Leise knistert
wie Schokoladenpapier
sanfter Regen
Haiku – Kō & Kranō
Wir wünschen der Natur viel sanften Regen und euch allen erholsame Osterfeiertage!
CK | NK
In der Bibel steht, dass Jesus auf einer Eselin am Sonntag vor dem Pessachfest nach Jerusalem einreitet. Palmsonntag nennen Christinnen und Christen den kommenden Sonntag, weil die Menschen Palmzweige auf dem Weg verteilt haben sollen, damit die Eselin mit ihrem Reiter nicht ausrutscht.
„Ich weiß nicht, ob ich an einen Gott glaube – und Fromme werden mir diesen Satz nicht verzeihen, aber ich kann in dieser Sache nicht lügen – das ist schon sehr eigenartig, dass ich es in dieser Sache nicht kann, und vielleicht ist das schon Teil eines Gottesbeweises – aber ich kann beim besten Willen nicht wissen, ob ich an ihn glaube. Trotzdem, trotzdem – ich brauche ihn. (…) ich brauche ihn, damit das alles, was ist, nicht sinnlos ist – und damit das alles, was ist, nicht alles ist.“ (Peter Bichsel)
Vor knapp einem Monat ist der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel im Alter von 89 Jahren gestorben. Grund genug für uns, uns etwas näher mit diesem bescheidenen, aber großen Meister der kurzen Form zu beschäftigen, der trotz seines Erfolgs immer bodenständig und nahbar war. Bichsel, dieser wunderbare Erzähler, hat kurze und kürzeste Geschichten geschrieben, viele Kolumnen, aber immer wieder auch Texte zu religösen Themen und zum Glauben. Im Schweizer Radio haben wir vor ein paar Tagen ein sehr interessantes Gespräch mit Peter Bichsel gefunden, in dem er sich zum Thema „Gott und die Welt“ sehr persönlich und hörenswert äußert. Die Sendung gibt’s hier zum Nachhören.
Der Band „Über Gott und die Welt“, dem das obige Zitat entnommen ist, enthält Peter Bichsels gesammelte Texte zur Religion. Diese Texte sind klug, differenziert, hintersinnig, humorvoll, mahnend, melancholisch, manchmal streng, aber immer anregend. Man lernt vieles bei der Lektüre, auch dieses:
„Der Glaube an die Muskatnuß ist etwas Ernstes.“
NK | CK
Peter Bichsel
Über Gott und die Welt. Schriften zur Religion
Herausgegeben von Andreas Mauz
Suhrkamp Verlag, 2009, Broschur
ISBN 978-3-518-46154-9
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Von Elno Murks (ihr wisst, wen ich meine) habe ich dieser Tage gelesen, dass er Mitgefühl für selbstmörderisch hält; Empathie und Menschlichkeit sind für ihn Schwächen. Das gibt uns eine Idee davon, wie die Welt aussehen wird, sollten Murks und seine autoritären Tech-Komplizen ihre Vorstellungen von einem technokratischen Nicht-Staat durchsetzen. Das wird eine Welt, in der Hilflosigkeit und Erbarmen keinen Platz mehr haben.
»Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute.«
So beginnt »Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe« von Helga Schubert. Helga Schubert, Jahrgang 1940, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. 2020 meldete sie sich mit 80 Jahren beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt zurück auf die literarische Bühne. Sie gewann den Preis mit der Geschichte »Vom Aufstehen«.
»Der heutige Tag« ist 2023 erschienen und Schubert beschreibt darin, wie sie mit 80 Jahren ihren dementen, kranken Mann Derden pflegt. Dieser Derden ist Johannes Helm, dreizehn Jahre älter als seine Frau, Maler und ehemaliger Professor für Klinische Psychologie. Mit Derden beginnt Helga Schuberts Tag, mit Derden endet er.
»Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist.«
Entlang eines Tages beschreibt die Autorin in ruhigem Ton und klaren Sätzen, wie das ist, wenn man sich 24 Stunden am Tag um den Menschen kümmert, mit dem man so lange zusammen ist. Sie lässt dabei nichts aus, keines der Ärgernisse, keine der Anstrengungen und Mühen, aber auch keinen der anrührenden, schönen, poetischen Momente, die diese intensive anstrengende Pflege mit sich bringt.
