Schöne Postkarten, Tübingen

Buchinformation

Ágota Kristóf
Die Analphabetin
Piper Verlag, 2007 80 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3492249027

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Freitagsfoto: Flechten im Alter

Flechten zählen zu den längstlebigen Lebewesen überhaupt und können ein Alter von mehreren hundert Jahren, in Einzelfällen sogar von über 4.500 Jahren

Flechten können mehrere hundert, in Einzelfällen über 4.500 Jahre alt werden

So schön
wie die Flechten im Herbst
möchte ich altern

So beautiful
like the lichens in autumn
I want to age

Ein Haiku für die kluge Freundin K. aus Hamburg, die vom Alter noch weit entfernt ist, aber dem Haiku und anderen schönen Dingen zugewandt ist.

NK | CK

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Wie mag’s dem Nachbarn gehn?

Wie mag’s dem Nachbarn gehen?

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Tiefer Herbst.
Mein Nachbar –
wie mag’s ihm gehn?

Bashō | Übersetzung von Dietrich Krusche

Als der große japanische Haiku-Dichter Matsuo Bashō dieses Haiku schrieb, war er bereits schwer krank und sollte sich von dieser Krankheit nicht mehr erholen. Er starb am 28. November 1694 im Alter von nur 50 Jahren.

Der amerikanische Autor und Zen-Lehrer Robert Aitken schreibt in seinem Buch „the river of heaven: The Haiku of Bashō, Buson, Issa and Shiki“, dass Bashō dieses Herbst-Haiku als Grußwort für einen Dichterabend verfasste. Er selbst konnte aufgrund seines sich verschlechternden Gesundheitszustands an diesem Treffen nicht mehr teilnehmen. Aitken betont in seiner Interpretation, dass es dem Dichter in seinem Haiku trotz allem nicht darum ging, von sich oder seiner Krankheit zu schreiben oder gar darüber zu klagen. Dazu war dieser dichtende Wandermönch viel zu bescheiden; sein Lebensziel war es stets, alle persönlichen Interessen an sich selbst aufzugeben. Statt dessen liegt Bashō also auf dem Krankenlager in seiner ärmlichen Hütte und fragt sich, wie es wohl dem Nachbar gehe. Welche Größe, welche Anteilnahme!

Ich will jetzt nicht darüber spekulieren, was uns in diesem Herbst und Winter noch bevorsteht, das machen andere schon genug. Aber wäre es nicht schön, wenn wir uns an einem Dichter, der vor mehr als 300 Jahren gelebt hat, ein Beispiel nähmen? Wenn wir uns einfach öfter mal fragen würden, wie es dem Nachbarn, der Kollegin, der Lehrerin unserer Kinder, dem Regalauffüller im Supermarkt oder dem Paketboten gerade geht?

Passt auf euch und aufeinander auf!

N.K. | C.K.

Buchinformation

Haiku – Japanische Gedichte
Ausgewählt, übersetzt und mit einem Essay herausgegeben von Dietrich Krusche
Deutscher Taschenbuch Verlag, 5. Auflage Februar 1999
ISBN: 978-3423124782

Robert Aitken
the river of heaven. The Haiku of Bashō, Buson, Issa, and Shiki
Counterpoint Press, Berkeley, 2011
ISBN 978-1582437101

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Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten

Spätes Sonnenlicht im Wald lässt das Moos hell aufleuchten

Spätes Sonnenlicht im Wald lässt das Moos hell aufleuchten

Vor ein paar Wochen bekamen wir von Freund S. ein Buch geschenkt. „Es gehe um ein einziges Gedicht und neunzehn Übersetzungen von diesem“, fügte dieser sehr belesene und kluge Mann hinzu. Ich nahm es mit zu meinem letzten Friseurbesuch; es passte, weil es schmal und klein ist, wunderbar in die Handtasche. Und der Titel „Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten“ hatte mich neugierig gemacht.

