„Wozu Dichter in dürftiger Zeit.“ So schreibt Friedrich Hölderlin in seinem Gedicht „Brot und Wein“, und diese Frage (ohne Fragezeichen) darf man sich stellen in diesen unwirklichen Zeiten, wo uns ein unsichtbares Virus seit Wochen in Schach hält; und wo Populisten in Europa und anderswo diese Pandemie ausnutzen, um unwidersprochen den Rechtsstaat zur Autokratie umzubauen. Es gibt Tage, da fühlen meine Frau und ich uns schon nach Morgenlektüre der Tageszeitung geschafft und überfordert. Da hilft dann nur noch eine strenge Nachrichtenpause, Gartenarbeit, ein langer Spaziergang oder eben: ein paar Gedichte lesen.
Hello poem, my old friend
„Saint Peter and the Goldfinch“ heißt der aktuelle Gedichtband von Jack Ridl, erschienen vor genau einem Jahr – bisher nur auf Englisch. Davon sollte man sich aber nicht abschrecken lassen. Denn Ridls Gedichte sind nicht in kompliziertem Englisch geschrieben. Man versteht sie, auch wenn man nicht in den USA aufgewachsen ist, wie der Autor, der am 10. April 1944 in der Nähe von Pittsburgh geboren wurde. Ridl, der sich selbst als Blue-Collar-Poet bezeichnet, wollte eigentlich nicht Dichter, sondern Baseball- oder Basketball-Profi werden. Das ist nicht verwunderlich, wenn der eigene Vater eine amerikanische Basketball-Trainerlegende ist.
Zur Dichtung kam Ridl über Umwege, nachdem er während seiner Collegezeit zunächst als Songwriter für eine Sängerin aktiv war. Das Duo stand sogar kurz vor einer Plattenaufnahme, als die Sängerin ihm eröffnete, sie würde heiraten und dann nicht mehr öffentlich auftreten. Das war’s dann mit Ridls hochfliegenden Plänen, Simon & Garfunkel Konkurrenz zu machen. Gut, dass er dann als Student in Pittsburgh den bekannten Dichter Paul Zimmer traf, der ihn auf die richtige Spur setzte.
Wir müssen uns also auch bei Paul Zimmer dafür bedanken, dass Jack Ridl uns in schöner Regelmäßigkeit seine Gedichtbände auf den Nachttisch legt. Neben Zimmer nennt Ridl Willliam Stafford und die Dichterin Naomi Shihab Nye seine Vorbilder. Von Shihab Nye stammt der Satz
Die Poesie ruft uns zum Innehalten auf. Es gibt so viel, das wir übersehen, während die Fülle um uns herum weiter schimmert, ganz von alleine.
Ein Satz, der Ridls Dichtkunst ziemlich treffend beschreibt. Ein Beispiel:
Over in That Corner,
the PuppetsEven when the weather changes,
remember to pet the dog, make
the cat purr, watch whatevercomes to the window. If you
stand there long enough,
someone will come by,a stranger perhaps, one who
could be more, but needs
to keep walking. Hello –
is likely all you can say.
– for Naomi Shihab Nye
Ein klassisches Ridl-Gedicht. In einfachen Worten mit klarer Gliederung wird eine Szene geschildert, in die eine nicht beinflussbare Veränderung von außen einbricht, in diesem Fall das Wetter. Es könnte aber auch etwas anderes sein: eine Krankheit, eine berufliche Veränderung, eine Trennung oder, weil’s so gut passt, ein Virus.
Aber, und das ist das Tröstliche an diesem Gedicht, das Leben geht weiter, der Hund will gestreichelt, die Katze zum Schnurren gebracht werden. Am Ende der zweiten Strophe dann das Ridlsche Überraschungsmoment. Ein Fremder taucht auf, den man vielleicht gerne näher kennengelernt hätte, der aber weitergeht. Es bleibt bei einem kurzen Hallo. Wer dieses Gedicht laut liest, und Gedichte sollte man eigentlich immer laut lesen, spürt, wie der Blutdruck sinkt, wie die Hektik des Alltags in den Hintergrund tritt, und wie sich der Phantasie Räume eröffnen.
Hilde Domin hat einmal gesagt, das Gedicht befreie von allen Zwängen, „indem es die Wirklichkeit, und also die Zeit, stillstehen macht und eine eigene Zeit herstellt“. Genau das passiert in Ridls Gedichten. Die Wirklichkeit steht still und wird in fast beiläufiger Umgangssprache geschildert, was Ridls Gedichte so zugänglich macht. Zeile für Zeile, Strophe für Strophe schafft Ridl eine poetische Welt, in der das Überraschende meist ganz leise eintritt; grade so, wie man einen kleinen Stein in einen Teich fallen lässt: man hört den Stein kaum, aber er zieht doch Kreise.
