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„Der Teufel hat keine Zeit“ – Denken entlang der Bruchlinien

Daniel Strassberg will die Bruchlinien zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft hervorheben

Daniel Strassberg will die Bruchlinien zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft hervorheben

Denktraining

„Use it or lose it. So lautet ein bekannter Satz, mit dem uns Sportmediziner besonders gern im Frühjahr ermahnen, alle Muskelgruppen unseres Körpers regelmäßig zu trainieren. Denn, ein Muskel, der nicht trainiert wird, verkümmert. Wie schnell Muskelmasse und Beweglichkeit abnehmen, merken wir alle, wenn wir uns mal ein paar Wochen nicht bewegen können.

Fälschlicherweise wird das menschliche Gehirn immer mal wieder als Muskel bezeichnet, den es zu trainieren gelte. Das menschliche Gehirn ist jedoch kein Muskel, sondern ein Organ, und zwar das komplizierteste, das die Natur hervorgebracht hat, mit über 100 Milliarden Nervenzellen und einem Vielfachen davon an Kontaktpunkten. So steht es auf der Homepage der Max-Planck-Gesellschaft. Da steht auch, dass kein Supercomputer an die Fähigkeiten unseres Gehirns heranreicht. Aber: auch unser Gehirn sollte regelmäßig trainiert und angeregt werden. Denn dieses unglaubliche Wunderorgan ist lebenslang lernfähig. Aber keine Sorge, wir empfehlen heute keine Übungen aus der Bäckerblume zum Gehirnjogging, sondern ein Buch mit 41 denkanregenden Texten.

„Der Teufel hat keine Zeit“

So heißt das neue Buch des Psychoanalytikers und promovierten Philosophielehrers Daniel Strassberg. Seit 2018 erfreut der 1954 in St. Gallen geborene Schweizer die Leserinnen und Leser des Online-Magazins Republik mit seinen inspirierenden Kolumnen. Strassberg ist ein Philosoph, der uns auffordert, selbst zu denken. 41 dieser klugen Glanzstücke hat nun der Züricher Rotpunktverlag in einem handlichen Buch gesammelt.

Gleich zu Beginn macht Strassberg klar, was ihm missfällt:

„Die Überzeugung, dass der Mensch, so wie er ist, nicht gut genug sei, ist fester Bestandteil der europäischen Geistesgeschichte.“

Ein Elend nennt der Philosoph diese Haltung und die damit verbundenen Versuche, die Menschen zu verbessern. Das hat, so Strassberg bei den antiken Philosophen angefangen und zeigt sich heute in zig Regalmetern Ratgeberliteratur in den Buchhandlungen.

Bruchlinien

Als eine der Hauptschwierigkeiten unserer Gegenwart macht Strassberg die schwierige, ja vielleicht sogar unmögliche Harmonisierung unserer individuellen Bedürfnisse mit der gesellschaftlichen Ordnung aus. Warum ist das so? Weil die menschliche Psyche träger ist als die Gesellschaft, in der sie lebt. Wir hinken immer hinterher, weil sich gesellschaftliche Veränderungen, „angetrieben durch den technischen Fortschritt“ in einem Affenzahn vollziehen. Dadurch gibt es ständig Bruchlinien zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Exakt um diese Bruchlinien geht es in diesem Buch. Aber der Autor will sie nicht wegretuschieren, sondern sie genau anschauen, „um so das komplexe Wechselspiel von gesellschaftlichem Wandel und veränderten Formen der Subjektivität auszuloten.“ Wie heißt es schon bei Leonard Cohen: „There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in.“

Diesem selbstkritischen, streitbaren und mit Humor gesegnten Philosophen beim Denken zuzuschauen, macht Laune, auch weil er seine Leser zwingt, eigene Schwarzweiß-Positionen zu überdenken und dabei graue Zwischentöne zu entdecken.

Strassberg nimmt sich unterschiedliche Themen vor, die uns im Alltag immer wieder begegnen. Eine Auswahl: Klimakrise, Ukrainekrieg, Besserwisserei, Postfaschismus, Querdenker, Identitätspolitik, Migration, Sprache, Bürokratie, Rassismus, Bodyshaming, Populismus, Ökonomie, Kolonialismus.

