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Wie fühlst du dich?

»Wie fühlst du dich?« Das fragt sich so leicht. Axel Hacke will’s genau wissen.

»Wie fühlst du dich?« Im Alltag oft so dahin gefragt, geht Axel Hacke der Frage auf den Grund, Foto: Trouville Plage

Angst

»Angstzustände sind weltweit die häufigste psychische Erkrankung. Schätzungen zufolge leiden 4 bis 5 Prozent der Weltbevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer Angststörung. Langzeitstudien in den Vereinigten Staaten legen nahe, dass etwa ein Drittel der Menschen irgendwann in ihrem Leben eine Angststörung entwickelt.«

Das berichtet die informative Seite »Our World in Data« der Universität Oxford. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass knapp 360 Millionen Menschen zu einem bestimmen Zeitpunkt an Angststörungen leiden; in Deutschland sind es übrigens 6,7 Millionen. (Quelle: Our World in Data)

Angst kennen wir alle. Der eine ausgeprägter, die andere versteckter. Manche Angst verfolgt uns ein Leben lang, andere Ängste entstehen neu, besonders in einer Welt, die sich rasend schnell verändert, dass man kaum mehr hinterherkommt. Die Frage ist, wie gehen wir mit unsereren Ängsten um? Warum lassen wir es zu, dass Tech-Milliardäre mit ihren Sozialen Plattformen ein Riesengeschäft mit ihnen machen? Und warum fallen so viele Menschen auf rechtsextreme Populisten rein, die unsere Ängste schüren und so gekonnt wie perfide mit unseren Gefühlen spielen?

„Wie fühlst du dich? Über unser Innenleben in Zeiten wie diesen“

»Mein Leben lang habe ich Angst gehabt, mal viel, mal weniger. Vielleicht gibt es kein Gefühl, das ich in so vielen Formen, Schattierungen, Ausprägungen und Tiefen kennengelernt habe.«

Das schreibt der Autor und Kolumnist Axel Hacke in seinem neuesten Buch »Wie fühlst du dich?«, in dem er sich intensiv mit der Angst und anderen Gefühlen und Bedürfnissen auseinandersetzt. Der Autor, den manche vielleicht nur als Verfasser humoriger, heiterer Texte kennen, hat sich tief in ein ernstes Thema eingegraben, viel recherchiert und gelesen. Man spürt das auf jeder Seite. Wir finden: Hacke hat ein wichtiges und sehr ehrliches Buch geschrieben, dessen Lektüre Orientierung zu bringen vermag und auch ein wenig Trost, den man spürt immer wieder: ich bin mit meinen Gefühlen nicht allein. Und deshalb lesen wir ja.

Warum ist es so wichtig, uns mit unseren Gefühlen und denen unserer Mitmenschen auseinanderzusetzen?, fragt sich der Autor und meint:

»Wenn sie eine solche Rolle in Ökonomie und Politik spielen, können wir nur freie Menschen sein, wenn wir in der Lage sind, unsere Gefühle zu reflektieren.«

Denn können wir das nicht, so Hacke, laufen wir Gefahr, dass unsere Gefühle manipuliert, instrumentalisiert und gnadenlos wirtschaftlich ausgebeutet werden: von Social-Media-Unternehmern aus dem Silicon Valley und von rechtsextremen Parteien. Weder den Tech-Milliardären noch den rechten Populisten geht es dabei um unser Wohl oder um den Zustand unseres Planeten. Diesen Leuten geht es ausschließlich um ihre ganz eigene Agenda, um Macht und um Geld.

Hacke beschäftigt sich in diesem Buch mit wichtigen Fragen, die uns als Einzelne und als Gesellschaft beschäftigen müssen.

