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Wir alle brauchen Erbarmen

„Wir alle können hilflos werden und brauchen Erbarmen.“ Helga Schubert

„Wir alle können hilflos werden und brauchen Erbarmen.“ Helga Schubert

Welt ohne Menschlichkeit

Von Elno Murks (ihr wisst, wen ich meine) habe ich dieser Tage gelesen, dass er Mitgefühl für selbstmörderisch hält; Empathie und Menschlichkeit sind für ihn Schwächen. Das gibt uns eine Idee davon, wie die Welt aussehen wird, sollten Murks und seine autoritären Tech-Komplizen ihre Vorstellungen von einem technokratischen Nicht-Staat durchsetzen. Das wird eine Welt, in der Hilflosigkeit und Erbarmen keinen Platz mehr haben.

Ein Stundenbuch der Liebe

»Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute.«

So beginnt »Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe« von Helga Schubert. Helga Schubert, Jahrgang 1940, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. 2020 meldete sie sich mit 80 Jahren beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt zurück auf die literarische Bühne. Sie gewann den Preis mit der Geschichte »Vom Aufstehen«.

»Der heutige Tag« ist 2023 erschienen und Schubert beschreibt darin, wie sie mit 80 Jahren ihren dementen, kranken Mann Derden pflegt. Dieser Derden ist Johannes Helm, dreizehn Jahre älter als seine Frau, Maler und ehemaliger Professor für Klinische Psychologie. Mit Derden beginnt Helga Schuberts Tag, mit Derden endet er.

»Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist.«

Helga Schubert, Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der LiebeEntlang eines Tages beschreibt die Autorin in ruhigem Ton und klaren Sätzen, wie das ist, wenn man sich 24 Stunden am Tag um den Menschen kümmert, mit dem man so lange zusammen ist. Sie lässt dabei nichts aus, keines der Ärgernisse, keine der Anstrengungen und Mühen, aber auch keinen der anrührenden, schönen, poetischen Momente, die diese intensive anstrengende Pflege mit sich bringt.

Das Buch ist kein Roman, und trotzdem wird man beim Lesen hineingezogen in den Tag dieses alten Liebespaares, dass sich aller körperlichen Widrigkeiten zum Trotz immer noch so viel zu geben hat.

»Die Amsel sang wieder einmal so schön, Derden hörte sie, und ich dachte an die Ärztin, die mir kürzlich sagte, nun müssen Sie aber auch seinem Körper die Möglichkeit geben zu sterben! (…) Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung, dachte ich. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch auch ausatmen.«

»Der heutige Tag« ist eines der tröstlichsten Bücher, das man in unserer Zeit lesen kann. Helga Schubert lässt sich von den Herausforderung, die jeder Tag bietet, nicht unterkriegen, und sie zeigt uns, wie Loslassen, Annehmen und Friedenschließen trotz aller Mühsal möglich ist. Beeindruckend ist das – und berührend.

Heldin am Anschlag

Beeindruckend und berührend ist auch der Spielfilm »Heldin«, den wir letzte Woche im Kino gesehen haben. Auch hier geht es um Pflege, Stress, Widrigkeiten und manchmal auch um ganz kurze schöne Momente.

»Heldin«, eine schweizerische Produktion, beschreibt anhand einer Spätschicht den anstrengenden, hektischen Klinikalltag der jungen Krankenpflegerin Floria Lind (überragend dargestellt von Leonie Benesch) in einem Kantonsspital in der Schweiz. Dieser Klinikalltag ist voller großer und kleiner Herausforderungen, die fast im Minutentakt von Floria bewältigt werden müssen, nicht selten zwischen Tür und Angel. Blitzschnell müssen Entscheidungen gefällt werden, die weitreichende, ja dramatische Konsequenzen haben können. Als Zuschauer ist man schon im Kinosessel überfordert.

Da läuft bei einer hochbetagten Patientin die Windel über, als nächstes will ein sehr arroganter Privatpatient keine Sekunde auf seinen Tee warten, und während dessen entwickelt ein Patient eine gefährliche allergische Reaktion auf ein Schmerzmittel. So geht das den ganzen Tag, und Floria hat praktisch keine Zeit, etwas zu essen oder zu trinken. Ist das übertrieben? Nein überhaupt nicht, sagte das befreundete Paar neben uns im Kino, die beide seit vielen Jahrzehnten in verschiedenen Positionen in der Pflege einer großen deutschen Universitätsklinik arbeiten.

»Die Kombination von Regisseurin und Hauptdarstellerin machen »Heldin« zu einem Kleinod des deutschsprachigen Films.« (Perlentaucher)

Dieser Film hätte Filmpreise ohne Ende und Millionen von Zuschauer*innen verdient. Und vor allem sollten sich alle verantwortlichen Politiker diesen Film anschauen, damit sie endlich verstehen, dass der Agrardiesel nicht unser Problem ist.