Daniel Strassberg: „Der Teufel hat keine Zeit – Philosophisch-politische Betrachtungen“„Manchmal ist es so, manchmal anders“

Das Schöne an den maximal sechs Seiten langen, klugen Texten ist, dass sie nicht belehren oder bekehren wollen. Sie sind vielmehr ein vielstimmiges „Plädoyer für eine mittlere Distanz zu den Problemen“. Der Philosoph, der als Psychoanalytiker seit Jahrzehnten mit Menschen arbeitet, empfiehlt uns, offen zu sein für die „Verschlingungen und Unebenheiten, Widersprüche und Unsicherheiten“. Er gibt offen zu, dass ihm das auch nicht immer leicht fällt, aber der Preis für das Beharren auf der vermeintlichen Eindeutigkeit ist ihm schlicht zu hoch.

„Ich kann Ihnen nur empfehlen, es einmal zu versuchen. Verzichten Sie auf allgemeine Behauptungen, und antworten Sie auf die Behauptungen der anderen mit: Manchmal ist es so, manchmal anders; es kommt darauf an.“

Fazit: Dieses Buch ist eine anregende Frühjahrskur fürs Hirn!

NK | CK

Buchinformation

Daniel Strassberg
Der Teufel hat keine Zeit. Philosophisch-politische Betrachtungen
256 Seiten, gebunden, erschienen 2022
ISBN 978-3-85869-960-2
Rotpunkt Verlag, Zürich

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Angeln, fischen, phishing

Auch Wassertemperaturen um die 5 Grad schrecken passionierte Angler im Neckar nicht

Auch Wassertemperaturen um die 5 Grad schrecken passionierte Angler im Neckar nicht

Fischen

Bewundernswert
die Gelassenheit des Anglers
im Schneegestöber

Dieses Haiku ist eine Variante auf ein Haiku von Yosa Buson (1716 – 1783).

Beunruhigend:
Die Verbissenheit des Anglers
bei diesem Winterregen

Tsuribito no
jô no kowasa yo
yûshigure

Die Übersetzung stammt von G. S. Dombrady und findet sich in dem Buch „Buson – Dichterlandschaften“, das 1992 in der Dieterichschen Verlagsbuchhandlung in Mainz erschienen ist.

Phishing

Neulich wäre es mir fast passiert: um ein Haar hätte ich auf eine täuschend echte Mail unserer Bank reagiert. Phishing heißt diese Betrugsmasche, die wir alle kennen (sollten). Das Wort ist ein Neologismus aus dem Englischen, abgeleitet von fishing, englisch für Angeln. Ziel der kriminellen Betrüger ist es, sich über gefälschte E-Mails, Webseiten oder Kurznachrichten (WhatsApp, SMS usw.) Zugang zu unserem Computer, Tablet oder Smartphone zu verschaffen, um dort Daten auszuspionieren oder Schadsoftware zu platzieren. Aktuell sind wieder sehr viele Phishing-Aktionen im Gange. Man kann gar nicht genug warnen.

Die Verbraucherzentrale hat extra einen Phishing-Radar mit aktuellen Warnhinweisen eingerichtet, wo man sich über die neuesten Phishing-Aktionen informieren kann und auch eigene Phishing-Mails, die man bekommen hat, hinschicken kann. Dazu gibt es weitere Informationen für Verbraucher. Informationen zu diesem Thema findet man auch auf der Homepage des SWR-Fernsehens.

Wenn man übrigens auf der Webseite des BKA den Suchbegriff „Phishing“ eingibt, ist das erste Ergebnis aus dem Jahr 2020 und das zweite aus dem Jahr 2018. So viel zum Thema Digitalisierung in Deutschland. Aber das nur am Rande.

NK | CK

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Erfüllt vom Nichts

Manchmal reicht einem ja auch die ungefähre Welt im Nichts des Nebels

Manchmal reicht einem ja auch die ungefähre Welt im Nichts des Nebels

Ich bin noch heute
erfüllt vom Geschauten
im Nichts des Nebels.