»Wie gehen wir mit der Angst um, die uns alle in Atem hält? Was ist mit der Verbundenheit mit anderen Menschen, nach der wir alle suchen? Was ist mit unserem Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der Stürme, die auf uns zurollen? Sollten wir wieder lernen, zu staunen und uns zu wundern? Was tue ich mit meiner Wut? Darf ich hassen, auf Rache sinnen, andere verachten? Was ist mit der guten alten Lebensfreude?«

Ermutigung zum Nachdenken

axel hacke, wie fühlst du dich?Angst, Freude, Müdigkeit, Überforderung, Sorgen-Karussel, Einsamkeit, Verbundenheit, Sinn, Wut, Ohnmacht, Hass, Tod, Verzweiflung, Hoffnung, Freundlichkeit, Dankbarkeit. Entlang dieser Stationen nimmt Hacke uns mit auf eine 250seitige Reise. Eine Reise, bei der wir sehr viel über unsere Gefühle, deren Entstehen und deren Erkennen, lernen. Hacke gelingt es, Zeitanalysen, theoretisches Wissen und Persönliches gekonnt miteinander zu verbinden. Dabei ist »Wie fühlst du dich?« weniger eine Warnschrift als eine kluge Ermutigung zum Nachdenken und zum Handeln.

»Besser ist: sich zu überlegen, wie und wer man sein will. Und dann entsprechend zu handeln, beharrlich, gelassen, zielstrebig. Ich glaube, dass Freundlichkeit die Welt verändern kann, an jedem Tag und in jeder Minute.«

Ungeachtet aller schlechten Nachrichten, die wir uns dank Smartphone und Social Media 24 Stunden am Tag theoretisch reinziehen können, glaubt Axel Hacke an die Kraft der Hoffnung und an die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Allerdings müsse man dann auch von dieser besseren Zukunft erzählen:

»Man muss von einer Zukunft berichten, in der wir nicht wehrlos Öl- und Gaslieferanten ausgeliefert sind, sondern Energie auf klimaverträglichem Weg zu erzeugen in der Lage sind, in der es uns gelingt, die Maßlosigkeit Superreicher zu begrenzen, die Kommunikationssysteme, mit denen man uns beherrschen will, zu unseren zu machen und die sozialen Medien wirklich sozial zu gestalten.«

Die Fähigkeit, von einer besseren Zukunft zu erzählen, sehen wir im Moment bei den Regierungsverantwortlichen dieser Welt leider kaum. Statt dessen werden wir meist mit Allgemeinplätzen zugesülzt, oder aber Politiker lamentieren, die Laune im Land wäre schlecht(geredet). Tja, man kann halt gute Laune oder ein Zusammengehörigkeitsgefühl nicht einfach durch einen Politikermachtwort verordnen.

»Die Politiker heutzutage lesen viel zu wenig«

Das hat die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in einem Interview mit dem Deutschlandfunk gesagt. Es wäre zu schön, wenn dieses kluge Buch vielen Politikerinnen und Politikern unter den Weihnachtsbaum gelegt würde.

Aber vielleicht geht es Axel Hacke auch mehr darum, dass jeder einzelne, nach dieser Fähigkeit in sich sucht…

Wir wünschen eine lesensreiche Adventszeit!

NK | CK

Buchinformation

Axel Hacke
Wie fühlst du dich? Über unser Innenleben in Zeiten wie diesen
Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
DuMont Buchverlag, 2025
ISBN: 978-3-8321-6810-0

Axel Hacke schreibt auch einen interessanten Newsletter, den man auf seiner Homepage abonnieren kann.

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Vom Überwintern – Tübingen im Schnee

Ein gutes Buch, eine warme Decke, ein schöner Leseplatz: der Winter kann kommen

Ein gutes Buch, eine warme Decke, ein schöner Leseplatz: der Winter kann kommen

Überwintert
habe ich
mit Lesen

Tübingen im Schnee zu fotografieren, wird vermutlich immer schwieriger

Tübingen im Schnee zu fotografieren, wird vermutlich immer schwieriger

Tübingen im Schnee

Das Haiku von Kō und die beiden Fotos sind Teil des Fotoprojekts von Corinna: »Tübingen im Schnee«. Funktioniert wunderbar als Adventskalender mit 24 Fensterchen; 2 mal 24 Fotos, dazu Aphorismen und Zitate zur Literarur und zum Lesen, Format: DIN A3. Handgefertigt und in kleiner Stückzahl produziert.