»Heldin« ist die filmisch beeindruckende Würdigung der Arbeit tausender Krankenpfleger*innen, die jeden Tag dafür sorgen, dass der Betrieb in den Kliniken läuft.

NK | CK

Buchinformation

Helga Schubert
Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe
Taschenbuch dtv Verlag
ISBN : 978-3-423-14910-5

Hände, die einander wärmen

Der Schriftsteller und Journalist Renatus Deckert hat Helga Schubert und Johannes Helm im Sommer 2024 in Mecklenburg besucht und einen schönen Text darüber geschrieben. Kann man hier auf seinem Blog »Wolken und Kastanien« nachlesen.

Wo Heldinnen und Helden arbeiten

Universitätsklinikum Tübingen mit Albtrauf | © Schöne Postkarten, Tübingen

Universitätsklinikum Tübingen mit Albtrauf | © Schöne Postkarten, Tübingen

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Es zwitschert und gurrt

Warum erfreut uns der Anblick eines Rotkehlchens (Erithacus rubecula) ganz besonders?

Warum erfreut uns der Anblick eines Rotkehlchens (Erithacus rubecula) ganz besonders?

Es zwitschert und gurrt –
erste Liebesspiele
in Hecken und Bäumen

Frühlingsanfang

Gestern war offizieller Frühlingsanfang. Überall sprießt und zwitschert es. Flora und Fauna kommen in die Gänge. Allerspätestens jetzt fällt für passionierte Gärtnerinnen und Gärtner der Startschuss ins neue Gartenjahr. Es darf wieder geplant, gegraben, gepflanzt werden. Aber bitte Vorsicht! Die Nachtfröste sind nicht ohne.

Wir empfehlen, neben dem Besuch der Gärtnerei des Vertrauens, unseren stimmungsvollen Gartenbegleiter «Im Garten durch das Jahr«. 24 Haiku und andere Gedichte zeigen mit 48 schönen Gartenfotos ein Gartenjahr in seiner ganzen Fülle und Schönheit. Format DIN A3 (297 x 420 mm, BxH), handgefertigt.

„Im Garten durch das Jahr“ | 2 x 24 Fotos mit Haiku und Gedichten | © www.schoenepostkarten.de

„Im Garten durch das Jahr“ | DIN A3 | 30,00 Euro zzgl. Versand | © www.schoenepostkarten.de

Allen hier einen beherzten Start ins Gartenjahr!

NK | CK

Schöne Postkarte Nr. 15 · Die Liebe zum Gärtnern · © Schöne Postkarten, Tübingen

Schöne Postkarte Nr. 15 · Die Liebe zum Gärtnern · © Schöne Postkarten, Tübingen

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Blaue Wunder aus dem Westerwald

Das grüne Klavier stand einstmals in der Tübinger Stauden- und Kräutergärtnerei von Erika Jantzen

Das grüne Klavier stand einstmals in der Tübinger Stauden- und Kräutergärtnerei von Erika Jantzen

Über die Tasten
streicht nur noch
der Wind

Immer wieder Freitags

Seit dem Frühjahr 2009 bestücken wir diesen kleinen Blog mit Fotos, Texten, Gedichten, Haiku und Gedanken. Warum wir das tun? Weil es uns Freude macht, und weil wir auch ein bisschen hoffen, mit unserem Tun euch, unseren Leserinnen und Lesern, allwöchentlich eine kleine Anregung oder einfach nur einen guten Moment zu bereiten.

Wir haben uns deshalb ganz besonders gefreut, als uns diese Woche ein schmaler Band aus dem Westerwald ins Haus geflattert kam. „Blaue Wunder“ so heißt das neue Buch von Georges Hartmann, dem wir an dieser Stelle noch ganz offiziell und auch ganz herzlich zum Geburtstag gratulieren, den er vor ein paar Tagen gefeiert hat.

Georges Hartmann gehört seit einigen Jahren zu den Lesern des Reklamekasper, die sich von unseren Freitagsbeiträgen so angeregt fühlen, dass sie selbst in die Tasten greifen und einen Kommentar hinterlassen. Wobei der Begriff Kommentar hier stark untertrieben ist. Georges füllt unser Kommentarfeld hier mit Prosaminiaturen, die sich direkt auf den aktuellen Kasper-Beitrag beziehen. Es ist jedes Mal eine Freude, diese Texte zu lesen, aber man sollte sich ein wenig Zeit nehmen, um langsam den melancholisch-mäandrierenden Sätzen zu folgen.

Blaue Wunder

In dem Band „Blaue Wunder“ hat Georges nun 27 dieser Kommentare versammelt und mit einem liebenswürdigen Nachwort versehen. Ein Beispiel:

Am 25. September 2020, es war die Zeit der Corona-Pandemie, haben wir ein Haiku gebracht, in dem sich das lyrische ich mit „Treibgut“ am Strand vergleicht. Angesichts des bedrohlichen Virus war dieser Vergleich nicht völlig abwegig. Davon hat sich nun Georges anregen lassen und selbst ein paar anregende Gedanken ins Kommentarfeld getippt.