Leben und Tod und Alles dazwischen
Dichtern wie Jack Ridl, deren Werk der plain-spoken poetry zugerechnet werden kann, wird von Kritikern schon mal fehlender Mut, über das große Ganze zu schreiben, vorgeworfen. Nichts wäre unzutreffender bei einem Autor, der zwar in direkten Worten (plain-spoken – Englisch: gerade heraus) schreibt, der aber keines der großen Themen – Leben, Liebe, Altern, Tod – auslässt. Er tut dies nur nicht in einem hohen Ton oder in hermetischer Gestelztheit, sondern offen und klar. Übrigens wie viele gute amerikanische Dichterinnen und Dichter, was ein Grund dafür sein könnte, dass sich die Bücher von Dichtern wie Billy Collins hundertausendfach verkaufen.
Saint Peter and the Goldfinch
Auch in seinem neuen Band zeigt Jack Ridl mit dichterischem Können, das er seinen Fans etwas zu sagen hat. Saint Peter and the Goldfinch gliedert sich in vier Teile. Es beginnt mit der Abteilung „The Train Home“, in der Ridl seine eigene Lebensgeschichte bearbeitet, darunter auch sehr Schmerzliches. Etwa in dem Gedicht „My Brother – A Star“, wo er von dem Tag erzählt, an dem der ersehnte kleine Bruder bei der Geburt stirbt. Der Tag und das Gedicht enden damit, dass der Junge abends im Bett liegt und sich vorstellt, wie er dem toten Bruder beim Basketball einen Pass nach dem anderen spielt und dieser immer wieder trifft.
That night in bed
I watched this kid firing in jump shots
from everywhere on the court. He’d cut left,
I’d feed him a fine pass, he’d hit.
I’d dribble down the side, spot him in the corner, thread
the ball through a crowd to his soft hands, and he’d
loft a star up into the lights where it would pause
then gently drop, fall through the cheers and through the net.
The game never ended. I fell into sleep. My hair
was short. We were 8 and 2.
Der Dichter am Spielautomat
Dass Ridl nicht nur ein empathischer und bescheidener Dichter ist, sondern auch humorvoll und selbstironisch schreiben kann, zeigt „Self Pity as an Ars Poetica“ (Selbstmitleid als Dichtkunst). Hier seine Selbstcharakterisierung:
I’m a loser in the poetry
casino: I drop my quarters
in the slot, get two peaches
and an prickly pear,
a cherry blossom, red
wheelbarrow, and an dulcimer.
Der Dichter als Spieler an der Slotmachine im Lyrik-Casino, der zwei Pfirsiche, eine schrumplige Birne, eine Kirschblüte, einen roten Schubkarren und ein Hackbrett bekommt. Eine schönere, gleichzeitig augenzwinkernde Verneigung vor dem großen William Carlos Williams kann man nicht schreiben. Williams’ Gedicht „The Red Wheelbarrow“ mit den weißen Hühnern und dem roten Schubkarren kennt in den USA jedes Schulkind.
Liebe und Garagentor
„The Long Married“ heißt der dritte Teil des Buches, in dem sich der Autor Gedanken über das Mysterium der Liebe macht und das Erfolgsgeheimnis einer langen Ehe umkreist. Das Gedicht „Love Poem“ beschreibt den Zauber des Alltags eines älteren Paares, der ausgefüllt ist mit dem Zählen der Hundehaare auf dem Sofa, Erinnerungen und der Metaphysik von Kreuzworträtseln.
Die Lehren, die ich daraus ziehe? Demütig und dankbar sein für das, was ist und versuchen, zu erkennen, worauf es wirklich ankommt. Selbst wenn es die Haare des Hundes sind. Ach ja: weniger reden hilft auch, schreibt Ridl, und das sagt auch meine kluge Frau, wenn ich morgens um halb sieben ins Plappern komme, wie sie es nennt.
VIII
Love Poem
The smaller the talk the better.
I want to sit with you and have us
Solemnly delight in dust; and one violet;
And our fourth night out;
And buttonholes. I want us
To spend hours counting dog hairs,
And looking up who hit .240
in each of the last ten years.
I want to talk about the weather;
And detergents; and carburetors;
And debate which pie our mothers made
The best. I want us to shrivel
Into nuthatches, realize the metaphysics
Of crossword puzzles, wait for the next
Sports season, and turn into sleep
Holding each others favorite flower,
Day, color, record, playing card.
When we wake, I want us to begin again
Never saying anything more lovely than garage door.
Einbildungskraft und Klugheit
Jack Ridls Gedichte sind entschleunigende Denkanstöße, oft melancholisch-humorvolle Meditationen über das, was wir gerne übersehen und über das, was Menschsein ausmacht. In seinen Gedichten zeigt sich, was Wallace Stevens, dem Ridl auch eine kleine Reverenz erweist, einmal gesagt hat:
Die Einbildungskraft kann die Klugheit der Philosophen übertreffen.
Buchinformation
Jack Ridl
Saint Peter and the Goldfinch
Wayne State University Press, 2019
Paperback, 128 Seiten
ISBN: 9780814346464
Mehr Information
Homepage von Jack Ridl
Podcast mit Jack Ridl
Interview mit Jack Ridl
Jack Ridl über Kindness (Liebenswürdigkeit)
Naomi Shihab Nye über Jack Ridl in der New York Times
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Berührende Gedichte – und ein sympathischer Dichter –
Vielen Dank!!
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