Ein Haiku von Georges Hartmann, dem wir heute ganz herzlich zum Geburtstag gratulieren. Möge dieser leise Haiku-Künstler aus dem Westerwald uns noch häufig mit seinen feinen Haiku erfreuen.

NK | CK

Buchinformation

Georges Hartmann
nahtlos: 48 Haiku mit Jahrenszeitenbezug
16 Seiten

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Freitagsfoto: Entdeckungsreisen daheim

Fotografieren ist eine besondere Schule des Sehens

Fotografieren ist eine besondere Schule des Sehens

Das Kameraauge

„Die besten Entdeckungsreisen macht man nicht in fremden Ländern, sondern indem man die Welt mit neuen Augen betrachtet.“

Hat Marcel Proust so oder so ähnlich gesagt, und der Mann ist wirklich nicht allzu weit rumgekommen. Sehr viel Zeit seines Lebens hat Proust nämlich in seinem abgedunkelten und schallisolierten Schlafzimmer verbracht: erinnernd, lesend und natürlich schreibend. Fast ausschließlich im Bett soll er sein monumentales Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ geschrieben haben, dazu tausende von Briefen und Notizen. Unfassbar, nicht wahr? Unsereins ist an vielen Tagen ja schon froh, wenn wir abends im Bett lesend nicht nach zehn Minuten einnicken.

Fotografieren lehrt einen, die Welt mit neuen Augen zu sehen, ganz im Sinne des Zitats von Proust. Und vielleicht ist es mit der Kamera so wie mit den Stäbchen beim Essen. Man richtet die Aufmerksamkeit voll und ganz auf das Objekt, das man fotografieren oder eben essen möchte. Das mit den Stäbchen hat Roland Barthes in seinem Buch „Reich der Zeichen“ viel ausführlicher analysiert und beschrieben.

Natürlich besteht die Gefahr, dass man nur noch auf der Suche nach Fotomotiven durch die Welt spaziert. Aber wenn man mit der Kamera unterwegs ist, und sei es zum hundersten Mal in der eigenen Stadt, entdeckt man halt immer wieder Dinge, die einem sonst vielleicht nicht aufgefallen wären. Zum Beispiel diese schöne Harley Davidson in der Tübinger Münzgasse, die dort nicht erst seit gestern so geparkt wird, dass sie leicht in die Gasse reinragt. Bis vor Kurzem ist uns das nicht aufgefallen, und ja, wir laufen oft durch die alten Gassen.

Hat’s jetzt sogar auf eine Postkarte geschafft, die Harley aus der Münzgasse

Hat’s jetzt sogar auf eine Postkarte geschafft, die Harley aus der Münzgasse

Proust selbst hat sich übrigens sehr für die zu seiner Zeit immer populärer werdende Fotografie interessiert. Der berühmte Fotograf Brassaï hat zu diesem Thema einen Essay geschrieben: „Proust und die Liebe zur Photographie“ (Suhrkamp, 2001). Das Buch steht bei uns im Regal – noch ungelesen.

So viel für heute, haltet die Augen auf.

NK | CK

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Freitagsfoto: Bleicher Mond

Manchmal scheint er zum Greifen nah und ist doch 384.400 km von der Erde entfernt: der Mond

Manchmal scheint er zum Greifen nah und ist doch 384.400 km von der Erde entfernt: der Mond

Durch kahle Äste
scheint der bleiche Mond
auf Schneeglöckchen

Kranō | Kō, 11.2.2023

Seit einigen Tagen schon sind die Schneeglöckchen draußen und wetteifern mit Krokussen und Winterlingen um unsere Aufmerksamkeit – auch bei Nacht, wie dieses Haiku zeigt. Der nächste Vollmond ist übrigens am 7. März 2023.

Schönes Wochenende!