CK | NK

„Tübingen im Schnee“ | 2 x 24 Fotos mit Zitaten und Aphorismen | © www.schoenepostkarten.de

„Tübingen im Schnee“ | 2 x 24 Fotos mit Zitaten und Aphorismen | © www.schoenepostkarten.de

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Insel am Rand der Welt

„Alles zwischen Meeresgrund und Himmel stand unter dem Schutz dieser siebzigjährigen Frau“

„Alles zwischen Meeresgrund und Himmel stand unter dem Schutz dieser siebzigjährigen Frau“

Insel am Rand der Welt

Wer wünschte sich in dieser Zeit nicht schon mal auf eine einsame Insel, fernab vom Tosen dieser Welt? Der Titel „Insel am Rand der Welt“ des neuen Buchs von James Rebanks, erschienen im Penguin Verlag, scheint also bestens zu passen.

Dennoch stellten wir uns die Frage, warum wir einem englischen Farmer und Schafzüchter um die 50 auf die völlig entlegene norwegische Insel Fjærøy folgen sollten, wo er drei Monate lang zwei älteren Norwegerinnen helfen wird, eine alte, eigentümliche Tradition aufrechtzuerhalten. Bei der Tradition handelt es sich um das Anlocken und den Schutz von Eiderenten, deren kostbare Eiderdaunen von Hand eingesammelt und gesäubert werden, nachdem die Enten mit ihrem Nachwuchs die Insel wieder verlassen haben. Das schien uns, ehrlich gesagt, schon ziemlich spezieller Lesestoff…

Hier nun der Versuch einer Antwort, warum es sich tatsächlich sehr lohnt, „Insel am Rand der Welt“ zu lesen:

Weil dieser Mann, der Ich-Erzähler, eben James Rebanks ist und unglaublich gut erzählen kann, wie er in seinen ersten beiden Büchern (‚Mein Leben als Schäfer“ und „Unser kleiner Hof in den Hügeln“) schon bewiesen hat.

Gefangen im Alltag

Eigentlich ist Rebanks erschöpft und „aus dem Lot“. Er erhofft sich von dieser Auszeit auf der norwegischen Insel eine innere Stärkung, vor allem durch die etwa 70jährige Anna, die er vor Jahren schon einmal getroffen hat und die ihm so gefestigt und zufrieden erschien. Aber dann kommt alles anders, denn Anna geht geschwächt auf die Insel und fällt erstmal wochenlang aus.

„Ich war unruhig. Der Wechsel aus meinem manischen, hektischen Leben in dieses stille Dasein schien mich aus der Bahn zu werfen. Wieder juckte es mich in den Fingern, die Arbeiten auf der Insel gewohnt schnell zu erledigen. Ich wollte Anna Aufgaben abnehmen, etwa Holz hacken oder Sachen ins Haus holen. Ich wollte all das rasch und effektiv erledigen, um dafür gelobt zu werden, mich nützlich gemacht zu haben. Offenbar spürte Anna, dass ich mich eingesperrt fühlte, denn sie sagte, bis zum Eintreffen der Enten dürfe ich überall hin, nur nicht das Ruderboot nehmen. (…) Ich begriff, dass der Glaube, Inseln seien Orte der Freiheit und des Entkommens, purer Einbildung entspringt – eine Insel definiert sich durch Grenzen und Beschränkungen.“

Ein kleines Haus ohne fließend Wasser

Der Erzähler und die zweite, etwas jüngere Norwegerin, Ingrid, die eigentlich nichts von der Anwesenheit des Engländers auf der Insel hält, müssen die anstehenden Arbeiten zu zweit angehen. Es dauert etwas, bis sich das Trio aneinander gewöhnt hat, und die beiden Frauen Vertrauen in Rebanks fassen. An den stürmischen Tagen müssen die drei in dem beengten Inselhaus miteinander klarkommen. Nach und nach erzählen sie einander dann aber aus ihren jeweiligen Leben:

„Anna schien über meine Arbeitskraft hinaus einen Nutzen in mir sehen, das spürte ich. Sie wollte, dass ich über ihre Leute und deren Vergangenheit im Bilde war. Wie jede Generation definierte auch sie sich durch die alten Geschichten, doch die Menschen, die diese Geschichten zu erzählen wussten, starben allmählich aus. Wenn Anna mir an einem der folgenden Tage eine Geschichte erzählte und merkte, dass ich nicht mitschrieb, starrte sie mich an, als hätte ich die Bedeutung des Erzählens nicht erkannt, und sah danach aufs Papier, als wollte sie, dass ich alles festhielt.“

Hier auf dieser Insel unweit vom Polarkreis findet der Erzähler Zeit, über sein Leben nachzudenken, das auch zu Hause in England von rastloser Arbeit auf der Farm geprägt ist. Er lässt uns teilhaben an seinen Entscheidungen und seinen oft ambivalenten Gefühlen und verknüpft dies anschaulich mit seinen Beobachtungen in der Natur:

„Zu Hause war ich es, von dem man Engagement erwartete, auch im Falle von Widrigkeiten, was ich irgendwann leid gewesen war. Ziehende Gänse wechseln sich an der Spitze ab, weil es die kraftraubendste Position ist, alle anderen sind im Windschatten unterwegs, werden also mitgezogen. Sie lassen sich zurückfallen, um verschnaufen zu können, aber so weise sind Menschen nicht. Ich hatte das Gefühl, zu lange die Gans an der Spitze gewesen zu sein. Mich verbraucht zu haben. Hier dagegen konnte ich schlicht Fußsoldat sein und gemeinsam mit Anna und Ingrid handfeste, praktische Arbeiten verrichten, die den Vögeln zugutekamen.“

Dieser grundlegende Rollenwechsel bei der Arbeit erklärt wohl auch, warum Rebanks, der ja auch zu Hause ein sehr naturverbundenes Leben führt, die Distanz zu seinem eigenen Alltag benötigte. Denn jeder weiß aus Erfahrung, wie schwierig es ist, im Alltag aus den gewohnten Rollen auszubrechen. Aber der Autor denkt auch darüber nach, was er durch seine Auszeit anderen, insbesondere seiner Frau Helen zumutet:

„Ich ertappte mich immer öfter bei Gedanken über die Ehe. Es war untypisch für mich, Frau und Kinder zurückzulassen, um an diesen fernen Ort zu reisen. Ich kam mir egoistisch vor. Ich wusste, Helen hatte Mühe, zu Hause den Laden zu schmeißen, vermutlich ging es über ihre Kräfte, alles unter einen Hut zu bekommen. (…) Ich hatte unser Leben selbstverständlich in vieler Hinsicht mitgestaltet – wir hatten ein Farmhaus gebaut, prächtige Schafherden und eine Kuhherde, und ich hatte Bücher geschrieben –, nur wurde ich das Gefühl nicht los, immer stärker Käpt’n Ahab zu gleichen, meinem Wal etwas zu verzweifelt nachgejagt und dabei alle anderen mit über die sieben Meere geschleift zu haben. Das wohlgemeinte Unterfangen, das Leben seiner Nächsten durch Fleiß und Ehrgeiz zu verbessern, kann in etwas umschlagen, das an Besessenheit grenzt und die anderen quält, und diesen Punkt hatte ich vor ein, zwei Jahren erreicht.“

Wir hoffen, wir haben zeigen können, dass „Insel am Rand der Welt“ ein in vielerlei Hinsicht besonderes, unvergleichbares Buch ist: still, ehrlich, poetisch und tiefgründig. Eine entschleunigende und dabei überraschend fesselnde Lektüre!

