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Europa – wo bist du? Alex Rühle macht Interrail

Das Schienennetz der EU ist rund 230.000 km lang; hier der Bahnhof Tübingen

Das Schienennetz der EU ist rund 230.000 km lang; hier Gleise am Bahnhof Tübingen

24. Juni 1977

„Mitten in der Nacht wurden wir an der jugoslawischen Grenze von Zöllnern gefilzt. Der Zug hatte deswegen fast drei Stunden Aufenthalt. Zuerst waren die Zöllner ruppig, aber dann doch ziemlich nett zu uns.“

So beginnt der zweite Tag meines Interrail-Tagebuchs aus dem Jahr 1977. Ich war noch keine 16 und mit meinem Freund S. und zwei anderen Mitschülern auf dem Weg vom Fuß der Schwäbischen Alb nach Athen – nonstop versteht sich. Denn Interrail hieß für uns: in vier Wochen möglichst viel sehen, möglichst viele Länderstempel holen, möglichst viele Eisenbahnkilometer zurücklegen. An diese ziemlich verrückte und anstrengende Reise musste ich denken, als ich das neue Buch von Alex Rühle gelesen habe.

„Europa – wo bist du?“

So nennt der SZ-Journalist und Autor Alex Rühle sein Interrail-Europa-Buch, das den Untertitel „Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent“ trägt. Rühle hat 20.000 Kilometer zurückgelegt und viele Menschen getroffen, immer auf der Suche nach dem, was Europa ausmacht. Vom 10. März 2022 bis zum 21. Juni 2022 war er unterwegs, und es hat sich gelohnt. Wer mehr über Europa, seine Bewohner:innen, seine Stärken und seine gewaltigen Probleme wissen möchte, wird dieses Buch mit Gewinn lesen.

„Der Text wird ein Krisentagebuch, Essay, Reisemitschrift in einem, es geht durch weite Landschaften und fremde Sprachen, großartige Städte und kleine Cafés, gastfreundliche Wohnzimmer und durch sehr viel Geschichte.“

Allem Anfang wohnt eine Krise inne

Wer Zug fahren will, muss auch warten können: Bahnhof Saint-Jean-du-Gard im Süden Frankreichs

Zug fahren heißt auch warten: Saint-Jean-du-Gard, Frankreich

Los geht es in Athen, wo Rühle (Jahrgang 1969) am 10. März 2022, wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, feststellt: allem Anfang wohnt eine Krise inne. In Berlin ruft Bundeskanzler Scholz die »Zeitenwende« aus, im verschneiten Athen friert der Reporter in leichter Lederjacke und Turnschuhen. Warum Athen? Es ist die Stadt, in der Perikles einst die Demokratie beschrieb als die Staatsform, in der »die staatlichen Angelegenheiten nicht das Vorrecht einiger, sondern das Recht vieler sind«.

Schon dieses erste Kapitel, das uns noch einmal die Finanzkrise 2010/2011 und deren dramatische Folgen für Griechenland vor Augen führt, zeigt die Stärke dieses Buchs. Vom Kleinen ins Große, vom Großen ins Kleine, immer faktenfundiert und dicht an den Menschen dran.

Morbus Hoffnungslosigkeit

Rühle trifft in Athen den Kardiologen Giorgio Vichas, der im Herbst 2011 auf dem Gelände eines ehemaligen Militärflughafens eine Praxis für bedürftige Menschen aufmacht. Denn Vichas hatte festgestellt, dass infolge des gnadenlosen Spardiktats der EU-Troika viele Griechen, die länger als 12 Monate ohne Arbeit waren, plötzlich ohne Krankenversicherung dastanden und sich keinen Arztbesuch mehr leisten konnten. Der Arzt nennt die Austeritätsprogramme der EU (von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble maßgeblich befürwortet) reines Gift: »schließlich gebe es keinen besseren Nährboden für chronische Krankheiten als Arbeitslosigkeit und Armut«.