„Sich selbst als Treibgut zu bezeichnen finde ich derart faszinierend, dass ich vom Nachdenken kaum lassen kann. Meine Frau hat mich als Treibgut gefunden und insoweit zu einem Glücklichen gemacht, was sie auch von sich behauptet. Es ist eben ein ewiges Geheimnis, dass man jene zwei Muschelschalen am Strand findet, die einstmals ein Ganzes gebildet haben und nicht allen beschieden ist. Siehe hierzu auch das Buch von Morrow Lindbergh (Muscheln in meiner Hand) …“

Das Haiku vom Wind, der nur noch über die Tasten streicht, widmen wir Georges Hartmann zum Geburtstag. Es ist, wenn man so will, eine Antwort auf ein sehr typisches Haiku des Issa aus dem Westerwald:

Einsamer Playboy!
Über dein schütteres Haar
streicht nur noch der Wind

CK | NK

Buchinformation

Georges Hartmann
Blaue Wunder. Gedankenspiele
bon-say-verlag, 2025
Softcover, Fadenbindung, 84 Seiten
ISBN: 978-3-945890-58-5

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Haiku: Die Welt wackelt

Wurmlinger Kapelle von der Tübingen aus fotografiert

Wurmlinger Kapelle von Tübingen aus fotografiert

Die Welt wackelt
aber droben, ganz stabil
stehet die Kapelle

Was sind das für Wochen gerade? Eine Schreckensnachricht jagt die nächste. Gut, dass es Dinge gibt, auf die man sich verlassen kann. Die romanische Krypta unter der oft besungenen Wurmlinger Kapelle wurde zu Beginn des 12. Jahrhunderts gebaut. 1644 wurde der gotische Nachfolgebau bei einem Feuer zerstört. Die kleine barocke Kapelle, die man heute von weithin bestaunen kann, wurde 1685 geweiht. Und sie wird noch stehen, wenn die Irren aus dem Weißen Haus längst auf dem Weg zum Mars sind.

Allen, die von der großen und kleinkarierten Politik gerade genug haben, empfehlen wir den feinen Film „A Great Place to call Home“ mit ganz wunderbaren Hauptdarstellern, die uns zeigen, was Menschlichkeit bedeutet. Eine tröstliche, lebensbejahende Tragikomödie!

Auf welche Weise erholt ihr euch vom Dauerfeuer der Nachrichten?

NK | CK

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Nimm die wichtigsten Dinge (Serhij Zhadan)

Tübingen, 25.2.2025: Solidaritätskundgebung für die Ukraine

Tübingen, 25.2.2025: Solidaritätskundgebung für die Ukraine auf dem Holzmarkt

Nimm die wichtigsten Dinge

Nimm die wichtigsten Dinge. Die Briefe zum Beispiel.
Nimm die leichten Sachen, die wiegen nicht viel.
Nimm die Heiligenbilder, das Silberbesteck,
nimm die Kreuze, den Goldkram, wir gehen weg.

Nimmt ein bisschen Gemüse und vom Brot ein Stück.
Wir kommen nie wieder hierher zurück.
Wir werden die Städte nicht wiedersehn.
Nimm die Briefe, auch schlimme, dann lass uns gehn.

Wir müssen die Nachtkioske verlassen.
Die Gesichter der Freunde werden verblassen.
Aus dem trockenen Brunnen ist kein Wasser zu ziehn.
Wir zwei sind Flüchtling. Nachts müssen wir fliehn.

Wir laufen an Sonnenblumenfeldern vorbei.
Wir flüchten vor Hunden, schlafen im Heu.
Wir gieren nach Wasser, kampieren in Lagern
und quälen die Drachen auf Truppenfahnen.

Die Freunde sind fort, auch du bist verschwunden.
Es fehlen die Stellen, die Küchenrunden.
Nachts fehlt in den Orten das schläfrige Licht.
Grüne Täler und Brachen, es gibt sie nicht.

Schmierige Sonne gibt’s, die durch Zugfenster dringt,
die Choleragrube, zu der man Kalkpulver bringt.
Die Frauenfüße im blutigen Schuh,
Wachposten im Grenzschnee kommen dazu.

Ein verwundeter Briefträger mit leerem Sack,
ein Gehenkter, lächelnd, im Priesterfrack,
Friedhofsstille, Lärm auf Kommandanturen,
Totenlisten, gedruckte, ohne Korrekturen,

Namen, endlos aneinandergereiht,
den eignen zu suchen ist keine Zeit.

Serhij Zhadan | Übertragung: Esther Kinsky

Slawa Ukrajini

„Ruhm der Ukraine“ lautet die deutsche Übersetzung für den Gruß „Slawa Ukrajini“; die Antwort auf diese Grußformel heißt Herojam Slawa, auf Deutsch „Den Helden Ruhm“. Oft konnte man am vergangenen Montag diese Sätze auf dem Tübinger Holzmarkt hören, von Ukrainerinnen und Ukrainern mit Inbrust gerufen. Zum dritten Jahrestag des völkerrechtswidrigen, vollumfänglichen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hatten verschiedene Gruppen zur Solidaritäts-Kundgebung für die Ukraine aufgerufen, unter anderem: Tübingen hilft Ukraine, Sonnenblau und der Ukrainische Verein Tübingen.