CK I NK

Buchinformation

Insel am Rand der Welt
James Rebanks
Hardcover 299 Seiten, Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München
ISBN 978-3641331641

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Die Nacht, in der die Mauer fiel

Drei mutige Bibliothekarinnen der Hochschule für Architektur und Bauwesen gelten heute als Initiatorinnen

Drei mutige Bibliothekarinnen gelten heute als Initiatorinnen der Dienstagsdemos in Weimar

Ein atemberaubender Monat

»Dann aber fiel das Ganze einfach in sich zusammen, und ein atemberaubender Monat begann, in dem wir mehrere Jahre auf einmal lebten. Er ging vom 7. Oktober bis zum 9. November. Alles war plötzlich offen, außer der Mauer, aber die war in dem Moment nur ein Problem am Rande.« (Annett Gröschner)

Der 9. November 1989 war ein Donnerstag. Habe ich gerade nachgeschlagen. 36 Jahre ist das jetzt her, fast ein halbes Leben. Wo ich an diesem Tag war, was ich gemacht habe, als Schabowski von seinem legendären Zettel abgelesen und „sofort“ und „unverzüglich“ nachgeschoben hat? Ich weiß es nicht mehr. Habe ich die Nachrichten geschaut? Keine Ahnung.

Ist das nicht verrückt? An das Pokalfinale Borussia Mönchengladbach gegen den 1. FC Köln am 23. Juni 1973 erinnere ich mich noch genau, zumindest an das Tor von Netzer in der Verlängerung. Oder meine ich nur mich zu erinnern, weil dieses Tor wieder und wieder gezeigt wird, wenn es um Günter Netzer geht?

Die Nacht, in der die Mauer fiel

Wer von euch weiß noch mit Bestimmheit, wo sie oder er am 9. November 1989 war? Der Journalist, Schriftsteller und Herausgeber Dr. Renatus Deckert, selbst gebürtiger Dresdner, hat im Jahr 2009, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer, bei Suhrkamp einen interessanten Band herausgebracht. Darin erinnern sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Ost und West an diesen denkwürdigen Tag. »Die Nacht, in der die Mauer fiel«  versammelt 25 kurze und längere Texte. Zum Einstieg hat Renatus Deckert ein kluges Vorwort geschrieben, das uns Lesern diese Zeit nochmal vor Augen führt.

»Die Begegnung mit sich selbst zur Zeit des Mauerfalls kann höchst ambivalente Empfindungen hervorrufen. Diese Erfahrung machten auch Autoren aus dem Westen. So karikiert sich Michael Lenz im Rückblick als ’wachsweicher Wirtschaftswundernachfahre‘, dem sein blaues Wunder erst noch bevorstand.«

»Der Herbst 1989 war die Zeit des Tagebuchs.« Renatus Deckert

»Der Herbst 1989 war die Zeit des Tagebuchs.« Renatus Deckert, Die Nacht, in der die Mauer fiel.

Ist das noch lesenswert heute, Erinnerungen an den Fall der Mauer? Ja, auf jeden Fall! Denn es sind sehr persönliche, ehrliche Texte von bekannten und weniger bekannten Autor*innen. Texte, die die offizielle Geschichtsschreibung um viele Facetten ergänzen. Bemerkenswert unverblümt zum Beispiel ist der Text von Katja Lange-Müller (»Unser Ole«), die schon 1984 aus der DDR ausgereist ist. Sie hat die Nacht der Maueröffnung in einem Hotel in Bochum verbracht, nach einer Lesung und einem weinseligem Abend:

»Ich hing schon eine Weile über der Schüssel und hielt die schwere, massivhölzerne Klobrille, die von allein oben bleiben wollte, mit einer Hand fest – da klingelte es. Ich ließ die Brille aufs Becken krachen und stürzte zum Telefon, neben dem meine Armbanduhr lag.«

Unterhaltsam, ja bisweilen poetisch ist der Text des Lyrikers und Essayisten Durs Grünbein (»Der Komet«), geboren 1962 in Dresden, der zwischen sich und diese Nacht geschickt einen Erzähler schiebt.