Im Fortgang des Gesprächs entfaltet sich nach und nach das ganze Drama, in dem Griechenland praktisch bis heute steckt. Denn nach der Finanzkrise wurde es nur unwesentlich besser. Und als dann endlich Licht am Ende des Tunnels aufschien, kam Corona. Und heute? »Die Krankheit, die hier am schlimmsten wütet, ist die Hoffnungslosigkeit«, sagt der Kardiologe Vichas. Diese wird plastisch, wenn die Lehrerin Artemis Kliafa von dramatisch gekürzten Gehältern und von Kindern erzählt, »die im Unterricht umkippten wegen Mangelernährung«.

„In den Interviews war Europa oft so weit weg, als gehörte Griechenland gar nicht dazu. Europa sagt … Europa will … Die Europäer denken so und so, wir Griechen hingegen … Dazu kommen immer wieder Zuschreibungen über den Norden Europas und die ach so besonders wohlsortierten Deutschen, die in den Gesprächen mal kümmerlichen Aktenordnern auf zwei Beinen gleichen, mal einer Klasse Hochbegabter, aber immer supersouveräne Organisationsgenies sind.“

Nächster Halt: Belgrad

Auch in Belgrad trifft Rühle Menschen, die die Schwächen der EU benennen. Den Vorwurf, dass sich die EU-Spitze von Autokraten wie Vučić (Serbien), Orbán (Ungarn) oder Kaczyński (Polen) an der Nase rumführen lässt, hört Rühle immer wieder. Wie kann es sein, dass diese Autokraten Brüsseler Gelder einstreichen und gleichzeitig mit aller Kraft die demokratischen Institutionen ihrer Länder so lange schwächen, bis nichts mehr da ist? Warum hält Brüssel nicht die Werte hoch, die in der europäischen Verfassung stehen?

Weiche Nasale, schöne Münder

Aber allen schwierigen EU-Kapiteln zum Trotz reißt Alex Rühle seine Leserinnen immer wieder mit seiner Neugier und Begeisterung mit. Mal sind es phantastische Landschaften, durch die fährt, mal sind es die portugiesischen Nasalklangwunder, die ihn verzücken:

„Portugiesisch klingt, als wäre auf dem metallisch harten, kantigen Latein, das dichte Moos der Zeit gewachsen, das alle Ecken abrundet und den Klang weich abdunkelt. Das -us, -a, -um ist ausgereift zu -usch, -ão, -õe und anderen Diphtong- und Nasalklangwundern, wahrscheinlich haben die deshalb alle so schöne Münder, Männer genauso wie Frauen.“

Da möchte man doch gleich morgen einen Portugiesisch-Kurs machen und dann mit dem Zug nach Lisboa fahren und sich die schönen Münder genau anschauen.

Hat schon lebendigereZeiten gesehen: Bahnhof von Villers-sur-Mer in der Normandie

Hat schon lebendigere Zeiten gesehen: Bahnhof von Villers-sur-Mer in der Normandie

Anfang und Ende von Europa

Hoch im Norden kommt der Interrailer dem Ukrainekrieg sehr nahe. In Narva, dem äußersten Nordosten Estlands, ist Russland nur noch einen Steinwurf entfernt. Kein Wunder, dass die Menschen dort (ebenso wie in Litauen oder Lettland) eine ganz andere Sicht auf Russland haben als wir in Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Die Sowjetunion ist hier noch nicht lange her.

„Die Gegenwart gleicht hier einem viel zu voll gestellten Raum, die Epochen der Vergangenheit ragen wie nicht abgebaute Kulissen in die Jetztzeit.“

Und von wegen an den Rändern Europas. Die Bürgermeisterin von Narva, mit der Rühle in einer Kneipe in Estland sitzt, fährt ihn scharf an, als er von Peripherie spricht: »Von Peripherie zu sprechen, ist schlichtweg dumm. Das hier (…) ist der Anfang und das Ende von Europa. Es ist genauso NATO-Gebiet wie Deutschland.«

Liest man solche Sätze, wird einem klar, dass uns Deutschen mehr Empathie und Neugier, gegenüber allem, was nicht Deutschland ist, ziemlich gut zu Gesicht stünde. Rühle ist empathisch und neugierig und ehrlich: das zeichnet ihn aus. Hier schreibt keine Edelfeder mit Rollkoffer von Louis Vuitton, sondern ein überzeugter Europäer, der sich große Sorgen um diese »größte Erfindung der Politik-Geschichte« macht.