Wie wichtig diese Unterstützung gerade jetzt ist, zeigt die Tatsache, dass der amerikanische Präsident die Fakten komplett verdreht, indem er der Ukraine die Schuld an diesem Krieg gibt und den ukrainischen Präsidenten einen Diktator nennt. Angsichts der pausenlosen, brutalen russischen Angriffe auf die Ukraine sind die Aussagen des amerikanischen Präsidenten ein zynischer Schlag ins Gesicht der Ukrainerinnen und Ukrainer. Dies haben die Rednerinnen und Redner am 24. Februar 2025 auf dem Holzmarkt klar zum Ausdruck gebracht.

„Namen, endlos aneinandergereiht“

Nimm die wichtigsten Dinge (Serhij Zhadan)Mit einem 2015 entstandenen Gedicht des ukrainischen Schriftstellers und Dichters Serhij Zhadan erinnnern wir diese Woche daran, dass der Angriff Russlands nicht erst im Februar 2022 begonnen hat, sondern bereits mit der russischen Annektion der Krim und dem russischen Angriff auf die Ostukraine im März 2014. Dieses Gedicht des vielfach ausgezeichneten Zhadan findet man in dem beeindruckenden Band „Warum ich nicht im Netz bin – Gedichte und Prosa aus dem Krieg“, der 2016 bei Suhrkamp erschienen ist. Übersetzt wurden die Gedichte und Prosatexte von Claudia Dathe und Esther Kinsky, und zwar so gut, dass Zhadans Worte auch im Deutschen ihre volle Wirkung entfalten.

Kerstin Holm nannte Zhadans Buch in ihrer Kritik in der F.A.Z. (21.2.2017) ein „Meisterwerk“. Der in Charkiw lebende Autor zeichnet mittels eindrucksvoller Porträts, Reisenotizen, Kriegseindrücke, Charakterstudien ein differenziertes, schonungsloses Bild der damaligen Situation in der Ostukraine. Wie sich diese Situation in der Ukraine heute darstellt, können wir jeden Tag in den Nachrichten, Zeitungsartikeln, Reportagen lesen, hören und sehen.

Die Ukraine braucht die volle Unterstützung Europas und keinen Diktatfrieden!

NK | CK

Buchinformation

Serhij Zhadan
Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg
übersetzt von Claudia Dathe und Esther Kinsky
Broschur, 180 Seiten, edition suhrkamp, 2016
ISBN: 978-3-518-07287-5

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Und jetzt? Die wunderbaren Jahre!

Wie alle autoritären Regime konnte sich auch die DDR auf willige Helfer verlassen

Wie alle autoritären Regime konnte sich auch die DDR auf willige Helfer verlassen

Das wunderbare Antiquariat

Immer wenn wir am Samstag mit dem Bus aus der Stadt nach Hause fahren, kommen wir auf dem Weg zur Bushaltestelle an einem der letzten Antiquariate Tübingens vorbei.

Blick ins Paradies: Antiquariat Bader in der Tübinger Wilhlelmstraße

Blick ins Paradies: Antiquariat Bader in der Tübinger Wilhlelmstraße

Norbert Schuler heißt der stets freundliche Inhaber des legendären Antiquariats Bader, und er ist umgeben von tausenden von Büchern. Ein Paradies! Einige dieser Schätze stellt Herr Schuler immer in seine Stöberkästen vor die Tür. Ganz ehrlich, ich kann da nicht vorbeilaufen, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Und ich finde fast immer ein interessantes Buch.

Die wunderbaren Jahre

Reiner Kunze, Die wunderbaren Jahre, 1976Vor ein paar Wochen habe ich dort „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze entdeckt und sofort gekauft. Ein Klassiker, und ich wollte das Buch schon lange mal lesen. Die schmale Sammlung von Prosatexten wurde 1976 erstmals in der Bundesrepublik veröffentlicht. Reiner Kunze hat die Texte zu seinem Buch 1975 in der DDR verfasst und dann in die Bundesrepublik schmuggeln lassen. Die DDR-Oberen waren nicht begeistert von dem, was sie da lesen mussten. Kunze wurde aus dem Schriftstellerverband der DDR geworfen, bekam jede Menge Schwierigkeiten und siedelte schließlich mit seiner Familie im April 1977 in die Bundesrepublik Deutschland über.

