Ich weiß nicht, woran Sie denken, wenn Sie morgens unter der Dusche stehen? Ich will ganz ehrlich sein, ich denke seit ein paar Tagen beim Duschen immer mal wieder an Gabriel Yoran. Immer dann, wenn unser Brauseschlauch anfängt, komisch zu agieren, nur weil ich den Duschkopf von der rechten in die linke Hand wechsle. Kennen Sie das auch? Keine Sorge, wir sind nicht alleine. Damit zu Gabriel Yoran, der seinen Brauseschlauch, sein Induktionskochfeld, den Computer seines Vaters, einen Kaffeevollautomaten und dergleichen Alltagsdinge mehr zum Anlass genommen hat, eines der besten Sachbücher zu schreiben, das ich in diesem Jahr gelesen habe.
»Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)«
»Ich will nicht hinnehmen, dass dieses Ding, das immerhin von einem führenden deutschen Markenartikler stammt, mir jeden Morgen eine eckige, entwürdigende Körperpflegechoreografie aufzwingt. Vor allem aber will ich mich nicht mit meinem Brauseschlauch befassen müssen. Das hat doch alles schon mal funktioniert!«
Gabriel Yoran ist Autor, Unternehmer, Journalist und hat über »Objekte« im Fach Philosophie promoviert. Yoran hat, wie viele von uns, an den verschiedensten Gegenständen des Alltags, die wir so kaufen, »eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Fort- und Rückschritt« beobachtet. Heißt: Dinge, die schon mal gut und problemlos funktioniert haben, werden mit der nächsten Version nur in der Werbung besser. Ein Fortschrittsversprechen an uns Verbraucher, das sehr, sehr viele Dinge nicht einlösen können.
»Das Unbehagen am Konsum ist nicht nur mein individueller Eindruck. Überall in der westlichen Welt sitzen Verbraucher:innen verzagt vor ihren Anschaffungen.«
Glomb
Als wir vor mehr als 30 Jahren mit unserer Firma in neue Räume gezogen sind, haben wir zwei große Investitionen getätigt. Zum einen haben wir in Hard- und Software investiert, zum anderen in neue Büromöbel. Der Drucker, den wir damals gekauft haben, war ein Schwarzweiß-Monster von HP mit mehreren Schächten. Nicht billig, aber extrem solide und extrem zuverlässig. Er lief ohne Murren mehr als 15 Jahre. Dann waren Farblaser angesagt, und wir haben den alten HP schweren Herzens in Zahlung gegeben (ja, das gab’s auch mal). Der neue Farbdrucker, auch von HP, druckte zwar bunt, aber er war zickig und nervös wie ein Araberhengst beim Großen Preis von Baden-Baden; und gehalten hat er auch nicht so lange. Mittlerweile drucken wir kaum noch, ärgern uns aber jedes Mal über unseren klapprigen Farb-Tintenstrahler, der ständig was von einem möchte und mal ansteuerbar ist und mal nicht. Ein Glomb würde man auf gut Schwäbisch sagen. Die Büromöbel waren sind von USM Haller, und die halten locker noch 100 Jahre.
Krempel ist überall
Man kann Gabriel Yoran nicht genug danken für seine glänzend geschriebene Waren- und Konsumkritik, in der auch der Humor nicht zu kurz kommt. »Die Verkrempelung der Welt« legt den Finger gnadenlos in die offenen Wunden der Produktentwicklung und der Vertriebsstrategien von Konzernen und Handelsgiganten, die uns pausenlos erzählen wollen, dass alles immer besser wird. Wird es nicht.
Yoran will es nicht mehr hinnehmen, dass die Dinge häufig zwar teurer, aber oft schlechter werden. Ein Phänomen, das Kaffeevollautomaten, Flachbildfernseher oder Regale genauso betrifft wie Software oder auch Soziale Plattformen. Immer werden uns Produkte vorgesetzt, die »gerade gut genug sind, dass die Kundschaft nicht in Massen davonläuft.«
Überzeugend vertritt der Autor die These, dass gute Produktqualität wichtig ist, und zwar in vielerlei Hinsicht.
»Die Dinge des Alltags sind nicht egal, denn gute Dinge machen gute Dinge mit uns – und schlechte Dinge schlechte. Wenn wir die schlechten Dinge befragen, die Bedingungen, unter denen sie entwickelt und vertrieben werden, erzählen sie von uns von den Ursachen, Mechanismen und Anreizsystemen, die sie schlechter sein lassen, als sie sein sein müssten.«
Das Gespür für Qualität geht verloren
Darüber hinaus, so meine Beobachtung, sinkt in einer Gesellschaft, die auch dank Temu und diesen grässlichen Ein-Euro-Ramsch-Läden mit immer mehr Krempel geflutet wird, das Gespür für Qualität, und zwar in allen Bereichen. Als Verbraucherinnen und Verbraucher verlernen wir Qualität kritisch zu beurteilen, sei es bei einem Produkt oder bei einem Text.