NK | CK

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Europa – wo bist du? Alex Rühle macht Interrail

Das Schienennetz der EU ist rund 230.000 km lang; hier der Bahnhof Tübingen

Das Schienennetz der EU ist rund 230.000 km lang; hier Gleise am Bahnhof Tübingen

24. Juni 1977

„Mitten in der Nacht wurden wir an der jugoslawischen Grenze von Zöllnern gefilzt. Der Zug hatte deswegen fast drei Stunden Aufenthalt. Zuerst waren die Zöllner ruppig, aber dann doch ziemlich nett zu uns.“

So beginnt der zweite Tag meines Interrail-Tagebuchs aus dem Jahr 1977. Ich war noch keine 16 und mit meinem Freund S. und zwei anderen Mitschülern auf dem Weg vom Fuß der Schwäbischen Alb nach Athen – nonstop versteht sich. Denn Interrail hieß für uns: in vier Wochen möglichst viel sehen, möglichst viele Länderstempel holen, möglichst viele Eisenbahnkilometer zurücklegen. An diese ziemlich verrückte und anstrengende Reise musste ich denken, als ich das neue Buch von Alex Rühle gelesen habe.

„Europa – wo bist du?“

So nennt der SZ-Journalist und Autor Alex Rühle sein Interrail-Europa-Buch, das den Untertitel „Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent“ trägt. Rühle hat 20.000 Kilometer zurückgelegt und viele Menschen getroffen, immer auf der Suche nach dem, was Europa ausmacht. Vom 10. März 2022 bis zum 21. Juni 2023 war er unterwegs, und es hat sich gelohnt. Wer mehr über Europa, seine Bewohner:innen, seine Stärken und seine gewaltigen Probleme wissen möchte, wird dieses Buch mit Gewinn lesen.

„Der Text wird ein Krisentagebuch, Essay, Reisemitschrift in einem, es geht durch weite Landschaften und fremde Sprachen, großartige Städte und kleine Cafés, gastfreundliche Wohnzimmer und durch sehr viel Geschichte.“

Allem Anfang wohnt eine Krise inne

Wer Zug fahren will, muss auch warten können: Bahnhof Saint-Jean-du-Gard im Süden Frankreichs

Zug fahren heißt auch warten: Saint-Jean-du-Gard, Frankreich

Los geht es in Athen, wo Rühle (Jahrgang 1969) am 10. März 2022, wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, feststellt: allem Anfang wohnt eine Krise inne. In Berlin ruft Bundeskanzler Scholz die »Zeitenwende« aus, im verschneiten Athen friert der Reporter in leichter Lederjacke und Turnschuhen. Warum Athen? Es ist die Stadt, in der Perikles einst die Demokratie beschrieb als die Staatsform, in der »die staatlichen Angelegenheiten nicht das Vorrecht einiger, sondern das Recht vieler sind«.

Schon dieses erste Kapitel, das uns noch einmal die Finanzkrise 2010/2011 und deren dramatische Folgen für Griechenland vor Augen führt, zeigt die Stärke dieses Buchs. Vom Kleinen ins Große, vom Großen ins Kleine, immer faktenfundiert und dicht an den Menschen dran.

Morbus Hoffnungslosigkeit

Rühle trifft in Athen den Kardiologen Giorgio Vichas, der im Herbst 2011 auf dem Gelände eines ehemaligen Militärflughafens eine Praxis für bedürftige Menschen aufmacht. Denn Vichas hatte festgestellt, dass infolge des gnadenlosen Spardiktats der EU-Troika viele Griechen, die länger als 12 Monate ohne Arbeit waren, plötzlich ohne Krankenversicherung dastanden und sich keinen Arztbesuch mehr leisten konnten. Der Arzt nennt die Austeritätsprogramme der EU (von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble maßgeblich befürwortet) reines Gift: »schließlich gebe es keinen besseren Nährboden für chronische Krankheiten als Arbeitslosigkeit und Armut«.

Im Fortgang des Gesprächs entfaltet sich nach und nach das ganze Drama, in dem Griechenland praktisch bis heute steckt. Denn nach der Finanzkrise wurde es nur unwesentlich besser. Und als dann endlich Licht am Ende des Tunnels aufschien, kam Corona. Und heute? »Die Krankheit, die hier am schlimmsten wütet, ist die Hoffnungslosigkeit«, sagt der Kardiologe Vichas. Diese wird plastisch, wenn die Lehrerin Artemis Kliafa von dramatisch gekürzten Gehältern und von Kindern erzählt, »die im Unterricht umkippten wegen Mangelernährung«.