Nun ist die Friseursalon-Atmosphäre mit Scherengeklapper, lauten Haarföhnen und nicht zuletzt mit den aufgenötigten Gesprächen von rechts und links wahrlich keine ideale Atmosphäre, um sich in ein Buch, geschweige denn in ein Gedicht, zu vertiefen. Noch dazu, wenn man wie ich, sich das Buch, weil ohne Brille, im 15 cm-Abstand vor die Augen halten muss, um lesen zu können. Um es vorweg zu nehmen: ich bin zwei Stunden lang abgetaucht, so intensiv fand ich die Lektüre.

Ein Gedicht, vor 1200 Jahren geschrieben

Worum geht es? Es geht um ein sehr altes, nur vier Zeilen langes Gedicht, des chinesischen Dichters Wang Wei, einem Meister aus der Tang-Zeit, der ca. von 700–761 gelebt hat. Die Bildrolle, auf der sich das Originalgedicht befand, ging verloren, die älteste erhaltene Kopie stammt aus dem 17. Jahrhundert. Man geht davon aus, dass schon diese Kopie das ursprüngliche Gedicht verwandelt hat. Und dass sich dieses Gedicht seitdem, in vielen Übersetzungen, immer wieder neuen Verwandlungen unterzogen hat.

Damit sind wir beim Thema:

„Große Dichtung lebt im Zusammenhang beständigen Wandels, beständiger Übersetzung: Kann es nirgendwo hin, stirbt das Gedicht.“

So schreibt Eliot Weinberger, der Autor von „Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten“. Die Übersetzungen, so Weinberger, „nehmen ein eigenes Leben an und ziehen selbst ihrer Wege.“ Weinberger muss es wissen, den der US-amerikanische Schriftsteller und renommierte Essayist ist selbst Übersetzer.

Eliot Weinberger: Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten. Buchbesprechung

Zu Beginn übersetzt uns Weinberger die vier Gedichtzeilen Zeichen für Zeichen. (Denen vorangestellt ist die Überschrift, die vage mit Hirschhain übersetzt werden kann.) Schon hier erkennt man, wie unterschiedlich Sprachen sein können:

„Ein einzelnes Zeichen kann (im Chinesischen) Substantiv, Verb und Adjektiv sein. Es kann sogar widersprüchliche Bedeutungen haben. … Für westliche Übersetzer stellt das nicht vorhandene Tempus der Verben eine besondere Hürde dar: Was im Gedicht geschieht, ist geschehen und wird geschehen. Ebenso haben Substantive keine Numerus: Rose ist eine Rose ist alle Rosen.“

Weinbergers Zeichen-für-Zeichen-Übersetzung

  1. Leer | Berg(e) | (negativ) | sehen | Mensch(en)
  2. Aber | hören | Mensch(en) | Worte / Gespräch | Klang | echoen
  3. Wiederkehren | Hell(igkeit) / Schatten (Sg / Pl) | eindringen | tief | Wald
  4. Wiederkehren / Wieder | leuchten / reflektieren | grün / blau / schwarz | Moos / Flechten | oben / auf / Spitze

Es lohnt, einen Moment innezuhalten und den Bildern, die unweigerlich im Kopf entstehen, zu folgen, vielleicht gar selbst einen Versuch zu unternehmen, diese in eigene Worte zu fassen. Es vergrößert den Genuss der weiteren Lektüre!

Die Kunst des Übersetzens

Sodann führt uns Eliot Weinberger und seine Übersetzerin aus dem Englischen, Beatrice Faßbender, durch neunzehn Übersetzungen dieses 1200 Jahre alten Gedichts, englischen, französischen, spanischen, und man ist beim Lesen dieser „neuen“ Gedichte immer wieder erstaunt, wie sehr neben der individuellen Rezeption eines Gedichts auch die jeweilige Kultur und ihre Auswirkungen auf Sprache eine Rolle bei der Übersetzung gespielt haben mögen.