Wer mehr über Europa wissen möchte, liest zuerst das Buch und macht dann Interrail

Wer mehr über Europa wissen möchte, liest zuerst das Buch und macht dann Interrail

Und jetzt?

Frau von der Leyen sollte, wenn ihr Herz wirklich an Europa hängt, dieses Buch gleich morgen in alle 24 Amts- und Arbeitssprachen übersetzen lassen und es allen EU-Bürgerinnen und Bürgern auf den Nachttisch legen, damit alle lesen können, wie schön und wertvoll Europa ist. Nochmal Alex Rühle:

„Auf die Frage, wo es am schönsten war, würde ich sagen: überall. Insofern wäre mein Tipp auch nur: Fahren Sie los. Am besten mitten rein in Ihre eigenen Vorurteile. Und in die weißen Stellen Ihrer inneren Landkarte.“

NK | CK

Buchinformation

Alex Rühle
Europa, wo bist du? Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent
Hardcover mit Lesebändchen, 416 Seiten
dtv Verlag, München, 2022
ISBN: 978-3-423-44126-1

Im WRD 5 hat Alex Rühle vor ein paar Wochen länger über sein Buch gesprochen. Kann man hier nachhören, lohnt sich auch.

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Ukraine: Krieg im Leben – Dokumentarfilm

Leben im Krieg: Bewegende Doku

Während im warmen Deutschland mal wieder Briefeschreiber:innen für Verhandlungen statt Panzer appellieren (wissend oder auch nicht, dass Putin keine Verhandlungen sondern die Vernichtung der Ukraine anstrebt), hat die ARD letzten Montag einen exzellent gemachten, bewegenden Dokumentarfilm des Reporters Vassili Golod gezeigt. Es lohnt sich sehr, diesen Film anzuschauen!

Vassili Golod wurde 1993 in Charkiw in der Ukraine geboren, seine Mutter ist Russin (aus Nischni Tagil, Ural), der Vater Ukrainer. Golod ist ein hervorragender und empathischer Journalist. Wer mehr über Golod und seine Arbeit hören möchte, dem empfehlen wir den Podcast von Jagoda Marinić, die sich Anfang November 2022 mit Golod über seine Herkunft, sein Leben und seine Arbeit unterhalten hat, hier der Link.

Keller des Grauens

Warum das Wort „Keller“ in den besetzten Gebieten der Ostukraine die Menschen mit Angst und Schrecken erfüllt, erzählt der ukrainische Journalist Stanislav Aseeyev. Er wurde mehr als zwei Jahre gefangen gehalten und misshandelt. Er sagt „Was damals der Gulag war, sind heute die Keller“. Das erschütternde Interview lief im Deutschlandfunk, man kann es hier nachhören.

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Hölderlin, who?

Im Hölderlinturm in Tübingen am Neckar lebte Hölderlin von 1807 bis zu seinem Tod 1843

Im Hölderlinturm in Tübingen am Neckar lebte Hölderlin von 1807 bis zu seinem Tod 1843

Neulich auf der Platanenallee

Touristen am Turm
Hölderlin, who?
Oh, how nice!

Die Tübinger Platanenallee befindet sich auf einer künstlich angelegten Neckarinsel gegenüber der viel fotografierten Neckarfront mit Neckarmauer und Hölderlinturm. Die schöne Allee endet am umstrittenen Silcherdenkmal, einem ziemlich klotzigen, hässlichen Relikt aus der Nazizeit. Aber darum soll’s heute nicht gehen.