„In den Interviews war Europa oft so weit weg, als gehörte Griechenland gar nicht dazu. Europa sagt … Europa will … Die Europäer denken so und so, wir Griechen hingegen … Dazu kommen immer wieder Zuschreibungen über den Norden Europas und die ach so besonders wohlsortierten Deutschen, die in den Gesprächen mal kümmerlichen Aktenordnern auf zwei Beinen gleichen, mal einer Klasse Hochbegabter, aber immer supersouveräne Organisationsgenies sind.“

Nächster Halt: Belgrad

Auch in Belgrad trifft Rühle Menschen, die die Schwächen der EU benennen. Den Vorwurf, dass sich die EU-Spitze von Autokraten wie Vučić (Serbien), Orbán (Ungarn) oder Kaczyński (Polen) an der Nase rumführen lässt, hört Rühle immer wieder. Wie kann es sein, dass diese Autokraten Brüsseler Gelder einstreichen und gleichzeitig mit aller Kraft die demokratischen Institutionen ihrer Länder so lange schwächen, bis nichts mehr da ist? Warum hält Brüssel nicht die Werte hoch, die in der europäischen Verfassung stehen?

Weiche Nasale, schöne Münder

Aber allen schwierigen EU-Kapiteln zum Trotz reißt Alex Rühle seine Leserinnen immer wieder mit seiner Neugier und Begeisterung mit. Mal sind es phantastische Landschaften, durch die fährt, mal sind es die portugiesischen Nasalklangwunder, die ihn verzücken:

„Portugiesisch klingt, als wäre auf dem metallisch harten, kantigen Latein, das dichte Moos der Zeit gewachsen, das alle Ecken abrundet und den Klang weich abdunkelt. Das -us, -a, -um ist ausgereift zu -usch, -ão, -õe und anderen Diphtong- und Nasalklangwundern, wahrscheinlich haben die deshalb alle so schöne Münder, Männer genauso wie Frauen.“

Da möchte man doch gleich morgen einen Portugiesisch-Kurs machen und dann mit dem Zug nach Lisboa fahren und sich die schönen Münder genau anschauen.

Hat schon lebendigereZeiten gesehen: Bahnhof von Villers-sur-Mer in der Normandie

Hat schon lebendigere Zeiten gesehen: Bahnhof von Villers-sur-Mer in der Normandie

Anfang und Ende von Europa

Hoch im Norden kommt der Interrailer dem Ukrainekrieg sehr nahe. In Narva, dem äußersten Nordosten Estlands, ist Russland nur noch einen Steinwurf entfernt. Kein Wunder, dass die Menschen dort (ebenso wie in Litauen oder Lettland) eine ganz andere Sicht auf Russland haben als wir in Deutschland in den letzten Jahrzehnten. Die Sowjetunion ist hier noch nicht lange her.

„Die Gegenwart gleicht hier einem viel zu voll gestellten Raum, die Epochen der Vergangenheit ragen wie nicht abgebaute Kulissen in die Jetztzeit.“

Und von wegen an den Rändern Europas. Die Bürgermeisterin von Narva, mit der Rühle in einer Kneipe in Estland sitzt, fährt ihn scharf an, als er von Peripherie spricht: »Von Peripherie zu sprechen, ist schlichtweg dumm. Das hier (…) ist der Anfang und das Ende von Europa. Es ist genauso NATO-Gebiet wie Deutschland.«

Liest man solche Sätze, wird einem klar, dass uns Deutschen mehr Empathie und Neugier, gegenüber allem, was nicht Deutschland ist, ziemlich gut zu Gesicht stünde. Rühle ist empathisch und neugierig und ehrlich: das zeichnet ihn aus. Hier schreibt keine Edelfeder mit Rollkoffer von Louis Vuitton, sondern ein überzeugter Europäer, der sich große Sorgen um diese »größte Erfindung der Politik-Geschichte« macht.

Wer mehr über Europa wissen möchte, liest zuerst das Buch und macht dann Interrail

Wer mehr über Europa wissen möchte, liest zuerst das Buch und macht dann Interrail

Und jetzt?

