Eine Sommerentdeckung
Wie lange bewahrt ihr Zeitungsausschnitte auf? Eine Woche, einen Monat, ein Jahr oder auch mal 17 Jahre? Mir ist nämlich neulich so ein alter FAZ-Ausschnitt beim Aufräumen in die Hände gefallen, und das Aufmacherfoto hat mich neugierig gemacht. Zu sehen ist der Schrifsteller Peter Kurzeck, von dem ich noch nichts gelesen oder gehört hatte. Das sollte sich schnell ändern!
Der FAZ-Rezensent Andreas Platthaus bespricht in seinem Artikel ein Hörbuch des am 25. November 2013 in Frankfurt verstorbenen Autors Peter Kurzeck. In diesem Hörbuch, das von Kurzeck im Tonstudio live ohne (!) Manuskriptvorlage eingesprochen wurde, erzählt dieser ebenso begnadete wie akribische Autor seine Kindheit und Jugend im hessischen Dorf Staufenberg im Kreis Gießen. Geboren wurde Kurzeck am 10. Juni 1943 in Tauchau im damaligen Sudetenland. 1946 wurde die Mutter mit den beiden Kindern vertrieben, der Vater war zu diesem Zeitpunkt noch in Kriegsgefangenschaft.
»Ein Sommer, der bleibt«
So heißt das Hörbuch, das 2007 im mehrfach auszgezeichneten Supposé-Verlag erschienen ist, und es zieht einen von der ersten Minute an in den Bann. Man lauscht wie hypnotisiert. Kurzeck erzählt, wie gesagt, frei ohne Textvorlage:
„Das Dorf meiner Kindheit ist Staufenberg im Kreis Gießen. Als wir dort hinkamen, war das ein sehr kleiner Ort, den man nur über Feldwege und über eine Schotterstraße, eine eigentlich mürrische Schotterstraße, erreichen konnte. Es war einerseits winzig klein, aber es war auch sehr schön, es war ein Ort, in dem man nicht nur jeden Menschen und jede Kuh und jede Ziege und die Hunde sowieso und die Katzen, wo man alles kannte, man wusste, welche Hühner jeder hat.“
Wir hören also nicht einfach ein Buch, das der Autor liest, und das es exakt so, mit diesem Text in der Buchhandlung gibt. Weit gefehlt. Es ist eigentlich, wie wenn der Erzähler direkt neben uns am Küchentisch sitzen würde. Und wie wir Kurzeck zuhören, wie er seine Erinnerungsgegengstände genau, aber nie angestrengt umkreist, entsteht vor unseren Augen die ganze, längst versunkene Nachkriegswelt in dem kleinen hessischen Dorf Staufenberg in der Nähe der Lahn. Dabei wird kaum ein Detail ausgelassen. Und nichts, überhaupts nichts wirkt an Kurzecks Erzählstrom, der immerhin 290 Minuten dauert, gekünstelt oder inszeniert. Es ist schlicht faszinierend. Platthaus wagt in der FAZ sogar ganz vorsichtig den Vergleich mit Proust und Joyce.
„Man gewöhnt sich bei einer Flucht, einer Umsiedlung, an, allem genau nachzugehen, weil es sein kann, dass man es nie wieder sieht.“
Hörbuchwunder
Kurzeck spricht diesen Satz ziemlich am Anfang dieses Hörbuch-Wunders und Andreas Platthaus sieht darin die gesamte „Poetik“ Peter Kurzecks: „das Werk wird kenntlich als Reaktion auf den Verlust der Heimat, den er als Dreijähriger erlitten hat. So eignete sich der kleine Junge dann das nördlich von Gießen gelegene Dorf Staufenberg an: als eine ideelle Heimat, denn an eine gegenständliche wollte sich der Knabe nie wieder klammern.“
Wenn man sich in diesem melancholisch grundierten Erzählstrom von Peter Kurzeck eine Weile treiben lässt, möchte man am liebsten nicht mehr auftauchen. Und es wird einem als Hörerin oder Hörer schmerzlich klar, wie viele Dinge aus Peter Kurzecks Welt schon längst und für immer untergangen sind. Und man beginnt zu erkennen, wie hektisch, ja wie beiläufig und banal unser digitalisiertes, auf maximale Effizienz getrimmtes Leben mittlerweile ist.
Welch ein Segen, dass es einen Autor wie Peter Kurzeck zu entdecken, zu hören, zu lesen, zu würdigen gibt!
NK | CK
Informationen zu Peter Kurzeck
Die Hörbücher von Peter Kurzeck erscheinen im Supposé Verlag, Wyk, Föhr
Einer von vielen Nachrufen auf Peter Kurzeck in der Zeit
Ein hörenswertes Gespräch im BR-Radio mit Peter Kurzeck
Peter Kurzeck im HR2-Radio über sein Schreiben
Peter Kurzeck ist auch auf Spotify zu hören
Peter Kurzeck über seine Holzpferde. Leseprobe:
Ich lausche der Stimme von Peter Kurzeck auf YouTube und der Schilderung von den auf der Fensterbank postierten Holzpferden … Prompt sitze ich in der Erinnerung eingefangen, als ich als Dreijähriger auf ein riesiges Pferd gesetzt wurde, das auf dem Bauernhof der Eltern meines Vaters ein schweres Gerät über einen Acker ziehen musste. Was für eine Kraft das wohl haben muss, war möglicherweise ein erster, staunender Gedankengang, bis mich dann der Bruder (oder der Vater??) meines Vaters in die Höhe hob und auf den breiten Rücken des „Riesen“ hob und ich offenbar derart begeistert gewesen war, dass ich meine Eltern darum anbettelte, den Hector mit auf die Rückreise nachhause mitzunehmen. Als winziger Knirps hat man sicherlich Beweggründe, die man Erwachsenen nicht wirklich klar machen kann. Das Pferd hatte mich ohne einen Mucks von sich zu geben sozusagen auf seinem Rücken „ertragen“ und möglicherweise sogar als seinen Freund, vielleicht sogar seinen einzigen Freund akzeptiert …
In der Welt eines Dreijährigen gibt es möglicherweise keine Hürden, die man nicht mit Bravour nehmen könnte, wenn man es denn selbst zu entscheiden hätte. Kurzeck ist also mit drei Pferden aus Holz ins Gespräch gekommen, wenn ich richtig zugehört habe, womit ich im Nachhinein feststelle, etwas unbedingt haben zu wollen, keine sonderliche Lösung ist, sondern das Zuhören und Nachdenken einen größeren Raum geben sollte, was vielleicht erst mit zunehmendem Alter und der nötigen Reife zur Leitlinie für das eigene Leben wird. Ich werde diesbezüglich wohl einmal über mein eigenes Leben nachdenken müssen, um herauszufinden, an welchen Kreuzungen ich warum zu oft falsch falsch abgebogen sein könnte ….
Auf dem Dachboden
betrügt man das Schaukelpferd
ums Kinderlachen