Tatsache ist, dass man von der Platanenallee einen sehr schönen Blick auf die Tübinger Altstadt und den Hölderlinturm hat. Ein Grund, warum viele Tübingerinnen und Besucher die Neckarfront samt Hölderlinturm nicht nur von der Neckarbrücke aus, sonden auch von der Allee aus fotografieren. Dabei erleben wir auf unseren Fotospaziergängen immer mal wieder, dass die Menschen gar nicht wissen, was es mit diesem schönen, gelben Turm da auf sich hat. Erst vor ein paar Wochen hatten wir wieder so eine Begegnung am frühen Sonntagmorgen mit netten amerikanischen Gästen, die sich über unsere Erklärungen zu Turm und Dichter sehr gefreut haben. So ist auch das Haiku da oben entstanden.

Wäre es nicht eine schöne Idee, auf der Platanenallee gegenüber dem Turm eine Tafel mit ein paar erhellenden Zeilen auf Englisch, Französisch und Deutsch aufzustellen? Dazu das bekannte Gedicht „Hälfte des Lebens“ in diesen drei Sprachen und die Internetadresse vom Hölderlinturm? Es ist doch schade, wenn die Besucher abreisen, ohne zu wissen, wer im Turm gelebt hat und ohne diesen besucht zu haben.

NK | CK

Schöne Postkarte Nr. 100 · Hölderlinturm mit Stocherkähnen in Tübingen am Neckar | © Schöne Postkarten

Schöne Postkarte Nr. 100 · Hölderlinturm in Tübingen am Neckar | © Schöne Postkarten

PS: Noch mehr Ansichten vom Hölderlinturm und von Tübingens schönen Seiten gibt’s übrigens auf unserer Homepage von Schöne Postkarten.

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Vater als prägender Mensch

Schuhe bieten nicht nur Füßen Schutz, sondern sind auch Träger von Erinnerungen

Schuhe bieten nicht nur Füßen Schutz, sondern sind auch Träger von Erinnerungen

Es sind die eigenen Eltern, die uns in der Regel am meisten prägen. Das ist so, auch wenn wir das Gefühl haben, gar nicht so viel über den Vater oder die Mutter zu wissen. Ein Gefühl, das sich bei vielen von uns mit zunehmendem Alter verstärkt. Aber in der Zeit, in der wir die Eltern befragen könnten, sind wir häufig nicht interessiert genug. Wir wollen uns von ihnen abgrenzen und suchen andere Einflüsse. Erst die großen Zäsuren im Leben – Heirat, Geburt der eigenen Kinder, Tod eines Elternteils – lassen uns neu über diese Prägungen nachdenken.

So ging es auch Andreas Schäfer, der ein paar Jahre nach dem Tod seines Vaters zu schreiben beginnt,

„um etwas festzuhalten, zu retten, nein, ans Licht zu bringen, noch weiß ich nicht, was und wie genau. Will ich dem Vater also Anerkennung verschaffen – auch vor mir selbst?“

Ein letztes Treffen

Weil der Autor so wenig über seinen Vater zu wissen meint und dieser Unsicherheit Rechnung tragen möchte, gliedert er seine Erzählung „Die Schuhe meines Vaters“, (2022 bei DuMont erschienen), in drei Teile. Im ersten Teil besucht der bereits schwer erkrankte Vater seinen erwachsenen Sohn in Berlin mit noch unklarer Diagnose:

„Wir umarmten uns, ein eingespieltes festes Umfassen des kompakten, eher harten Körpers, in dem sich das Bedürfnis nach Nähe und die Scheu vor ihr die Waage hielten.“

Diesem Besuch kommt im Nachhinein große Bedeutung zu, da es die letzte Begegnung sein wird. Als durchaus sympathischen, dem Leben zugewandten Opa lernen wir den Vater kennen. Und sind von der schlagartigen Abfolge der Ereignisse ebenso getroffen wie der Sohn selbst: der Anruf aus der Frankfurter Klinik, der Schockzustand, die grundsätzlichen Fragen über Leben und Tod, das allmähliche Begreifen des Verlustes, der Schmerz, die Trauer. Nach und nach erfahren wir mehr über das zurückliegende Familienleben – aus Sicht des Sohnes geschildert. Der Ich-Erzähler geht dabei reflektierend und sehr vorsichtig vor. Es ist eine behutsame Annäherung, ein Herantasten an das, was so schwierig zu beschreiben ist, weil es uns selbst so verletzbar macht:

Wie lässt sich von der Scham erzählen?