Frau von der Leyen sollte, wenn ihr Herz wirklich an Europa hängt, dieses Buch gleich morgen in alle 24 Amts- und Arbeitssprachen übersetzen lassen und es allen EU-Bürgerinnen und Bürgern auf den Nachttisch legen, damit alle lesen können, wie schön und wertvoll Europa ist. Nochmal Alex Rühle:

„Auf die Frage, wo es am schönsten war, würde ich sagen: überall. Insofern wäre mein Tipp auch nur: Fahren Sie los. Am besten mitten rein in Ihre eigenen Vorurteile. Und in die weißen Stellen Ihrer inneren Landkarte.“

NK | CK

Buchinformation

Alex Rühle
Europa, wo bist du? Unterwegs in einem aufgewühlten Kontinent
Hardcover mit Lesebändchen, 416 Seiten
dtv Verlag, München, 2022
ISBN: 978-3-423-44126-1

Im WRD 5 hat Alex Rühle vor ein paar Wochen länger über sein Buch gesprochen. Kann man hier nachhören, lohnt sich auch.

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Ukraine: Krieg im Leben – Dokumentarfilm

Leben im Krieg: Bewegende Doku

Während im warmen Deutschland mal wieder Briefeschreiber:innen für Verhandlungen statt Panzer appellieren (wissend oder auch nicht, dass Putin keine Verhandlungen sondern die Vernichtung der Ukraine anstrebt), hat die ARD letzten Montag einen exzellent gemachten, bewegenden Dokumentarfilm des Reporters Vassili Golod gezeigt. Es lohnt sich sehr, diesen Film anzuschauen!

Vassili Golod wurde 1993 in Charkiw in der Ukraine geboren, seine Mutter ist Russin (aus Nischni Tagil, Ural), der Vater Ukrainer. Golod ist ein hervorragender und empathischer Journalist. Wer mehr über Golod und seine Arbeit hören möchte, dem empfehlen wir den Podcast von Jagoda Marinić, die sich Anfang November 2022 mit Golod über seine Herkunft, sein Leben und seine Arbeit unterhalten hat, hier der Link.

Keller des Grauens

Warum das Wort „Keller“ in den besetzten Gebieten der Ostukraine die Menschen mit Angst und Schrecken erfüllt, erzählt der ukrainische Journalist Stanislav Aseeyev. Er wurde mehr als zwei Jahre gefangen gehalten und misshandelt. Er sagt „Was damals der Gulag war, sind heute die Keller“. Das erschütternde Interview lief im Deutschlandfunk, man kann es hier nachhören.

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Hölderlin, who?

Im Hölderlinturm in Tübingen am Neckar lebte Hölderlin von 1807 bis zu seinem Tod 1843

Im Hölderlinturm in Tübingen am Neckar lebte Hölderlin von 1807 bis zu seinem Tod 1843

Neulich auf der Platanenallee

Touristen am Turm
Hölderlin, who?
Oh, how nice!

Die Tübinger Platanenallee befindet sich auf einer künstlich angelegten Neckarinsel gegenüber der viel fotografierten Neckarfront mit Neckarmauer und Hölderlinturm. Die schöne Allee endet am umstrittenen Silcherdenkmal, einem ziemlich klotzigen, hässlichen Relikt aus der Nazizeit. Aber darum soll’s heute nicht gehen.

Tatsache ist, dass man von der Platanenallee einen sehr schönen Blick auf die Tübinger Altstadt und den Hölderlinturm hat. Ein Grund, warum viele Tübingerinnen und Besucher die Neckarfront samt Hölderlinturm nicht nur von der Neckarbrücke aus, sonden auch von der Allee aus fotografieren. Dabei erleben wir auf unseren Fotospaziergängen immer mal wieder, dass die Menschen gar nicht wissen, was es mit diesem schönen, gelben Turm da auf sich hat. Erst vor ein paar Wochen hatten wir wieder so eine Begegnung am frühen Sonntagmorgen mit netten amerikanischen Gästen, die sich über unsere Erklärungen zu Turm und Dichter sehr gefreut haben. So ist auch das Haiku da oben entstanden.