»Am Abend des 9. November 1989 saß der seit kurzem freiberufliche Ex-Student Rufus Rebhuhn in seiner abgedunkelten Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg und sah im Fernsehen die wohl folgenreichste Nachrichtensendung seines Lebens.«

Vielleicht regt dieses lesenswerte Buch ja die eigene Erinnerung an den 9. November 1989 wieder an? Ich grüble jedenfalls noch immer, was ich an diesem denkwürdigen Tag gemacht habe.

NK | CK

Buchinformation

Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989
Herausgegeben von Renatus Deckert
Broschur, 239 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin
ISBN 978-3-518-46073-3

»Wolken und Kastanien«, der lesenswerte Blog von Renatus Deckert

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Gleich im Morgengrauen aber rührte sich der Hunger

Stalins Schergen, die roten Ameisen, vertilgen und vernichten alles in diesem Roman

Stalins Schergen, die roten Ameisen, vertilgen und vernichten alles während des Holodomor

Der Opfer gedenken

Am Mittwochabend war ich auf dem Tübinger Holzmarkt bei einer Gedenkkundgebung zu Ehren der Opfer des Stalinismus und der politischen Gewalt heute. Die Veranstaltung unter dem Titel »Rückgabe der Namen« wurde vom Osteuropainstitut und dem Slavischen Seminar der Universität Tübingen in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft »Memorial« organisiert. Mit dem Verlesen einzelner Namen immer am 29. Oktober wird an die Opfer Stalins und deren Schicksal erinnert. Die Liste, die »Memorial« zur Verfügung stellt, ist unfassbar lang.

Holodomor

Unfassbar lang ist auch die Liste der Ukrainerinnen und Ukrainer, die 1932/33 dem Holodomor (ukrainisch: »Tötung durch Hunger«} zum Opfer gefallen sind. Der Holodomor war der unter Stalin geplante und angeordnete Massenmord an den Ukrainern Anfang der 1930er Jahre. Mindestens 4,5 Millionen Frauen, Kinder, Männer sind während dieser Zeit im Zuge von Stalins Zwangskollektivierung unter furchtbaren Qualen gestorben. In Putins Russland ist der Holodomor bis heute ein Tabuthema. In der Ukraine ist dieser mörderische Hunger bis heute im kollektiven Gedächtnis präsent. Ein Trauma, das durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder wachgerufen wurde.

Wie verarbeitet man so ein kollektives Trauma? Kann man dieses Grauen, Millionen von Einzelschicksalen als Literatur zwischen zwei Buchdeckel bringen? Eine Frage, die sich die ukrainische Autorin Tanya Pyankova, 40, bei der Arbeit an diesem großen Roman vermutlich nicht nur einmal gestellt hat. Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Roman ist in jeder Hinsicht gelungen; zugleich ist »Das Zeitalter der roten Ameisen« eine Herausforderung an uns Leserinnen und Leser.

Das Zeitalter der roten Ameisen

»Am Anfang ist es noch gar nicht so schlimm. Am Anfang schwellen dir nur die Beine an. Sie werden taub und gefühllos, sind wie aus Holz, voll und schwer wie zwei Fässer, die jemand täglich mit Zinn ausgießt, und sie tragen dich nicht mehr wie sonst, sie stören dich eher.«

Mit dieser ersten Hunger-Schilderung der 19jährigen Dusja beginnt  »Das Zeitalter der roten Ameisen«, der Roman von Tanya Pyankova. Wir schreiben das Jahr 1933, Stalin hat die Ukraine seinem brutalen Hungerterror unterworfen. Auch im Dorf Matschuchy in der Zentralukraine frisst sich der Hunger durch alle Häuser. Stalins Schergen durchkämmen jedes Haus, plündern buchstäblich jedes einzelne Korn Getreide, schaffen alles Essbare und Nützliche weg. So soll der Widerstand der Ukraine gebrochen werden.