Abstrakt versucht der Erzähler, sich dem schmerzhaften Gefühl der Scham zu nähern:

„Sie blüht in zahllosen Farben und Formen. Jemand fällt aus der Sicherheit heraus und findet nur unvollständig wieder in sie zurück.

Dem Wissen, dass der Vater leicht zu kränken ist, gesellte sich bald die Erfahrung hinzu, dass Situationen in Anwesenheit des Vaters von einem auf den anderen Moment kippen konnten.“

In einer ersten grandios beschiebenen Schlüsselszene, in der der Sohn dem Vater seine damalige Freundin vorstellt, erleben wir die Willkür, die kaschierte Unsicherheit und verbale Gewalt des Vaters – und auf der anderen Seite das Unbehagen, die Anspannung, die Scham- und Schuldgefühle des Sohnes, unter denen er über den Tod des Vaters hinaus leidet.

„Ich hatte ein eigenes Leben. Aber was spielt das für eine Rolle? Tiefe Ängste kennen keine Zeit.“

Ebenso überzeugend beschrieben ist die zweite, gegensätzlich verlaufende Schlüsselszene, die in einem gemeinsam erlebten Moment der Gelösheit auch eine gewisse Erlösung in sich birgt. Das Durchleben und schriftliche Niederschreiben erleichtern den Schritt, mit dem Abstellen der Beatmungsmaschine den Vater gehen zu lassen. So endet der erste Teil, und die Erzählung hätte als solche hier auch enden können.

Die Schuhe meines Vaters

Im zweiten Teil versucht der Sohn-Erzähler, über die Dinge des Vaters mehr über diesen in Erfahrung zu bringen. Denn eigentlich hat er das Gefühl:

„Ich weiß nichts von ihm, und das wird immer so bleiben.“

Wie ist der Vater möglicherweise zu dem Menschen geworden, den der Sohn erlebt hat? Wie wuchs ein Kind auf, das Ende 1936 in eine Berliner Fleischersfamilie hineingeboren wurde?

„Ein Kind erblickt das Licht der Welt, schreit, atmet, lernt laufen, sprechen, denken, urteilen in dieser Luft, in dieser Familie, in dieser nationalsozialistischen Berliner Wirklichkeit.“

Die Großeltern bleiben blass, notgedrungen, da der Vater fast nichts von ihnen erzählt hat, ein Verhalten, das für diese Generation des Vaters nicht untypisch sein dürfte. Die vom Krieg als (Klein-)Kinder Geprägten hat man mit ihren Erlebnissen nicht selten allein gelassen. Und so erfahren wir auch von den Traumata des Vaters als Kleinkind, die gewissermaßen als Erklärung dienen können, aber vom Autor nicht dramaturgisch inszeniert werden. Der Sohn will verstehen und zeichnet deshalb auf, wie es geschehen sein könnte. Die Unterscheidung zwischen Fiktion und dem Wenigen, was er den Dingen als „tatsächlich geschehen“ entnehmen kann, ist ihm dabei wichtig.

Der Sohn verurteilt nicht, weder die Großeltern noch den Vater oder die Trennung der Eltern. Er findet Erklärungen für die Schwächen seines Vaters, stellt dann aber an sich fest, dass diese ihn nicht erlösen:

„Mein Verständnis hatte einen hohen Preis. Ich sah sein Leiden und konnte ihm zugleich seine Ungerechtigkeit nicht verzeihen. Ich verlor die Achtung vor ihm. Ein tiefer Groll begann von mir Besitz zu nehmen.“

Den Wegen nachspüren

Denn Verstehen bedeutet (noch) nicht Verzeihen. Deshalb hat der Autor wohl noch einen dritten Teil angehängt, in dem er den Wegen des Vaters nachspürt, paradoxerweise in Griechenland, der Heimat der Mutter, deren Sprache der Vater nie erlernen wollte.

