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Freitagsfoto: Ein unwissendes Kraut

„Hier blüht wohl einiges auf“: Schneeglöckchen (Galanthus) auf einem Haufen Tübinger Lehmboden

„Hier blüht wohl einiges auf“: Schneeglöckchen (Galanthus) auf einem Haufen Tübinger Lehmboden

Gedicht gegen Weltschmerz

Vor ein paar Tagen habe ich dieses Foto von den Schneeglöckchen auf einem Dreckhaufen (Tübinger Lehmboden, auch Letten genannt) in unserem Garten gemacht. Der Haufen ist entstanden, als wir letzten Herbst ein größeres Loch graben mussten, um ein paar Rohre zu sanieren. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls hätte der Haufen längst weggeschafft werden sollen … trotz temporärer Lockdown-Lähmung fragt man sich ja manchmal, wo die Zeit bleibt.

Wir waren jedenfalls gerührt, als die ersten Schneeglöckchen mit der ihnen eigenen, zarten Beharrlichkeit aus dem schweren Tübinger Lehmboden rausgeschaut haben. Ja, und da ist mir das Gedicht von Rilke eingefallen, wo aus stummem Absturz ein unwissendes Kraut singend hervorblüht. Mein kluger Freund S. und ich haben dieses Gedicht vor mehr als 40 Jahren auswendig gelernt und in unseren Jugendzimmern zu düsterer Musik (Nights in White Satin) und Vanilletee rezitiert. Warum? Wahrscheinlich weil wir uns in unserem unglücklichen Verliebtsein trösten wollten. Und ist es nicht so, dass man sich als Jugendlicher so oft ausgesetzt fühlt auf den Bergen des Herzens, und nur Steingrund unter den Händen, und die Angebetete unerreichbar für einen? Wer erinnert sich nicht an diesen Weltschmerz, den man mit 14, 15 oder 16 ertragen musste und der dann mit einem passenden Gedicht wenigstens ein bisschen erträglicher wurde? Ach!

Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens

Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?
Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund
unter den Händen. Hier blüht wohl
einiges auf; aus stummem Absturz
blüht ein unwissendes Kraut singend hervor.
Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann
und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens.
Da geht wohl, heilen Bewußtseins,
manches umher, manches gesicherte Bergtier,
wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel
kreist um der Gipfel reine Verweigerung. – Aber
ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens…

Rainer Maria Rilke, aus dem Nachlaß

Wer sich näher mit diesem Gedicht beschäftigen will, dem empfehlen wir einen Text von Dr. Johannes Heiner, dessen interessante Deutung man hier nachlesen kann.

Am Montag, den 1. März, ist übrigens meteorologischer Frühlingsanfang, und an diesem Tag öffnet in Tübingen wieder die Staudengärtnerei von Erika Jantzen ihre Pforten. Und auch da blüht manches Kraut singend hervor, und die wissenden Gärterinnen beraten gerne die, die zu wissen beginnen.

Genießt den Frühling und die Blumen!

NK & CK

Schöne Postkarte Nr. 119 · Licht, Farben, Monet · © www.schoenepostkarten.de

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