Hilde Domin hat das Gedicht mal als „magischen Gebrauchsartikel“ bezeichnet, was mir sehr entgegenkommt, weil es die Hemmschwelle, sich überhaupt mit Gedichten zu befassen, herabsetzt.

Eliot Weinberger: Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten. BuchbesprechungIn diesem wunderbaren Band wird man von Eliot Weinberger sozusagen an die Hand genommen, erfährt den ebenso interessanten wie unterschiedlichen Gebrauch eines Gedichts durch andere (Übersetzer und Dichter) und kommt so womöglich am Ende zu einem eigenen.

Anzumerken wäre noch, dass dieses Buch außergewöhnlich schön gestaltet und produziert ist, wie alle Bücher aus dem feinen Berenberg-Verlag, die bei uns im Regal stehen.

Wang Wei, mein Versuch einer Übersetzung

Menschenleer die Berge
Aber ist nicht das Echo von Stimmen zu hören?
Späte Sonnenstrahlen im Wald
lassen das Moos grün aufleuchten

CK | NK

Buchinformation

Eliot Weinberger
Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
Mit einem Nachwort von Octavio Paz
112 Seiten · flexibler Leinenband · fadengeheftet · 125 × 188 mm
Berenberg Verlag, Herbst 2019
ISBN 978-3-946334-58-3

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Zur Einheit in die „stumpfe Ecke“

1976 waren 47 Prozent aller PKW auf den Straßen Ostdeutschlands Trabant. Gebaut wurde das Auto bis 1991.

1976 waren 47 Prozent aller PKW auf den Straßen Ostdeutschlands Trabants, auch Trabbis genannt. Gebaut wurde das Auto bis 1991.

„Kohlen-Kalle, Willy, Conny, Kurt und der Heizer vom Kino UT verbringen die ersten Stunden des Tages in der alten Oberschöneweider Kneipe »Stumpfe Ecke« – Und manchmal bleiben sie auch länger.“

Mit diesem Vorspann lädt der preisgekrönte Reporter Alexander Osang seine Leser zu einer Reise durch den ostdeutschen Alltag nach 1989 ein. Osang, 1962 in Ost-Berlin geboren, hat in Leipzig in Journalistik studiert und nach der Wende zunächst für die Berliner Zeitung gearbeitet. Drei Mal erhielt er den renommierten Egon-Erwin-Kisch-Preis für seine Reportagen. Später erschienen seine Berichte unter anderem im Spiegel. In Osangs Buch „Die stumpfe Ecke: Alltag in Deutschland – 25 Porträts und ein Interview“ geben uns 25 Reportagen, die zwischen Dezember 1992 und Dezember 1993 erstmals veröffentlicht wurden, tiefe Einblicke in das Leben der Menschen Ostdeutschlands kurz nach der Wiedereinigung.

Ausgangspunkt ist, wie gesagt, die Kneipe Stumpfe Ecke. Osang schreibt hier über eine legendäre Institution im ehemaligen Berliner Industriebezirk Oberschöneweide, wo die AEG 1890 ihr erstes Werk eröffnete. Nach 1945 war Oberschöneweide der wichtigste Industriestandort Ost-Berlins mit den Kabelwerken Oberspree KWO, dem Transformatorenwerk Oberspree TRO und dem Werk für Fernsehelektronik WF. In der Wilheminenhofstraße war die Kneipe Stumpfe Ecke die erste Anlaufstation für die Arbeiter nach ihren Schichten. Getrunken wurde hier schon in aller Herrgottsfrühe, nach der Nachtschicht. Das ist alles passé:

Um sechs duscht die Nachtschicht des Kabelwerks, um sechs leiert Jörg Wietrychowski die grauen Rollos seiner Kneipe hoch. Früher, als im KWO noch fast sechstausend Leute gearbeitet haben, drängte sich um diese Zeit schon eine geduschte Menschentraube vor der Tür. Heute steht da niemand anders als die dunkle Nacht. Viertel sieben kommen die ersten. Drei Hände voll abgekämpfter Nachtschichtler und zwei, drei Leute, die nicht mehr schlafen können.