Der Sohn beschäftigt sich noch immer mit denselben Fragen, und doch erleben wir den Erzähler gereift. Denn er kann die ambivalenten Gefühle nun stehen lassen, kann sogar manch Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Vater benennen:

„Natürlich war ich wie er.“

Die Schuhe meines Vaters ist eine auf sprachlich hohem Niveau, sehr sensible und überzeugende Aufarbeitung einer Vater-Sohn-Beziehung, von der wir sehr angetan waren! Ein großes Dankeschön an dieser Stelle an unseren Tierarzt Dr. Roth, dem wir diesen schönen Buchtipp verdanken!

CK I NK

Buchinformation

Andreas Schäfer
Die Schuhe meines Vaters
Dumont Verlag, 2022
ISBN 978-3-8321-8258-8

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Leise und heiter: „Dagegen die Elefanten“

Dagegen werden die Elefanten kaum übersehen. Foto: Norbert Kraas

Dagegen werden die Elefanten kaum übersehen. Foto: Norbert Kraas

Als Protagonist: ein Übersehener

Wunderbar leise und dabei heiter ist der Roman „Dagegen die Elefanten!“ von Dagmar Leupold, 2022 im Verlag Jung und Jung erschienen. Es ist wohltuend zu lesen, wie sich die Autorin mit den Übersehenen unserer Gesellschaft beschäftigt. Protagonist ist Herr Harald, der Mann im Theater, der den Menschen ihre Mäntel und Taschen abnimmt und diese bewahrt, bis sie wiederkommen nach dem Schlussapplaus. Ist das eine Tätigkeit, über die es mehr zu erfahren lohnt? Ein Leben, über das man mehr wissen möchte? Aber ja!

Ein paar Kostproben

Herr Harald erkennt am Geruch der Mäntel den Unterschied zwischen Reichtum und Behauptung, und während der Aufführung betrachtet er im gedimmten Licht die Mäntel, die wie ausgeweidet an den wuchtigen Haken hängen. Er beobachtet, wie unterschiedlich die Besucher mit der Garderobenplakette umgehen, so verstauen Frauen die Plakette behutsam, als wäre sie eine Oblate, die sie später auf ihre Zunge zu betten gedenken. Ist das nicht großartig geschrieben?

Herrn Haralds Gedanken sind den Menschen zugewandt und von einer maßvollen Heiterkeit. Und Herr Harald mag seinen Beruf:

„Wächter über etwas zu sein, und seien es Mäntel, ist befriedigend. Herr Harald bewacht Mäntel, ja, aber er wacht auch irgendwie über deren Eigentümer. Er verwahrt ihr Eigentum und gibt es ihnen unversehrt zurück, wie er ihnen selbst wünscht zu bleiben. Die gut behüteten Mäntel behüten dann ihre Träger.“

Während der Aufführungen liest Herr Harald in einem Buch, das ein Operngast vergessen hat, abzuholen: ein Grundkurs Italienisch I, Bella Italia:

„Im Buch lag noch der Kassenzettel, billig, das schöne Italien, denkt Herr Harald, er hätte sich eine Sprache teurer vorgestellt. (Aber recht bedacht, ist es eigentlich ja eine gebrauchte). Es freut ihn, dass er nun anstelle von jemand anderem Italienisch lernt.“

Leise und heiter ist das Buch „Dagegen die Elefanten“ von Dagmar LeupoldDann wird er wieder zum diskreten Beobachter und Zeugen – von Aufregungen und Inszenierungen, kleinen und großen Tragödien. Wir lernen als Leser noch andere Übersehene kennen, die Türschließerin, Kassiererinnen, genau genommen scheint die Welt voll von ihnen zu sein, es braucht nur den geübten Blick. Und wir beobachten Herrn Harald, wie er sich langsam, aber sicher in die Frau verliebt, die für die Konzertpianisten die Noten umblättert, auch sie ein Schattengewächs abseits von Rampenlicht und Ruhm.