Wäre es nicht eine schöne Idee, auf der Platanenallee gegenüber dem Turm eine Tafel mit ein paar erhellenden Zeilen auf Englisch, Französisch und Deutsch aufzustellen? Dazu das bekannte Gedicht „Hälfte des Lebens“ in diesen drei Sprachen und die Internetadresse vom Hölderlinturm? Es ist doch schade, wenn die Besucher abreisen, ohne zu wissen, wer im Turm gelebt hat und ohne diesen besucht zu haben.

NK | CK

Schöne Postkarte Nr. 100 · Hölderlinturm mit Stocherkähnen in Tübingen am Neckar | © Schöne Postkarten

Schöne Postkarte Nr. 100 · Hölderlinturm in Tübingen am Neckar | © Schöne Postkarten

PS: Noch mehr Ansichten vom Hölderlinturm und von Tübingens schönen Seiten gibt’s übrigens auf unserer Homepage von Schöne Postkarten.

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Vater als prägender Mensch

Schuhe bieten nicht nur Füßen Schutz, sondern sind auch Träger von Erinnerungen

Schuhe bieten nicht nur Füßen Schutz, sondern sind auch Träger von Erinnerungen

Es sind die eigenen Eltern, die uns in der Regel am meisten prägen. Das ist so, auch wenn wir das Gefühl haben, gar nicht so viel über den Vater oder die Mutter zu wissen. Ein Gefühl, das sich bei vielen von uns mit zunehmendem Alter verstärkt. Aber in der Zeit, in der wir die Eltern befragen könnten, sind wir häufig nicht interessiert genug. Wir wollen uns von ihnen abgrenzen und suchen andere Einflüsse. Erst die großen Zäsuren im Leben – Heirat, Geburt der eigenen Kinder, Tod eines Elternteils – lassen uns neu über diese Prägungen nachdenken.

So ging es auch Andreas Schäfer, der ein paar Jahre nach dem Tod seines Vaters zu schreiben beginnt,

„um etwas festzuhalten, zu retten, nein, ans Licht zu bringen, noch weiß ich nicht, was und wie genau. Will ich dem Vater also Anerkennung verschaffen – auch vor mir selbst?“

Ein letztes Treffen

Weil der Autor so wenig über seinen Vater zu wissen meint und dieser Unsicherheit Rechnung tragen möchte, gliedert er seine Erzählung „Die Schuhe meines Vaters“, (2022 bei DuMont erschienen), in drei Teile. Im ersten Teil besucht der bereits schwer erkrankte Vater seinen erwachsenen Sohn in Berlin mit noch unklarer Diagnose:

„Wir umarmten uns, ein eingespieltes festes Umfassen des kompakten, eher harten Körpers, in dem sich das Bedürfnis nach Nähe und die Scheu vor ihr die Waage hielten.“

Diesem Besuch kommt im Nachhinein große Bedeutung zu, da es die letzte Begegnung sein wird. Als durchaus sympathischen, dem Leben zugewandten Opa lernen wir den Vater kennen. Und sind von der schlagartigen Abfolge der Ereignisse ebenso getroffen wie der Sohn selbst: der Anruf aus der Frankfurter Klinik, der Schockzustand, die grundsätzlichen Fragen über Leben und Tod, das allmähliche Begreifen des Verlustes, der Schmerz, die Trauer. Nach und nach erfahren wir mehr über das zurückliegende Familienleben – aus Sicht des Sohnes geschildert. Der Ich-Erzähler geht dabei reflektierend und sehr vorsichtig vor. Es ist eine behutsame Annäherung, ein Herantasten an das, was so schwierig zu beschreiben ist, weil es uns selbst so verletzbar macht:

Wie lässt sich von der Scham erzählen?

Abstrakt versucht der Erzähler, sich dem schmerzhaften Gefühl der Scham zu nähern:

„Sie blüht in zahllosen Farben und Formen. Jemand fällt aus der Sicherheit heraus und findet nur unvollständig wieder in sie zurück.