Die Schulbehöre in N. wies die Direktoren an, zu verhindern, daß Fach- und Oberschüler die Mittwochabend-Orgelkonzerte besuchen. Lehrer fingen Schüler vor dem Kirchenportal ab und sagten den Eltern: Entwederoder. Eltern sagten ihren Kindern: Entwederoder. Bald reichten die Sitzplätze im Schiff und auf den Emporen nicht mehr aus. (Meldung, die in keiner Zeitung stand)

Reiner Kunze beschreibt in dem Band in kurzen, prägnanten Texten alles andere als wunderbare Jahre für die jungen Menschen der DDR. Seine ummissverständliche Kritik am System der DDR, das gnadenlose Anpassung und strikten Gehorsam verlangte, kommt hier klar zum Ausdruck. Es wundert nicht, dass Kunzes Akte bei der Staatssicherheit, Decknahmen „Lyrik“ zum Ende der DDR mehr als 1000 Seiten umfasste.

„Na gut“, sagte der Direktor, „es waren keine ausgewaschenen Jeans, es waren hellblaue Cordhosen, einverstanden. Aber müssen es überhaupt Hosen sein? Wenn die Mädel so angetreten sind, alle in ihren kurzen Röcken, das gibt doch ein ganz anderes Bild.“ Dabei schnalzte er mit der Zunge.

In nüchternen Sätzen drückt Kunze aus, wie sehr der SED-Staat auf Unterdrückung, Homogenität, frühe Militarisierung und Gehorsam setzte. Und er macht deutlich, wie sehr dieser Unrechtsstaat Angst vor der individuellen Entfaltung seiner Bürgerinnen und Bürger hatte. Alles war diesem Staat verdächtig: Jeans, Orgelmusik, Bücher, Nickelbrillen und vieles mehr. Gerade für junge Menschen muss diese permanente Kontrolle und Gängelung kaum erträglich gewesen sein. Wie gut die sozialistische Erziehung schon bei den kleinsten DDR-Bürgern in der Grundschule funktioniert hat, zeigt der erste Text dieses sehr lesenswerten Buches.

SECHSJÄHRIGER
Er durchbohrt Spielzeugsoldaten mit Stecknadeln. Er stößt sie ihnen in den Bauch, bis die Spitze aus dem Rücken tritt. Er stößt sie ihnen in den Rücken, bis die Spitze aus der Brust tritt.
Sie fallen.
„Und warum gerade diese?“
„Das sind doch die anderen.“

„Die wunderbaren Jahre“ wurden schnell zu einem Beststeller, von westdeutschen Linken mit Betroffenheit gelesen, der in viele Sprachen übersetzt wurde. Das Buch ist ein eindrückliches, lesenswertes Zeitzeugnis, über das der Literaturchef der ZEIT und Autor Adam Soboczynski vor ein paar Jahren sagte:

„Wer noch oder wieder glaubt, die DDR sei ein an sich lohnendes Experiment gewesen, sollte diesen Klassiker zur Entgiftung lesen.“

Und jetzt? Wählen gehen, Demokratie stärken!

Vor ein paar Tagen habe ich in der Süddeutschen Zeitung ein Bild von einer AfD-Demonstration gesehen. Zu sehen ist ein mittelalter Mann mit schwarzer Wollmütze und  zwei großen Flaggen an einer Stange, die er über der Schulter trägt. Es sind die Flaggen Russlands und der DDR. Wenn man nach der Lektüre von Kunzes Buch so ein Bild sieht, versteht man die Welt nicht mehr. Die unverhohlen zur Schau getragene Ostalgie und die Sehnsucht nach einem autoritären Staat gehören aber offensichtlich zum Umdeutungsprogramm der DDR-Vergangenheit von rechts. So beschreibt es der Historiker Volker Weiß in seinem neuen Buch „Das Deutsche Demokratische Reich“, das Ronen Steinke gerade in der Süddeutschen Zeitung rezensiert hat.

Am Sonntag wird der Deutsche Bundestag neu gewählt, und man fragt sich, wie das alles zusammengeht? Auf der einen Seite der Ruf von rechts nach einem kompromisslosen, autoritären Staat mit einer völkischen Gesinnungspolizei, auf der anderen Seite dieses ständige verlogene Gejammere der rechten Populisten, dass man in Deutschland nicht mehr alles sagen dürfe.

Aber der Blick nach Westen über den Atlantik, für die Jugendlichen in Ost und West lange Zeit eine Art gelobtes Land, stimmt einen auch nicht hoffnungsfroh in diesen Tagen. Die Trump-Administration hat Meinungsfreiheit längst umdefiniert. Sie gilt nur noch für jene, deren Äußerungen zu Trumps irrem Plan des sogenannten Golden Age of America passen. Willkommen im Jahr 1984!

Ich wünsche uns allen eine gute, demokratische Wahl! Seien wir fürsorglich zu unserer liberalen Demokratie, sie hat lange gehalten, aber sie ist zerbrechlich. Dabei brauchen wir sie gerade jetzt!