Pausendeserteure

Das alles beschreibt Dagmar Leupold, die 17 Jahre lang das Studium Literatur und Theater an der Universität Tübingen leitete, mit leisem Ton, sprachlicher Gedankentiefe und einem unglaublichen Gespür für zarte Tragik, Sprachwitz und Ironie. Man fühlt sich bei so feiner Beobachtung an manch leise und heitere Loriot-Szene erinnert: es gibt keine uninteresannten und auch keine unkomischen Menschen. So erkennt Herr Harald auch die Besucher,

„die von Beginn an Totzeit empfinden. Das Theaterabonnement gehört zu ihrem Leben wie der Zahnarztbesuch. Die Pausendeserteure – die einen wie die anderen – reißen jedenfalls Herrn Harald ihre Mäntel förmlich aus der Hand und fädeln die Arme im Gehen ein, von den Außenstehenden vor den Toilettentüren tadelnd gemustert.“

Wir begleiten als Leser Herrn Harald selbstverständlich auch in sein Privatleben, das Schrulligkeiten und zuweilen auch Molltöne enthält, denen Herr Harald mit Disziplin und gedanklicher Unbeirrtheit versucht zu begegnen:

„Ein angebissener Tag, der Nachmittag dehnt sich vor ihm, läuft aus wie Verschüttenes, wird ungestalt. Die gute Laune dünnt aus, kämpft um die Oberhand. Herr Harald spürt, es ist Zeit für eine Maßnahme und setzt sich kurzerhand in ein Steh-Café …“

Dass dieser Roman sogar noch richtig spannend wird, soll hier nur angedeutet werden, denn es lohnt sich, ihn ganz zu lesen! Wir finden: Literatur zeigt sich von ihrer schönsten Seite, wenn es gerade nicht um das Spektakuläre geht. Dagegen die Elefanten! ist leise und heiter und literarische Feinkost!

CK I NK

Buchinformation

Dagmar Leupold
Dagegen die Elefanten!
Hardcover mit Lesebändchen
Verlag Jung und Jung, Salzburg
ISBN: 978-3-99027-262-6

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Freitagsfoto: Schwätzbänkle

Das Tübinger „Schwätzbänkle“ bei der Jakobuskirche. Foto: Corinna Kern

Das Tübinger „Schwätzbänkle“ bei der Jakobuskirche. Foto: Corinna Kern

Miteinander statt übereinander

Na, die ersten Vorsätze für 2023 schon gebrochen? Keine Sorge, geht uns allen so. Aber wir hätten da noch einen Vorsatz: mehr miteinander, statt nur übereinander schwätzen (reden für alle Nicht-Schwaben). An der Tübinger Jakobuskirche gibt es dazu eine besondere Bank, das „Schwätzbänkle“. Eine schöne Idee der Jakobusgemeinde!

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Auld Lang Syne: Der alten Zeiten wegen

Old long since

Old long since heißt auf Schottisch Auld Lang Syne und ist „das“ Lied, das am letzten Tag des Jahres im englischsprachigen Raum zum Gedenken an die Verstorbenen gesungen wird. Es ist dem schottischen Nationaldichter Robert Burns (1759 – 1796) zu verdanken, dass das Lied heute eine solche Bekanntheit hat. Laut Wikipedia hat Burns das Lied erstmals am 17. Dezember 1788 in einem Brief erwähnt.