Zuhören, reden lassen

Neun Seiten umfasst die erste Reportage dieses lesenswerten Buches, und auf diesen neun Seiten habe ich ständig das Gefühl gehabt, am Tresen dieser Kneipe zu stehen, vor mir ein kaltes Bier, neben mir Menschen, für die Helmut Kohls Schlagwort von den blühenden Landschaften wie blanker Hohn in den Ohren geklungen haben muss. Diesen Menschen widmet Osang seine Zeit, er hört ihnen genau zu, lässt sie reden und gibt ihnen die Chance, für ein Mal ihre ganz persönliche Geschichte zu erzählen. Wie Osang das macht, ist große Klasse und hat mich, als ich das Buch vor ein paar Jahren zum ersten Mal gelesen habe, begeistert und bedrückt zugleich. message, die Internationale Fachzeitschrift für Journalismus hat über Osangs Buch geschrieben:

Die Texte zeigen bedrückende, mit stiller Sympathie und Sensibilität aufgenommene Lebensbilder. Osang besticht durch seine journalistische Kultur der Genauigkeit, er erweist sich als exzellenter Beobachter und verantwortungsbewusster Treuhänder der menschlichen Würde der von ihm Porträtierten. Osang wechselt zwischen Nähe und Distanz und versucht, was er an Kisch so bewundert: Im Einzelnen das Wesentliche zu erkennen. Das gelingt ihm.

Dem kann ich nichts hinzufügen, außer den Rat, dieses Buch gerade jetzt zu lesen, wo wir 30 Jahre Deutsche Einheit feiern. Diese Lektüre ist aus meiner Sicht lohnender als jede Talkshow zu diesem Thema, von denen es jetzt wahrscheinlich wieder etliche mit den immer gleichen Gästen geben wird. Die Leute aus der Stumpfen Ecke treten dort leider nicht auf.

Lesenswert fand ich übrigens auch das Interview am Ende des Buchs, das der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge mit Alexander Osang über dessen Arbeit geführt hat. Da gibt der Reporter unter anderem Einblick in seine Arbeitsweise und seine Vorbilder aus der Literatur.

NK | CK

Buchinformation

Alexander Osang
Die stumpfe Ecke. Alltag in Deutschland – 25 Porträts und ein Interview
3. erweiterte Auflage, März 2002, 208 Seiten
Christoph Links Verlag
ISBN: 978-3-86153-259-0
nur noch antiquarisch oder als E-Book beim Verlag erhältlich  

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Das Jahr verliert sich

Morgenstimmung auf dem Steinenberg: Österberg und Albtrauf im Nebel | #nofilter #nophotoshop

Morgenstimmung auf dem Steinenberg: Österberg und Albtrauf im Nebel | #nofilter #nophotoshop

Das Jahr
verliert sich im Nebel
Septembermorgen

Dieses Haiku fiel mir vor ein paar Tagen am frühen Morgen auf der Hunderunde ein. Es trifft ziemlich gut meine Stimmung. Dieses melancholische Gefühl lässt mich nur schwer los nach diesem endlosen, viel zu heißen Corona-Sommer. Ein Sommer übrigens, der uns gezeigt hat, dass das Virus nicht unser einziges großes Problem ist. Die riesigen Waldbrände an der amerikanischen Westküste und in Südamerika sprechen eine deutliche Sprache. Die Seite Global Forest Watch bietet eine interaktive Karte mit Waldbränden weltweit, die über Satellit erkennbar sind.

Ich bin jedenfalls froh, dass es endlich abkühlt und dass unser Birnbaum uns nicht mehr jeden Morgen mit räsen Mostbirnen bombardiert. Und ich wünsche mir im Gegensatz zu Rilke auch keine südlicheren Tage mehr. Mir ist nach Herbststimmungen, in denen ein wohlwollender Nebel seine milchige Decke über dieses anstrengende Jahr ausbreitet. Und Regen, Regen wäre auch gut.