Das Buch ist kein Roman, und trotzdem wird man beim Lesen hineingezogen in den Tag dieses alten Liebespaares, dass sich aller körperlichen Widrigkeiten zum Trotz immer noch so viel zu geben hat.
»Die Amsel sang wieder einmal so schön, Derden hörte sie, und ich dachte an die Ärztin, die mir kürzlich sagte, nun müssen Sie aber auch seinem Körper die Möglichkeit geben zu sterben! (…) Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung, dachte ich. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch auch ausatmen.«
»Der heutige Tag« ist eines der tröstlichsten Bücher, das man in unserer Zeit lesen kann. Helga Schubert lässt sich von den Herausforderung, die jeder Tag bietet, nicht unterkriegen, und sie zeigt uns, wie Loslassen, Annehmen und Friedenschließen trotz aller Mühsal möglich ist. Beeindruckend ist das – und berührend.
Beeindruckend und berührend ist auch der Spielfilm »Heldin«, den wir letzte Woche im Kino gesehen haben. Auch hier geht es um Pflege, Stress, Widrigkeiten und manchmal auch um ganz kurze schöne Momente.
»Heldin«, eine schweizerische Produktion, beschreibt anhand einer Spätschicht den anstrengenden, hektischen Klinikalltag der jungen Krankenpflegerin Floria Lind (überragend dargestellt von Leonie Benesch) in einem Kantonsspital in der Schweiz. Dieser Klinikalltag ist voller großer und kleiner Herausforderungen, die fast im Minutentakt von Floria bewältigt werden müssen, nicht selten zwischen Tür und Angel. Blitzschnell müssen Entscheidungen gefällt werden, die weitreichende, ja dramatische Konsequenzen haben können. Als Zuschauer ist man schon im Kinosessel überfordert.
Da läuft bei einer hochbetagten Patientin die Windel über, als nächstes will ein sehr arroganter Privatpatient keine Sekunde auf seinen Tee warten, und während dessen entwickelt ein Patient eine gefährliche allergische Reaktion auf ein Schmerzmittel. So geht das den ganzen Tag, und Floria hat praktisch keine Zeit, etwas zu essen oder zu trinken. Ist das übertrieben? Nein überhaupt nicht, sagte das befreundete Paar neben uns im Kino, die beide seit vielen Jahrzehnten in verschiedenen Positionen in der Pflege einer großen deutschen Universitätsklinik arbeiten.
»Die Kombination von Regisseurin und Hauptdarstellerin machen »Heldin« zu einem Kleinod des deutschsprachigen Films.« (Perlentaucher)
Dieser Film hätte Filmpreise ohne Ende und Millionen von Zuschauer*innen verdient. Und vor allem sollten sich alle verantwortlichen Politiker diesen Film anschauen, damit sie endlich verstehen, dass der Agrardiesel nicht unser Problem ist.
»Heldin« ist die filmisch beeindruckende Würdigung der Arbeit tausender Krankenpfleger*innen, die jeden Tag dafür sorgen, dass der Betrieb in den Kliniken läuft.
NK | CK
Helga Schubert
Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe
Taschenbuch dtv Verlag
ISBN : 978-3-423-14910-5
Der Schriftsteller und Journalist Renatus Deckert hat Helga Schubert und Johannes Helm im Sommer 2024 in Mecklenburg besucht und einen schönen Text darüber geschrieben. Kann man hier auf seinem Blog »Wolken und Kastanien« nachlesen.
Universitätsklinikum Tübingen mit Albtrauf | © Schöne Postkarten, Tübingen
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Es zwitschert und gurrt –
erste Liebesspiele
in Hecken und Bäumen
Kō
Gestern war offizieller Frühlingsanfang. Überall sprießt und zwitschert es. Flora und Fauna kommen in die Gänge. Allerspätestens jetzt fällt für passionierte Gärtnerinnen und Gärtner der Startschuss ins neue Gartenjahr. Es darf wieder geplant, gegraben, gepflanzt werden. Aber bitte Vorsicht! Die Nachtfröste sind nicht ohne.