Patrick Dexter, der Cellist vor dem Cottage, ist ein irischer Musiker, der zu Beginn des Jahres 2020, es war die Zeit der ersten Lockdowns, angefangen hat, vor seinem Cottage im Westen Irlands zu spielen. Es lohnt sich, ihm dabei auf Youtube zuzuschauen. Er schreibt über dieses alte Lied, das auch eine wunderschöne Hymne auf die Freundschaft ist:

“The lyrics to ‘Auld Lang Syne’ are all about celebrating being together with old friends. The melody, however, goes much deeper. It’s brimming with a feeling of something timeless and very human, a distilled sense of connection to others that gives life its meaning.”

Die Version von Patrick Dexter kann man auf seiner Musikseite für einen Euro in verschiedenen Formaten runterladen. Mehr Information über diesen interessanten Musiker und Menschen findet man auf seiner offiziellen Homepage hier.

Es versteht sich von selbst, dass es von Auld Lang Syne zahllose Versionen gibt. Auch Rod Stewart, in London geborener Sohn schottischer Arbeiter, hat eine Version eingespielt:

„Und dann lass uns einen ordentlichen Schluck nehmen, der alten Zeiten wegen“, lautet die letzte Zeile von Auld Lang Syne. Dem haben wir für heute nichts hinzuzufügen.

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Neues im alten Jahr: Musik aus Japan

Der Kalenderwechsel, schon im alten Japan ein Moment der Wehmut

Der Kalenderwechsel, schon im alten Japan ein Moment der Wehmut

Kalenderwechsel

Das Wechseln des Kalenders ist ein unübersehbares Zeichen, dass das neue Jahr in den Startlöchern steht. Es ist diese Verrichtung am Jahresende, die uns an das Vergehen der Zeit und an unsere eigene Vergänglichkeit erinnert. Das ist heute so wie im Japan des 18. Jahrhunderts. Der große Yosa Buson (1716 – 1784) brachte seine Melancholie zum Jahresende so zum Ausdruck:

onkyou ni
nite yukashisa yo
furu-goyomi

 

Ich hänge an dem alten Faltkalender
so sehr, als wäre er
ein Buch mit wertvollen Schriften

Altes Jahr, neue Musik – aus Japan

Bevor dieses Jahr nun endgültig vorüber ist, haben wir noch einen besonderen musikalischen Kulturtipp, der mit Japan zu tun hat; Haiku werden auch zitiert. Und warum nicht in den letzten Tages des alten Jahres mal was ganz Neues entdecken!

Im SWR2-Radio gibt es eine Reihe mit dem schönen Titel Lost in Music. Die jeweilige Sendung dreht sich dabei immer um ein bestimmtes Thema, das von verschiedenen musikalischen und anderen künstlerischen Seiten beleuchtet wird. In der Sendung vom 28. Dezember 2022 um 20.05 Uhr im SWR 2 Radio dreht sich alles um Japan, japanische Musik und japanische Dichtung: die Infos dazu gibt’s hier.

Koto, Sho, Shakuhachi

Wer schon immer mal wissen wollte, wie eine Wölbbrettzither (Koto), eine japanische Mundorgel (Sho) und eine Bambuslängsflöte (Shakuhachi) klingen, sollte einschalten. Ich bin sicher, es sind ganz eigene Klänge und Welten. Neben der japanischen Musik sind auch japanische Künstler:innen mit klassischer europäischer Musik zu hören.

So etwa die international bekannte Konzertpianistin und Klavierlehrerin Sachi Nagaki. Sie hat in Japan, England und Finnland unterrichtet und gibt international Meisterkurse. Seit 2003 unterrichtet Sachi Nagaki in Tübingen und leitet gemeinsam mit ihrem Mann Jean-Christophe Schwerteck, auch er Konzertpianist und Klavierlehrer, das Piano College Maestro.

Sachi Nagaki wird bei Lost in Music mit der 9. Klaviersonate von Sergej Prokofjew zu hören sein. Ausschnitte aus ihrem letzten Album „Hommage à Clara Schumann“ gibt es auf der Website von Sachi Nagaki.

Wir wünschen einen guten Kalenderwechsel und Freude beim Entdecken neuer Klangwelten.

NK | CK

PS: Wir danken Jean-Christophe Schwerteck für den Hinweis.

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