NK | CK

Buchinformation

Reiner Kunze
Die wunderbaren Jahre
FISCHER Taschenbuch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-596-22074-8
Neuausgabe mit einem Vorwort von Ines Geipel

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Ausgediente DDR-Grenzanlagen in bei Meiningen

Ausgediente DDR-Grenzanlagen in bei Meiningen

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Am Valentinstag paaren sich die Vögel

Luftiger Balztanz der Tauben

Luftiger Balztanz der Tauben

Spazieren und Staunen

„Um die Februarmitte, am Valentinstag, paaren sich die Vögel. Aber die Vögel müssen aufpassen, daß die Bitternis der Welt ihre Liebe nicht zerreißt.“

Diese poetischen Zeilen schreibt der Schriftsteller Wilhelm Lehmann am 8. Februar 1928 in sein »Bukolisches Tagebuch«. 2014 hat Judith Scharlansky das Buch in der bibliophilen Reihe »Naturkunden« im Verlag Matthes & Seitz herausgegeben. Man kann die Herausgeberin und den Verlag für diese wunderbare Reihe gar nicht genug loben. Die Bücher zu den unterschiedlichsten Themen sind hervorragend gesetzt und gestaltet und sehr gut produziert. Inhalt, Satz, Papier, Bindung, Umschlag: da stimmt alles.

„Wer denkt, daß wir Menschenkinder auf einer Kugel hausen, die durch den unendlichen Raum kreist, wird sich mit Lichtenberg nicht darüber wundern, daß der Wind über die Erde geht, wohl aber, daß je Windstille bei uns gedeihen kann.“

Wilhelm Lehmann, Jahrgang 1882, wuchs in Hamburg als Sohn eines Kaufmanns und einer Arzttochter auf. Er studierte in Tübingen, Straßburg und Berlin Philosophie und Naturkunde. Im Ersten Weltkrieg desertierte er und geriet in englische Gefangenschaft. Später unterrichtete er bis 1947 als Lehrer in Eckernförde an der Ostsee Deutsch und Englisch. 1923 erhielt er, gemeinsam mit Robert Musil, den Kleist-Preis. Lehmann starb 1968 in Eckernförde.

Nicht auf Paarung sondern auf Beute aus, war dieser Bussard

Nicht auf Paarung sondern auf Beute aus, war dieser Bussard

Schöpfung in die Sprache retten

Sein «Bukolisches Tagebuch« hat dieser feine Autor in einer historisch dramatischen Epoche, zwischen Oktober 1927 und Oktober 1932, geschrieben. Ein Glücksfall für uns Leserinnen und Leser!

„Hinter dem leisen Gebirge des Feldes klirrt der Ruf der Rebhühner hervor. Es klingt wie das Wetzen von Messern. Denn der Winter stößt noch mit Eisdolchen.“

Hat man sich einmal auf den Lehmann-Sound eingelassen, folgt man ihm gerne auf seinen Spaziergängen im Verlauf der Jahreszeiten, immer hart am Wind, immer entlang der sturmgepeitschten Küste und der einsamen Wege im Hinterland Schleswig-Holsteins.

Wilhelm Lehmann, Bukolisches TagebuchAlles, was Lehmann sieht, und er übersieht nichts!, bringt ihn zum Staunen und ist ihm berichtenswert: Vögel im Sturm, neugeborene Schafe, Raupen, Mäuse, welke Blätter, von der Last der Arbeit gebeugte Menschen. Mit einem Wort: Dieser Dichter, der heute fast vergessen ist, lehrt uns sehen und staunen. Das ist Nature Writing in deutscher Sprache zu einer Zeit, als dieser Begriff in Deutschland noch nicht existierte.

»Jedes Tier, das vergeht, jede Art von Lebewesen, das ausstirbt, verdünnt das Weltvokabular, bringt uns weiter zurück von der Wahrheit, die nur aus dem Zusammenhang aller Wesen sich heraufarbeitet.«

Wilhelm Lehmann wollte, wie Hans Zischler im Nachwort schreibt, „die bedrohte Schöpfung in die Sprache retten“. Lehmanns »Bukolisches Tagebuch« zeigt uns die Schönheit und die Verletzlichkeit der Natur, von der wir nur ein Teil sind.

NK | CK

Buchinformation

Wilhelm Lehmann
Bukolisches Tagebuch
Paperback, 279 Seiten
Matthes & Seitz Berlin, 2022
ISBN: 978-3-7518-0116-4

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Beunruhigend: »Die Achse der Autokraten«

Schonungslose Analyse, eindringlicher Appell, klar formuliert: ein wichtiges Buch

Schonungslose Analyse, eindringlicher Appell, klar formuliert: ein wichtiges Buch

Autokratien im 21. Jahrhundert

„Jeder von uns hat ein Bild von einem autokratischen Staat im Kopf. An der Spitze steht der Schurke, ihm zur Seite Armee und Polizei, die den Bürgern mit Gewalt droht. Es gibt böse Mittäter und womöglich einige mutige Dissidenten.
Das ist jedoch eine Karikatur, die mit der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts wenig zu tun hat. Autokratien werden nicht von einem einzigen Bösewicht kontrolliert, sondern von raffinierten Netzwerken mit kleptokratischen Strukturen, einem komplexen Sicherheitsapparat aus Armee, Paramilitärs und Polizei sowie technischen Experten, die für Überwachung, Propaganda und Desinformation zuständig sind.“