Wir empfehlen, neben dem Besuch der Gärtnerei des Vertrauens, unseren stimmungsvollen Gartenbegleiter «Im Garten durch das Jahr«. 24 Haiku und andere Gedichte zeigen mit 48 schönen Gartenfotos ein Gartenjahr in seiner ganzen Fülle und Schönheit. Format DIN A3 (297 x 420 mm, BxH), handgefertigt.
Allen hier einen beherzten Start ins Gartenjahr!
NK | CK
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Das grüne Klavier stand einstmals in der Tübinger Stauden- und Kräutergärtnerei von Erika Jantzen
Über die Tasten
streicht nur noch
der Wind
Kō
Seit dem Frühjahr 2009 bestücken wir diesen kleinen Blog mit Fotos, Texten, Gedichten, Haiku und Gedanken. Warum wir das tun? Weil es uns Freude macht, und weil wir auch ein bisschen hoffen, mit unserem Tun euch, unseren Leserinnen und Lesern, allwöchentlich eine kleine Anregung oder einfach nur einen guten Moment zu bereiten.
Wir haben uns deshalb ganz besonders gefreut, als uns diese Woche ein schmaler Band aus dem Westerwald ins Haus geflattert kam. „Blaue Wunder“ so heißt das neue Buch von Georges Hartmann, dem wir an dieser Stelle noch ganz offiziell und auch ganz herzlich zum Geburtstag gratulieren, den er vor ein paar Tagen gefeiert hat.
Georges Hartmann gehört seit einigen Jahren zu den Lesern des Reklamekasper, die sich von unseren Freitagsbeiträgen so angeregt fühlen, dass sie selbst in die Tasten greifen und einen Kommentar hinterlassen. Wobei der Begriff Kommentar hier stark untertrieben ist. Georges füllt unser Kommentarfeld hier mit Prosaminiaturen, die sich direkt auf den aktuellen Kasper-Beitrag beziehen. Es ist jedes Mal eine Freude, diese Texte zu lesen, aber man sollte sich ein wenig Zeit nehmen, um langsam den melancholisch-mäandrierenden Sätzen zu folgen.
In dem Band „Blaue Wunder“ hat Georges nun 27 dieser Kommentare versammelt und mit einem liebenswürdigen Nachwort versehen. Ein Beispiel:
Am 25. September 2020, es war die Zeit der Corona-Pandemie, haben wir ein Haiku gebracht, in dem sich das lyrische ich mit „Treibgut“ am Strand vergleicht. Angesichts des bedrohlichen Virus war dieser Vergleich nicht völlig abwegig. Davon hat sich nun Georges anregen lassen und selbst ein paar anregende Gedanken ins Kommentarfeld getippt.
„Sich selbst als Treibgut zu bezeichnen finde ich derart faszinierend, dass ich vom Nachdenken kaum lassen kann. Meine Frau hat mich als Treibgut gefunden und insoweit zu einem Glücklichen gemacht, was sie auch von sich behauptet. Es ist eben ein ewiges Geheimnis, dass man jene zwei Muschelschalen am Strand findet, die einstmals ein Ganzes gebildet haben und nicht allen beschieden ist. Siehe hierzu auch das Buch von Morrow Lindbergh (Muscheln in meiner Hand) …“
Das Haiku vom Wind, der nur noch über die Tasten streicht, widmen wir Georges Hartmann zum Geburtstag. Es ist, wenn man so will, eine Antwort auf ein sehr typisches Haiku des Issa aus dem Westerwald:
Einsamer Playboy!