Passt auf euch auf!

NK | CK

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Freitagsfoto: Aussicht

Mehr als 1600 Windengewächse (Convolvulaceae) gibt es weltweit. Diese haben wir bei Erika Jantzen fotografiert

Mehr als 1600 Windengewächse (Convolvulaceae) gibt es weltweit

Aussicht

Der offne Tag ist Menschen hell mit Bildern,
Wenn sich das Grün aus ebner Ferne zeiget,
Noch eh des Abends Licht zur Dämmerung sich neiget,
Und Schimmer sanft den Klang des Tages mildern.
Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt, verschlossen,
Des Menschen Sinn von Zweifeln voll, verdrossen,
Die prächtige Natur erheitert seine Tage
Und ferne steht des Zweifels dunkle Frage.

Den 24. März 1671
Mit Untertänigkeit
Scardanelli

Scardanelli, Hölderlin und Hegel

Gegen Ende seines Lebens hat Friedrich Hölderlin seine Gedichte häufig mit dem Pseudonym Scardanelli gezeichnet. Manche Gedichte hat er Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte in die Vergangenheit oder in die Zukunft datiert.

Im Hölderlinturm in Tübingen läuft zur Zeit eine Ausstellung über Hölderlin und Hegel, die ja beide 1770 geboren wurden und gemeinsam am Evangelischen Stift in Tübingen studiert haben. Informationen zu dieser Sonderausstellung gibt es hier.

Gartencafé geöffnet

Die schönen Winden auf dem Foto haben wir in der Tübinger Staudengärnterei von Erika Jantzen fotografiert. Und da gibt es an den nächsten drei Samstagen im September (12., 19., 26.) verlängerte Öffnungszeiten und ein kleines Rahmenprogramm. Das ganz reizende Gartencafé hat auch wieder geöffnet! Alle Infos zu den Terminen bei den Tübinger Staudenmädle gibt es hier.

Passt auf euch auf!

NK | CK

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Ach, sie kannten den alten Birnbaum schlecht

So sieht es unter unserem alten Birnbaum seit Wochen aus, und zwar jeden Morgen

So sieht es unter unserem alten Birnbaum seit Wochen aus, und zwar jeden Morgen

Haiku für einen Birnbaum

Die Birnen
fallen und fallen und
ich werde alt

Les poires
qui tombent et tombent et
je me sens vieux

The pears
falling and falling and
I feel old


落ちては落ちては落ちては落ちては落ちては
老いを感じる

japanische Übersetzung erstellt mit Deepl

Ein Birnbaum in unserem Garten steht

Als unsere Kinder noch kleiner waren und wir noch keinen Birnbaum unser eigen nennen durften, zählte Fontanes Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland zu den Gedichten, die regelmäßig laut gelesen und nach kurzer Zeit von den Kindern auswendig aufgesagt wurden.

Nun leben wir seit rund 15 Jahrem mit einem großen, alten Birnbaum im Garten, der im Frühjahr ganz wunderbar blüht und im Sommer kühlen Schatten spendet. Und immer wenn die goldene Herbsteszeit, ach was!, bei unserem Birnbaum geht es schon viel früher los. Dieses Jahr hat er schon Ende Juli angefangen, die ersten kleinen Birnen fallen zu lassen. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Und nein, es sind nicht die leckeren Tafelbirnen, wie sie sich der alte Ribbeck in die Taschen stopfte. Unsere Birnen sind klein und „räs“, wie man in Tübingen dazu sagt. Will heißen: wir kämpfen jeden Tag mit  säuerlichen Mostbirnen. Ein Wahnsinn! Aber, wir wollen nicht undankbar sein. Also machen wir Saft, Birnencrumble, Kompott, Schnaps, solche Dinge. Und wenn alle Birnen unten sind, sind wir platt, machen Übungen für den Rücken und freuen uns auf den Winter, wenn der Garten in stiller Kälte ruhig daliegt.

Gute Zeit, passt auf euch auf!

NK | CK

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