So beginnt die »Achse der Autokraten« das aktuelle Buch der amerikanischen Historikerin und Journalistin Anne Applebaum, die im Herbst 2024 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat. Klingt ziemlich beunruhigend dieser erster Absatz, und das soll er auch sein. Denn die Lage ist beunruhigend. Weltweit geraten Demokratien immer stärker unter Druck, aktuell auch die älteste, seit 1776 bestehende Demokratie der Welt, die USA. Dort sind gerade ein paar Tech-Milliardäre dabei, mit Hilfe eines willfährigen Präsidenten einen Rechtsstaat in eine Firma exakt nach ihren libertären Vorstellungen umzubauen.

Die Historikerin Applebaum beschäftigt sich seit vielen Jahren mit autoritären Systemen. Für ihre Reportagen und Bücher wurde Applebaum, die in Polen lebt und mit dem polnischen Außenminister Sikorski verheiratet ist, vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Pulitzerpreis. In ihrem aktuellen Buch, das 2024 auf Deutsch erschien, befasst sich die mutige und extrem gut informierte Autorin mit Autokratien und Diktaturen im 21. Jahrhundert. Darunter ideologisch so verschiedene Länder wie Venezuela, China, Nordkorea, Russland, Simbabwe, Belarus, Iran, Syrien. Länder, die auf den ersten Blick wenig gemein haben – außer einer grenzenlosen Verachtung für unsere liberale westliche Ordnung und unsere freiheitliche Lebensweise.

Autokratisches Netzwerk

Wie sich diese Verächter der Demokratie, der Menschenrechte und des Völkerrechts gegenseitig unterstützen – mit Geld, Überwachungstechnologie, Waffen, Trollfabriken, Desinformationskampagnen uvm. – zeigt Applebaum auf 200 Seiten an zahlreichen Fallbeispielen schlüssig auf. Die Autorin beschreibt detailliert, wie sich die brutalen und korrupten Machthaber maßlos bereichern und bei der Bekämpfung ihrer inneren und äußeren Feinde, zu denen auch unsere Demokratie zählt, vor nichts zurückschrecken.

Einmal angefangen, kann man dieses spannende Buch nicht mehr aus der Hand legen, weil es Seite für Seite aufdeckt, wie fantastisch geschmiert das weltweite autokratische Netzwerk funktioniert; leider nicht selten auch unter Duldung westlicher, demokratischer Staaten, die sich nicht energisch genug um dubiose „Geldwaschanlagen“ oder Sanktionsumgehungen kümmern. Die Antworten unserer liberalen Demokratien auf die dramatischen Bedrohungen durch das weltweite autokratische Netzwerk sind zu schwach und werden von Despoten und autokratischen Tech-Oligarchen allenfalls belächelt. Zu beobachten gerade jetzt wieder, wenn die EU offensichtlich nicht in der Lage ist, die sogenannten sozialen Netzwerke (X, Facebook, Instagram, Tiktok) dazu zu bringen, die massenhafte Verbreitung von Propaganda, Gewalt, Desinformation und Fakenews zu unterbinden.

„Freiheitliche Gesellschaften können zerstört werden, von außen genauso wie von innen, durch Kriege und Demagogen. Oder sie können geretten werden – aber nur, wenn die von uns, die in ihnen leben, sich die Mühe machen, sie zu retten.“

Die »Achse der Autokraten« ist ein wichtiges Buch in einer beunruhigenden Zeit. Es ist fundiert recherchiert, schonungslos in der Analyse, klar geschrieben und ein unmissverständlicher Appell an alle demokratischen Staaten und ihre Bürgerinnen und Bürger, aufzuwachen und zu handeln, bevor es zu spät ist.

NK | CK

Buchinformation

Anne Applebaum
Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
208 Seiten, Hardcover
Siedler Verlag, München, 2024
ISBN 978-3-8275-0176-9

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Die Reden zum Friedenspreis 2024 kann man hier nachhören

Die ARD-Sondersendung vom 20.10.2024 zur Verleihung des Friedenspreises in der Mediathek

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Kostbar! Blumen im Winter

Lichtblick im Winter: Kleines Immergrün (Vinca Minor)

Lichtblick im Winter: Kleines Immergrün (Vinca Minor)

Der Garten im Winter

„Wie kostbar sind uns doch die Blumen des Winters.“ (Vita Sackville-West)

Anstrengende Zeiten sind das grade. Die Nachrichtenflut reißt nicht ab, und meistens sind es keine ermutigenden Nachrichten. Da tut es gut, zwischendurch mal die Pausetaste zu drücken und sich den schönen Dingen zu widmen: zum Beispiel einer kleinen Immergrün-Blüte am Wegrand. Eigentlich blüht das winterharte Kleine Immergrün (Vinca minor) von April bis Juni, in milderen Wintern aber auch, siehe Foto, im Januar.