Über dein schütteres Haar
streicht nur noch der Wind
CK | NK
Georges Hartmann
Blaue Wunder. Gedankenspiele
bon-say-verlag, 2025
Softcover, Fadenbindung, 84 Seiten
ISBN: 978-3-945890-58-5
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Die Welt wackelt
aber droben, ganz stabil
stehet die Kapelle
Was sind das für Wochen gerade? Eine Schreckensnachricht jagt die nächste. Gut, dass es Dinge gibt, auf die man sich verlassen kann. Die romanische Krypta unter der oft besungenen Wurmlinger Kapelle wurde zu Beginn des 12. Jahrhunderts gebaut. 1644 wurde der gotische Nachfolgebau bei einem Feuer zerstört. Die kleine barocke Kapelle, die man heute von weithin bestaunen kann, wurde 1685 geweiht. Und sie wird noch stehen, wenn die Irren aus dem Weißen Haus längst auf dem Weg zum Mars sind.
Allen, die von der großen und kleinkarierten Politik gerade genug haben, empfehlen wir den feinen Film „A Great Place to call Home“ mit ganz wunderbaren Hauptdarstellern, die uns zeigen, was Menschlichkeit bedeutet. Eine tröstliche, lebensbejahende Tragikomödie!
Auf welche Weise erholt ihr euch vom Dauerfeuer der Nachrichten?
NK | CK
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Nimm die wichtigsten Dinge. Die Briefe zum Beispiel.
Nimm die leichten Sachen, die wiegen nicht viel.
Nimm die Heiligenbilder, das Silberbesteck,
nimm die Kreuze, den Goldkram, wir gehen weg.
Nimmt ein bisschen Gemüse und vom Brot ein Stück.
Wir kommen nie wieder hierher zurück.
Wir werden die Städte nicht wiedersehn.
Nimm die Briefe, auch schlimme, dann lass uns gehn.
Wir müssen die Nachtkioske verlassen.
Die Gesichter der Freunde werden verblassen.
Aus dem trockenen Brunnen ist kein Wasser zu ziehn.
Wir zwei sind Flüchtling. Nachts müssen wir fliehn.
Wir laufen an Sonnenblumenfeldern vorbei.
Wir flüchten vor Hunden, schlafen im Heu.
Wir gieren nach Wasser, kampieren in Lagern
und quälen die Drachen auf Truppenfahnen.
Die Freunde sind fort, auch du bist verschwunden.
Es fehlen die Stellen, die Küchenrunden.
Nachts fehlt in den Orten das schläfrige Licht.
Grüne Täler und Brachen, es gibt sie nicht.
Schmierige Sonne gibt’s, die durch Zugfenster dringt,
die Choleragrube, zu der man Kalkpulver bringt.
Die Frauenfüße im blutigen Schuh,
Wachposten im Grenzschnee kommen dazu.
Ein verwundeter Briefträger mit leerem Sack,
ein Gehenkter, lächelnd, im Priesterfrack,
Friedhofsstille, Lärm auf Kommandanturen,
Totenlisten, gedruckte, ohne Korrekturen,
Namen, endlos aneinandergereiht,
den eignen zu suchen ist keine Zeit.
Serhij Zhadan | Übertragung: Esther Kinsky
„Ruhm der Ukraine“ lautet die deutsche Übersetzung für den Gruß „Slawa Ukrajini“; die Antwort auf diese Grußformel heißt Herojam Slawa, auf Deutsch „Den Helden Ruhm“. Oft konnte man am vergangenen Montag diese Sätze auf dem Tübinger Holzmarkt hören, von Ukrainerinnen und Ukrainern mit Inbrust gerufen. Zum dritten Jahrestag des völkerrechtswidrigen, vollumfänglichen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hatten verschiedene Gruppen zur Solidaritäts-Kundgebung für die Ukraine aufgerufen, unter anderem: Tübingen hilft Ukraine, Sonnenblau und der Ukrainische Verein Tübingen.
Wie wichtig diese Unterstützung gerade jetzt ist, zeigt die Tatsache, dass der amerikanische Präsident die Fakten komplett verdreht, indem er der Ukraine die Schuld an diesem Krieg gibt und den ukrainischen Präsidenten einen Diktator nennt. Angsichts der pausenlosen, brutalen russischen Angriffe auf die Ukraine sind die Aussagen des amerikanischen Präsidenten ein zynischer Schlag ins Gesicht der Ukrainerinnen und Ukrainer. Dies haben die Rednerinnen und Redner am 24. Februar 2025 auf dem Holzmarkt klar zum Ausdruck gebracht.
