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Europa – wo bist du? Alex Rühle macht Interrail

Das Schienennetz der EU ist rund 230.000 km lang; hier der Bahnhof Tübingen

Das Schienennetz der EU ist rund 230.000 km lang; hier Gleise am Bahnhof Tübingen

24. Juni 1977

„Mitten in der Nacht wurden wir an der jugoslawischen Grenze von Zöllnern gefilzt. Der Zug hatte deswegen fast drei Stunden Aufenthalt. Zuerst waren die Zöllner ruppig, aber dann doch ziemlich nett zu uns.“

So beginnt der zweite Tag meines Interrail-Tagebuchs aus dem Jahr 1977. Ich war noch keine 16 und mit meinem Freund S. und zwei anderen Mitschülern auf dem Weg vom Fuß der Schwäbischen Alb nach Athen – nonstop versteht sich. Denn Interrail hieß für uns: in vier Wochen möglichst viel sehen, möglichst viele Länderstempel holen, möglichst viele Eisenbahnkilometer zurücklegen. An diese ziemlich verrückte und anstrengende Reise musste ich denken, als ich das neue Buch von Alex Rühle gelesen habe.

„Europa – wo bist du?“

So nennt der SZ-Journalist und Autor Alex Rühle sein Interrail-Europa-Buch, das den Untertitel „Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent“ trägt. Rühle hat 20.000 Kilometer zurückgelegt und viele Menschen getroffen, immer auf der Suche nach dem, was Europa ausmacht. Vom 10. März 2022 bis zum 21. Juni 2022 war er unterwegs, und es hat sich gelohnt. Wer mehr über Europa, seine Bewohner:innen, seine Stärken und seine gewaltigen Probleme wissen möchte, wird dieses Buch mit Gewinn lesen.

„Der Text wird ein Krisentagebuch, Essay, Reisemitschrift in einem, es geht durch weite Landschaften und fremde Sprachen, großartige Städte und kleine Cafés, gastfreundliche Wohnzimmer und durch sehr viel Geschichte.“

Allem Anfang wohnt eine Krise inne

Wer Zug fahren will, muss auch warten können: Bahnhof Saint-Jean-du-Gard im Süden Frankreichs

Zug fahren heißt auch warten: Saint-Jean-du-Gard, Frankreich

Los geht es in Athen, wo Rühle (Jahrgang 1969) am 10. März 2022, wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, feststellt: allem Anfang wohnt eine Krise inne. In Berlin ruft Bundeskanzler Scholz die »Zeitenwende« aus, im verschneiten Athen friert der Reporter in leichter Lederjacke und Turnschuhen. Warum Athen? Es ist die Stadt, in der Perikles einst die Demokratie beschrieb als die Staatsform, in der »die staatlichen Angelegenheiten nicht das Vorrecht einiger, sondern das Recht vieler sind«.

Schon dieses erste Kapitel, das uns noch einmal die Finanzkrise 2010/2011 und deren dramatische Folgen für Griechenland vor Augen führt, zeigt die Stärke dieses Buchs. Vom Kleinen ins Große, vom Großen ins Kleine, immer faktenfundiert und dicht an den Menschen dran.

Morbus Hoffnungslosigkeit

Rühle trifft in Athen den Kardiologen Giorgio Vichas, der im Herbst 2011 auf dem Gelände eines ehemaligen Militärflughafens eine Praxis für bedürftige Menschen aufmacht. Denn Vichas hatte festgestellt, dass infolge des gnadenlosen Spardiktats der EU-Troika viele Griechen, die länger als 12 Monate ohne Arbeit waren, plötzlich ohne Krankenversicherung dastanden und sich keinen Arztbesuch mehr leisten konnten. Der Arzt nennt die Austeritätsprogramme der EU (von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble maßgeblich befürwortet) reines Gift: »schließlich gebe es keinen besseren Nährboden für chronische Krankheiten als Arbeitslosigkeit und Armut«.

Im Fortgang des Gesprächs entfaltet sich nach und nach das ganze Drama, in dem Griechenland praktisch bis heute steckt. Denn nach der Finanzkrise wurde es nur unwesentlich besser. Und als dann endlich Licht am Ende des Tunnels aufschien, kam Corona. Und heute? »Die Krankheit, die hier am schlimmsten wütet, ist die Hoffnungslosigkeit«, sagt der Kardiologe Vichas. Diese wird plastisch, wenn die Lehrerin Artemis Kliafa von dramatisch gekürzten Gehältern und von Kindern erzählt, »die im Unterricht umkippten wegen Mangelernährung«.