Wir sind sicher, der großen Gartengestalterin und Schriftstellerin Vita Sackville-West (* 9. März 1892; † 2. Juni 1962) hätte das Kleine Immergrün gefallen. In dem Buch »Mein Garten« (nur noch antiquarisch erhältlich) sind zahlreiche ihrer lesenswerten, amüsanten und lehrreichen Kolumnen, die sie für den Observer schrieb, enthalten. Vita Sackville-West, die auch die Geliebte von Virginia Woolf war, hat gemeinsam mit ihrem Mann Harold Nicholson einen der schönsten Gärten Englands gestaltet: Sissinghurst. Ein Besuch dort lohnt sich immer.

NK | CK

Buchinformation

Im Insel-Verlag gibt es die Kolumnen von Vita Sackville-West nach Jahreszeiten in einzelnen Taschenbüchern. Infos dazu hier.

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Der Garten von Sissinghurst Castle wurde ab 1930 von Vita Sackville-West und ihrem Mann Harold Nicolson angelegt. Foto: Norbert Kraas

Der Garten von Sissinghurst Castle wurde ab 1930 von Vita Sackville-West und ihrem Mann Harold Nicolson angelegt

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Das Mädchenorchester von Auschwitz

Barackenfenster im Konzentrationslager Natzweiler im Elsass

Barackenfenster im ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler im Elsass

Mach dir keine Illusionen

»Kannst du Klavier spielen? Dann geh an den Flügel und spiele und singe „Madame Butterfly“.«

23 Jahre alt ist die Sängerin Fania Fénelon, als ihr diese Frage kurz nach der Ankunft im Frauenlager Auschwitz-Birkenau im Januar 1944 gestellt wird. Sie kann Klavier spielen, und sie kann singen. Ihre musikalische Ausbildung am Pariser Konservatorium rettet der jungen Frau das Leben. Als Fanny Goldstein wurde sie am 2. September 1919 in Paris als Kind jüdischer Eltern geboren. Im Mai 1943 wurde sie in Paris von der Gestapo als Mitglied der Résistance verhaftet.

Fania Fénelon wird in das Mädchenorchester von Auschwitz-Birkenau aufgenommen, das von der brillianten Geigerin und extrem strengen Dirigentin Alma Rosé, Nichte des Komponisten Gustav Mahler, geleitet wird. Die Strenge hat einen Grund: die jungen Musikerinnen spielen buchstäblich um ihr Leben. Das Orchester verdankt seine Existenz der SS-Lagerführerin Maria Mandl und dem Lagerkommandanten von Birkenau, Josef Kramer, die beide Musik liebten. Maria Mandl war verantwortlich für den Tod von tausenden weiblichen KZ-Häftlingen und wurde 1948 in Krakau hingerichtet. Der SS-Führer Josef Kramer, Lagerkommandant von Auschwitz-Birkenau, brauchte die Musik, um sich von seiner menschenverachtenden Tötungsarbeit zu erholen. Kramer wurde im Dezember 1945 im Bergen-Belsen-Prozess zum Tode verurteilt und hingerichet.

»Meine Stimme ist nicht tot«

Das Konzentrationslager Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 befreit

Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 befreit

In ihrem Buch »Das Mächenorchester von Auschwitz« erzählt Fania Fénolon die erschütternde Geschichte von ihrer Gefangennahme in Paris im Mai 1943 bis zu ihrer Befreiung am 15. April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Zu diesem Zeitpunkt hing Fénelons Leben in zweifacher Hinsicht am seidenen Faden. Zum einen litt sie bereits während des Transports von Auschwitz-Birkenau nach Bergen-Belsen an lebensbedrohlichem Typhus, zum anderen waren sie und ihre Mitgefangenen schon zur Vergasung bestimmt, als das Lager in letzer Minute von englischen Infanteriesoldaten befreit wurde. Fénelon schildert ihre Rettung so:

»Der Soldat meint, ich sterbe, reißt mich aus meinem Sumpf, hebt mich auf seine Arme, es ekelt ihn nicht! Wie wohl fühle ich mich da! Ich muß leicht sein, federleicht (ich wog achtundzwanzig Kilo). An diese Männerbrust gedrückt, auf sie gestützt, meine Kraft aus der seinen schöpfend, stimme ich die Marseillaise an. Meine Stimme ist nicht tot, ich kann singen, ich lebe! …«

Wer mehr über den Holocaust und den brutalen Irrsinn der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschine wissen möchte, sollte die persönliche Geschichte von Fania Fénelon und dem Mädchenorchester von Auschwitz lesen. Fénelon schildert das erlebte Grauen in einer nüchternen Sprache und reflektiert dabei immer wieder über Gründe und Folgen der Entmenschlichung und Erniedrigung.

NK | CK

Buchinformation

Fania Fénelon
Das Mädchenorchester von Auschwitz
Taschenbuch, dtv Verlag
ISBN: 978-3-423-13291-6

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