Mit einem 2015 entstandenen Gedicht des ukrainischen Schriftstellers und Dichters Serhij Zhadan erinnnern wir diese Woche daran, dass der Angriff Russlands nicht erst im Februar 2022 begonnen hat, sondern bereits mit der russischen Annektion der Krim und dem russischen Angriff auf die Ostukraine im März 2014. Dieses Gedicht des vielfach ausgezeichneten Zhadan findet man in dem beeindruckenden Band „Warum ich nicht im Netz bin – Gedichte und Prosa aus dem Krieg“, der 2016 bei Suhrkamp erschienen ist. Übersetzt wurden die Gedichte und Prosatexte von Claudia Dathe und Esther Kinsky, und zwar so gut, dass Zhadans Worte auch im Deutschen ihre volle Wirkung entfalten.
Kerstin Holm nannte Zhadans Buch in ihrer Kritik in der F.A.Z. (21.2.2017) ein „Meisterwerk“. Der in Charkiw lebende Autor zeichnet mittels eindrucksvoller Porträts, Reisenotizen, Kriegseindrücke, Charakterstudien ein differenziertes, schonungsloses Bild der damaligen Situation in der Ostukraine. Wie sich diese Situation in der Ukraine heute darstellt, können wir jeden Tag in den Nachrichten, Zeitungsartikeln, Reportagen lesen, hören und sehen.
Die Ukraine braucht die volle Unterstützung Europas und keinen Diktatfrieden!
NK | CK
Serhij Zhadan
Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg
übersetzt von Claudia Dathe und Esther Kinsky
Broschur, 180 Seiten, edition suhrkamp, 2016
ISBN: 978-3-518-07287-5
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Immer wenn wir am Samstag mit dem Bus aus der Stadt nach Hause fahren, kommen wir auf dem Weg zur Bushaltestelle an einem der letzten Antiquariate Tübingens vorbei.
Norbert Schuler heißt der stets freundliche Inhaber des legendären Antiquariats Bader, und er ist umgeben von tausenden von Büchern. Ein Paradies! Einige dieser Schätze stellt Herr Schuler immer in seine Stöberkästen vor die Tür. Ganz ehrlich, ich kann da nicht vorbeilaufen, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Und ich finde fast immer ein interessantes Buch.
Vor ein paar Wochen habe ich dort „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze entdeckt und sofort gekauft. Ein Klassiker, und ich wollte das Buch schon lange mal lesen. Die schmale Sammlung von Prosatexten wurde 1976 erstmals in der Bundesrepublik veröffentlicht. Reiner Kunze hat die Texte zu seinem Buch 1975 in der DDR verfasst und dann in die Bundesrepublik schmuggeln lassen. Die DDR-Oberen waren nicht begeistert von dem, was sie da lesen mussten. Kunze wurde aus dem Schriftstellerverband der DDR geworfen, bekam jede Menge Schwierigkeiten und siedelte schließlich mit seiner Familie im April 1977 in die Bundesrepublik Deutschland über.
Die Schulbehöre in N. wies die Direktoren an, zu verhindern, daß Fach- und Oberschüler die Mittwochabend-Orgelkonzerte besuchen. Lehrer fingen Schüler vor dem Kirchenportal ab und sagten den Eltern: Entwederoder. Eltern sagten ihren Kindern: Entwederoder. Bald reichten die Sitzplätze im Schiff und auf den Emporen nicht mehr aus. (Meldung, die in keiner Zeitung stand)
Reiner Kunze beschreibt in dem Band in kurzen, prägnanten Texten alles andere als wunderbare Jahre für die jungen Menschen der DDR. Seine ummissverständliche Kritik am System der DDR, das gnadenlose Anpassung und strikten Gehorsam verlangte, kommt hier klar zum Ausdruck. Es wundert nicht, dass Kunzes Akte bei der Staatssicherheit, Decknahmen „Lyrik“ zum Ende der DDR mehr als 1000 Seiten umfasste.