Dieses Absinken des Qualitäts- und damit auch Anspruchsniveaus haben wir im Bereich der Unternehmenskommunikation in den letzten Jahrzehnten schön beobachten können. Denn wenn Quick and Dirty (ein furchtbarer Ausdruck!) die Vorgabe bei der graphischen Gestaltung von Broschüren, der Fotografie von Produkten oder bei der Erstellung von Texten ist, dann bleibt die Qualität in der Regel auf der Strecke.
Warenkritik und Warenkunde
Was tun gegen die Verkrempelung der Welt? Gar nicht mehr konsumieren? Ist auch keine Lösung, sagt Yoran, weil nicht praktikabel. Aber wie kommen wir zu guten Produkten? Und was macht überhaupt ein gutes Produkt aus? Und welche unserer Bedürnisse sind gerechtfertig, welche werden uns eingetrichtert?
Gabriel Yoran hat auch keine Patentlösung, wie wir dahin kommen könnten, dass Produkte, die besser werden, nicht an anderer Stelle schlechter werden. Aber er schlägt eine neue, eine progressive Warenkunde vor, die auch berücksichtigt, dass der technische Fortschritt nicht immer mit gesellschaftlichem Fortschritt einhergeht. Eine progressive Warenkunde dürfte sich nicht nur auf Material und Herstellung beschränken, wie die klassische Warenkunde in früheren Zeiten, so der Autor. Sie müsste auch die Produktionsbedingungen und Lieferketten bis hin zu den Kobaltminen im Kongo berücksichtigen.
»Ein gutes Produkt im Sinne einer progressiven Warenkunde würde von der Kundschaft mitgestaltet und könnte von ihr angepasst werden.«
Großartige Idee, wie ich finde. Auch die Nachhaltigkeit ist Yoran wichtig. Lässt man die ästhetische Nachhaltigkeit mal außen vor, geht es ihm um so selbstverständliche Dinge wie »Materialangemessenheit, Offenheit für sich ändernde Ausgaben, Reparierbarkeit, Recyclebarkeit, die Verfügbarkeit von Ersatzteilen und eine gute Dokumentation.«
Man fragt sich als Leserin automatisch, warum diese selbstverständlichen Kriterien in den Vorständen von Unternehmen keine oder allenfalls nur eine marginale Rolle spielen? Weil man dort denkt, der Kunde ist blöd, der wird das Zeug schon kaufen? Könnte sein.
Eine progressive Warenkunde, und mit ihr einhergehend eine aufgeklärte, informierte Kundschaft, müsste die Hersteller in die Pflicht nehmen. Ob das gelingen kann? Fraglich, solange die Kunden marktbeherrschenden Shopping-Portalen so viel Billigdreck abkaufen, dass der Zoll in Frankfurt bei der Importkontrolle nur Stichproben machen kann. Und was ist mit unseren Bedürfnissen, die von der Industrie pausenlos geweckt und manipuliert werden? Fragen über Fragen, über die es sich lohnt, nachzudenken.
»Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander, nach den legitimen Bedürfnissen.«
Ein guter Ausgangspunkt für diese Suche nach dem guten Leben ist auf jeden Fall, Gabriel Yorans Buch zu lesen. »Die Verkrempelung der Welt« ist der ideale Begleiter auf dem Weg zum aufgeklärten Verbraucher und zu weniger Krempel.
NK | CK
PS: Das Buch sollte Pflichtlektüre für angehende Ingenieurinnen und Betriebswirte sein.
Buchinformation
Gabriel Yoran
Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)
edition suhrkamp, 2025
ISBN: 978-3-518-03002-8
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…einen wieder neugierig gemacht !
Und sogleich an den einen oder anderen Freund gedacht,der lebenserfahren und weise genau diesen Lebensstil pflegt ohne missionarisch oder konsumverweigernd im Diogenesfass zu sitzen…
[ Für Norbert: z.B. unser alter Wirt Helmut G.]
Danke für Inspiration und mit kleinem Verweis auf eine f“innische Perle“ die wir in Helsinki entdeckt haben: Tove Jansson mit „Mumins lange Reise“
Gruß, Rainer Bosch