Dem Wissen, dass der Vater leicht zu kränken ist, gesellte sich bald die Erfahrung hinzu, dass Situationen in Anwesenheit des Vaters von einem auf den anderen Moment kippen konnten.“

In einer ersten grandios beschiebenen Schlüsselszene, in der der Sohn dem Vater seine damalige Freundin vorstellt, erleben wir die Willkür, die kaschierte Unsicherheit und verbale Gewalt des Vaters – und auf der anderen Seite das Unbehagen, die Anspannung, die Scham- und Schuldgefühle des Sohnes, unter denen er über den Tod des Vaters hinaus leidet.

„Ich hatte ein eigenes Leben. Aber was spielt das für eine Rolle? Tiefe Ängste kennen keine Zeit.“

Ebenso überzeugend beschrieben ist die zweite, gegensätzlich verlaufende Schlüsselszene, die in einem gemeinsam erlebten Moment der Gelösheit auch eine gewisse Erlösung in sich birgt. Das Durchleben und schriftliche Niederschreiben erleichtern den Schritt, mit dem Abstellen der Beatmungsmaschine den Vater gehen zu lassen. So endet der erste Teil, und die Erzählung hätte als solche hier auch enden können.

Die Schuhe meines Vaters

Im zweiten Teil versucht der Sohn-Erzähler, über die Dinge des Vaters mehr über diesen in Erfahrung zu bringen. Denn eigentlich hat er das Gefühl:

„Ich weiß nichts von ihm, und das wird immer so bleiben.“

Wie ist der Vater möglicherweise zu dem Menschen geworden, den der Sohn erlebt hat? Wie wuchs ein Kind auf, das Ende 1936 in eine Berliner Fleischersfamilie hineingeboren wurde?

„Ein Kind erblickt das Licht der Welt, schreit, atmet, lernt laufen, sprechen, denken, urteilen in dieser Luft, in dieser Familie, in dieser nationalsozialistischen Berliner Wirklichkeit.“

Die Großeltern bleiben blass, notgedrungen, da der Vater fast nichts von ihnen erzählt hat, ein Verhalten, das für diese Generation des Vaters nicht untypisch sein dürfte. Die vom Krieg als (Klein-)Kinder Geprägten hat man mit ihren Erlebnissen nicht selten allein gelassen. Und so erfahren wir auch von den Traumata des Vaters als Kleinkind, die gewissermaßen als Erklärung dienen können, aber vom Autor nicht dramaturgisch inszeniert werden. Der Sohn will verstehen und zeichnet deshalb auf, wie es geschehen sein könnte. Die Unterscheidung zwischen Fiktion und dem Wenigen, was er den Dingen als „tatsächlich geschehen“ entnehmen kann, ist ihm dabei wichtig.

Der Sohn verurteilt nicht, weder die Großeltern noch den Vater oder die Trennung der Eltern. Er findet Erklärungen für die Schwächen seines Vaters, stellt dann aber an sich fest, dass diese ihn nicht erlösen:

„Mein Verständnis hatte einen hohen Preis. Ich sah sein Leiden und konnte ihm zugleich seine Ungerechtigkeit nicht verzeihen. Ich verlor die Achtung vor ihm. Ein tiefer Groll begann von mir Besitz zu nehmen.“

Den Wegen nachspüren

Denn Verstehen bedeutet (noch) nicht Verzeihen. Deshalb hat der Autor wohl noch einen dritten Teil angehängt, in dem er den Wegen des Vaters nachspürt, paradoxerweise in Griechenland, der Heimat der Mutter, deren Sprache der Vater nie erlernen wollte.

Der Sohn beschäftigt sich noch immer mit denselben Fragen, und doch erleben wir den Erzähler gereift. Denn er kann die ambivalenten Gefühle nun stehen lassen, kann sogar manch Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Vater benennen:

„Natürlich war ich wie er.“

Die Schuhe meines Vaters ist eine auf sprachlich hohem Niveau, sehr sensible und überzeugende Aufarbeitung einer Vater-Sohn-Beziehung, von der wir sehr angetan waren! Ein großes Dankeschön an dieser Stelle an unseren Tierarzt Dr. Roth, dem wir diesen schönen Buchtipp verdanken!

CK I NK

Buchinformation

Andreas Schäfer
Die Schuhe meines Vaters
Dumont Verlag, 2022
ISBN 978-3-8321-8258-8

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