„Na gut“, sagte der Direktor, „es waren keine ausgewaschenen Jeans, es waren hellblaue Cordhosen, einverstanden. Aber müssen es überhaupt Hosen sein? Wenn die Mädel so angetreten sind, alle in ihren kurzen Röcken, das gibt doch ein ganz anderes Bild.“ Dabei schnalzte er mit der Zunge.
In nüchternen Sätzen drückt Kunze aus, wie sehr der SED-Staat auf Unterdrückung, Homogenität, frühe Militarisierung und Gehorsam setzte. Und er macht deutlich, wie sehr dieser Unrechtsstaat Angst vor der individuellen Entfaltung seiner Bürgerinnen und Bürger hatte. Alles war diesem Staat verdächtig: Jeans, Orgelmusik, Bücher, Nickelbrillen und vieles mehr. Gerade für junge Menschen muss diese permanente Kontrolle und Gängelung kaum erträglich gewesen sein. Wie gut die sozialistische Erziehung schon bei den kleinsten DDR-Bürgern in der Grundschule funktioniert hat, zeigt der erste Text dieses sehr lesenswerten Buches.
SECHSJÄHRIGER
Er durchbohrt Spielzeugsoldaten mit Stecknadeln. Er stößt sie ihnen in den Bauch, bis die Spitze aus dem Rücken tritt. Er stößt sie ihnen in den Rücken, bis die Spitze aus der Brust tritt.
Sie fallen.
„Und warum gerade diese?“
„Das sind doch die anderen.“
„Die wunderbaren Jahre“ wurden schnell zu einem Beststeller, von westdeutschen Linken mit Betroffenheit gelesen, der in viele Sprachen übersetzt wurde. Das Buch ist ein eindrückliches, lesenswertes Zeitzeugnis, über das der Literaturchef der ZEIT und Autor Adam Soboczynski vor ein paar Jahren sagte:
„Wer noch oder wieder glaubt, die DDR sei ein an sich lohnendes Experiment gewesen, sollte diesen Klassiker zur Entgiftung lesen.“
Vor ein paar Tagen habe ich in der Süddeutschen Zeitung ein Bild von einer AfD-Demonstration gesehen. Zu sehen ist ein mittelalter Mann mit schwarzer Wollmütze und zwei großen Flaggen an einer Stange, die er über der Schulter trägt. Es sind die Flaggen Russlands und der DDR. Wenn man nach der Lektüre von Kunzes Buch so ein Bild sieht, versteht man die Welt nicht mehr. Die unverhohlen zur Schau getragene Ostalgie und die Sehnsucht nach einem autoritären Staat gehören aber offensichtlich zum Umdeutungsprogramm der DDR-Vergangenheit von rechts. So beschreibt es der Historiker Volker Weiß in seinem neuen Buch „Das Deutsche Demokratische Reich“, das Ronen Steinke gerade in der Süddeutschen Zeitung rezensiert hat.
Am Sonntag wird der Deutsche Bundestag neu gewählt, und man fragt sich, wie das alles zusammengeht? Auf der einen Seite der Ruf von rechts nach einem kompromisslosen, autoritären Staat mit einer völkischen Gesinnungspolizei, auf der anderen Seite dieses ständige verlogene Gejammere der rechten Populisten, dass man in Deutschland nicht mehr alles sagen dürfe.
Aber der Blick nach Westen über den Atlantik, für die Jugendlichen in Ost und West lange Zeit eine Art gelobtes Land, stimmt einen auch nicht hoffnungsfroh in diesen Tagen. Die Trump-Administration hat Meinungsfreiheit längst umdefiniert. Sie gilt nur noch für jene, deren Äußerungen zu Trumps irrem Plan des sogenannten Golden Age of America passen. Willkommen im Jahr 1984!