„In den Interviews war Europa oft so weit weg, als gehörte Griechenland gar nicht dazu. Europa sagt … Europa will … Die Europäer denken so und so, wir Griechen hingegen … Dazu kommen immer wieder Zuschreibungen über den Norden Europas und die ach so besonders wohlsortierten Deutschen, die in den Gesprächen mal kümmerlichen Aktenordnern auf zwei Beinen gleichen, mal einer Klasse Hochbegabter, aber immer supersouveräne Organisationsgenies sind.“

Nächster Halt: Belgrad

Auch in Belgrad trifft Rühle Menschen, die die Schwächen der EU benennen. Den Vorwurf, dass sich die EU-Spitze von Autokraten wie Vučić (Serbien), Orbán (Ungarn) oder Kaczyński (Polen) an der Nase rumführen lässt, hört Rühle immer wieder. Wie kann es sein, dass diese Autokraten Brüsseler Gelder einstreichen und gleichzeitig mit aller Kraft die demokratischen Institutionen ihrer Länder so lange schwächen, bis nichts mehr da ist? Warum hält Brüssel nicht die Werte hoch, die in der europäischen Verfassung stehen?

Weiche Nasale, schöne Münder

Aber allen schwierigen EU-Kapiteln zum Trotz reißt Alex Rühle seine Leserinnen immer wieder mit seiner Neugier und Begeisterung mit. Mal sind es phantastische Landschaften, durch die fährt, mal sind es die portugiesischen Nasalklangwunder, die ihn verzücken:

„Portugiesisch klingt, als wäre auf dem metallisch harten, kantigen Latein, das dichte Moos der Zeit gewachsen, das alle Ecken abrundet und den Klang weich abdunkelt. Das -us, -a, -um ist ausgereift zu -usch, -ão, -õe und anderen Diphtong- und Nasalklangwundern, wahrscheinlich haben die deshalb alle so schöne Münder, Männer genauso wie Frauen.“

Da möchte man doch gleich morgen einen Portugiesisch-Kurs machen und dann mit dem Zug nach Lisboa fahren und sich die schönen Münder genau anschauen.

Hat schon lebendigereZeiten gesehen: Bahnhof von Villers-sur-Mer in der Normandie

Hat schon lebendigere Zeiten gesehen: Bahnhof von Villers-sur-Mer in der Normandie

Anfang und Ende von Europa

Hoch im Norden kommt der Interrailer dem Ukrainekrieg sehr nahe. In Narva, dem äußersten Nordosten Estlands, ist Russland nur noch einen Steinwurf entfernt. Kein Wunder, dass die Menschen dort (ebenso wie in Litauen oder Lettland) eine ganz andere Sicht auf Russland haben als wir in Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Die Sowjetunion ist hier noch nicht lange her.

„Die Gegenwart gleicht hier einem viel zu voll gestellten Raum, die Epochen der Vergangenheit ragen wie nicht abgebaute Kulissen in die Jetztzeit.“

Und von wegen an den Rändern Europas. Die Bürgermeisterin von Narva, mit der Rühle in einer Kneipe in Estland sitzt, fährt ihn scharf an, als er von Peripherie spricht: »Von Peripherie zu sprechen, ist schlichtweg dumm. Das hier (…) ist der Anfang und das Ende von Europa. Es ist genauso NATO-Gebiet wie Deutschland.«

Liest man solche Sätze, wird einem klar, dass uns Deutschen mehr Empathie und Neugier, gegenüber allem, was nicht Deutschland ist, ziemlich gut zu Gesicht stünde. Rühle ist empathisch und neugierig und ehrlich: das zeichnet ihn aus. Hier schreibt keine Edelfeder mit Rollkoffer von Louis Vuitton, sondern ein überzeugter Europäer, der sich große Sorgen um diese »größte Erfindung der Politik-Geschichte« macht.

Wer mehr über Europa wissen möchte, liest zuerst das Buch und macht dann Interrail

Wer mehr über Europa wissen möchte, liest zuerst das Buch und macht dann Interrail

Und jetzt?

Frau von der Leyen sollte, wenn ihr Herz wirklich an Europa hängt, dieses Buch gleich morgen in alle 24 Amts- und Arbeitssprachen übersetzen lassen und es allen EU-Bürgerinnen und Bürgern auf den Nachttisch legen, damit alle lesen können, wie schön und wertvoll Europa ist. Nochmal Alex Rühle:

„Auf die Frage, wo es am schönsten war, würde ich sagen: überall. Insofern wäre mein Tipp auch nur: Fahren Sie los. Am besten mitten rein in Ihre eigenen Vorurteile. Und in die weißen Stellen Ihrer inneren Landkarte.“

NK | CK

Buchinformation

Alex Rühle
Europa, wo bist du? Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent
Hardcover mit Lesebändchen, 416 Seiten
dtv Verlag, München, 2022
ISBN: 978-3-423-44126-1

Im WRD 5 hat Alex Rühle vor ein paar Wochen länger über sein Buch gesprochen. Kann man hier nachhören, lohnt sich auch.

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