Ich wünsche uns allen eine gute, demokratische Wahl! Seien wir fürsorglich zu unserer liberalen Demokratie, sie hat lange gehalten, aber sie ist zerbrechlich. Dabei brauchen wir sie gerade jetzt!
NK | CK
Reiner Kunze
Die wunderbaren Jahre
FISCHER Taschenbuch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-596-22074-8
Neuausgabe mit einem Vorwort von Ines Geipel
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„Um die Februarmitte, am Valentinstag, paaren sich die Vögel. Aber die Vögel müssen aufpassen, daß die Bitternis der Welt ihre Liebe nicht zerreißt.“
Diese poetischen Zeilen schreibt der Schriftsteller Wilhelm Lehmann am 8. Februar 1928 in sein »Bukolisches Tagebuch«. 2014 hat Judith Scharlansky das Buch in der bibliophilen Reihe »Naturkunden« im Verlag Matthes & Seitz herausgegeben. Man kann die Herausgeberin und den Verlag für diese wunderbare Reihe gar nicht genug loben. Die Bücher zu den unterschiedlichsten Themen sind hervorragend gesetzt und gestaltet und sehr gut produziert. Inhalt, Satz, Papier, Bindung, Umschlag: da stimmt alles.
„Wer denkt, daß wir Menschenkinder auf einer Kugel hausen, die durch den unendlichen Raum kreist, wird sich mit Lichtenberg nicht darüber wundern, daß der Wind über die Erde geht, wohl aber, daß je Windstille bei uns gedeihen kann.“
Wilhelm Lehmann, Jahrgang 1882, wuchs in Hamburg als Sohn eines Kaufmanns und einer Arzttochter auf. Er studierte in Tübingen, Straßburg und Berlin Philosophie und Naturkunde. Im Ersten Weltkrieg desertierte er und geriet in englische Gefangenschaft. Später unterrichtete er bis 1947 als Lehrer in Eckernförde an der Ostsee Deutsch und Englisch. 1923 erhielt er, gemeinsam mit Robert Musil, den Kleist-Preis. Lehmann starb 1968 in Eckernförde.
Sein «Bukolisches Tagebuch« hat dieser feine Autor in einer historisch dramatischen Epoche, zwischen Oktober 1927 und Oktober 1932, geschrieben. Ein Glücksfall für uns Leserinnen und Leser!
„Hinter dem leisen Gebirge des Feldes klirrt der Ruf der Rebhühner hervor. Es klingt wie das Wetzen von Messern. Denn der Winter stößt noch mit Eisdolchen.“
Hat man sich einmal auf den Lehmann-Sound eingelassen, folgt man ihm gerne auf seinen Spaziergängen im Verlauf der Jahreszeiten, immer hart am Wind, immer entlang der sturmgepeitschten Küste und der einsamen Wege im Hinterland Schleswig-Holsteins.
Alles, was Lehmann sieht, und er übersieht nichts!, bringt ihn zum Staunen und ist ihm berichtenswert: Vögel im Sturm, neugeborene Schafe, Raupen, Mäuse, welke Blätter, von der Last der Arbeit gebeugte Menschen. Mit einem Wort: Dieser Dichter, der heute fast vergessen ist, lehrt uns sehen und staunen. Das ist Nature Writing in deutscher Sprache zu einer Zeit, als dieser Begriff in Deutschland noch nicht existierte.
»Jedes Tier, das vergeht, jede Art von Lebewesen, das ausstirbt, verdünnt das Weltvokabular, bringt uns weiter zurück von der Wahrheit, die nur aus dem Zusammenhang aller Wesen sich heraufarbeitet.«
Wilhelm Lehmann wollte, wie Hans Zischler im Nachwort schreibt, „die bedrohte Schöpfung in die Sprache retten“. Lehmanns »Bukolisches Tagebuch« zeigt uns die Schönheit und die Verletzlichkeit der Natur, von der wir nur ein Teil sind.
NK | CK
Wilhelm Lehmann
Bukolisches Tagebuch
Paperback, 279 Seiten
Matthes & Seitz Berlin, 2022
ISBN: 978-3-7518-0116-4
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