Die hungernden Bewohner tauschen buchstäblich alles gegen ein bisschen Essen. So auch die Familie von Dusja, die ihr Haus für acht Laib Brote hergegeben hat und jetzt bei der Oma Sanka lebt. Neben Dusja leben dort ihr jüngerer Bruder Myros, die Mutter Hanna, die Oma Sanka und später das Findelkind Melaschka. Der Vater Timofej wurde nach Sibirien deportiert. Er weigerte sich standhaft, mit Stalins Mördern zu kooperieren und für die Kolchose zu arbeiten.

Die zweite Erzählstimme gehört Solja. Sie ist mit dem roten Parteifunktionär und faktischen Dorfchef Ljoscha verheiratet und hat ihr Kind Ewa kurz nach der Geburt verloren. Solja und Ljoscha hungern nicht. Im Gegenteil: Solja ist vom Verlust des Kindes traumatisiert und leidet unter ständigen Fressattacken, die sie immer dicker werden lassen.

Swyryd Sutschok ist die dritte Stimme dieses Romans. Swyryd ist ein williger Helfer und Mitläufer. Er steht auf der Seite der Täter, er hungert nicht, aber er leidet – von Zeit zu Zeit – an schlechtem Gewissen. Wie viele andere Helfer und Mitläufer des Terrorregimes redet er sich sein Handeln schön und ertränkt das schlechte Gewissen im Schnaps.

Der Hunger

Neben diesen drei Hauptfiguren, deren Stimmen Tanya Pyankova schlüssig komponiert und deren Schicksale die Autorin gekonnt aufeinander zulaufen lässt, gibt es einen zentralen Protagonisten, der immer präsent ist. Der Hunger! Er frisst sich durch den gesamten Roman und tritt personalisiert in den unglaublichsten metaphorischen Verkleidungen auf.

»Gleich im Morgengrauen aber rührte sich der Hunger. Er tollte herum, und es kümmerte ihn nicht, dass wir schliefen. Er hat unter den Dielen das alte Getreidemahlwerk hevorgeholt, von Oma von früher, und jetzt dreht er uns durch wie Roggen, mahlt uns zu pudrig feinem Mehl, einem Mehl so zart und so schwarz wie kein Tod der Welt, nicht einmal der grausamste, es mahlen könnte.«

Zu den drei realistischen, nüchternen Erzählstimmen bringt die Autorin mit dem personifizierten Hunger eine surreale Stimme in den Roman. Es ist sprachlich beeindruckend, welche Bilder Pyankova für den Hunger, das Leiden, den Schmerz findet. Und sie macht so das unvorstellbare Grauen für uns Leser erfahrbar.

Im Nachwort zu ihrem Roman schreibt die Autorin, dass die Geschichten ihrer Figuren nicht erfunden seien. Sie betont, dass es kaum eine Familie in der Ukraine gibt, die nicht vom Holodomor betroffen war. Sie habe noch von ihrer Oma gelernt, buchstäblich jedes Kraut und jedes Unkraut, das man draußen findet, zu einer Mahlzeit zu verarbeiten. Diese Mahlzeiten, die die Autorin noch heute ab und an kocht, »haben mit tief im genetischen Gedächtnis eingebrannten Erinnerungen zu tun, konkret mit Erinnerungen an die Hungerjahre.«

»Die Zeit der roten Ameisen« ist ein außergewöhnlicher Roman über eine furchtbare Zeit, ein Buch über Schuld, Verantwortung und auch Menschlichkeit. Tanya Pyankova hat eine Form und eine stimmige Sprache für das Grauen gefunden, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer im Holodomor erleiden mussten. Die Übersetzung von Beatrix Kersten ist so, dass man förmlich in den Roman hineingezogen wird.

Das Terrorregime von Stalins Brigaden, die »roten Ameisen« wirkt bis heute nach. Und mehr noch, schreibt die Autorin am Ende dieses aufwühlenden Buches:

»Russlands Genozid am ukrainischen Volk dauert an.«

NK | CK

PS: Die Tübinger Reihe »Brennpunkt Ukraine« wird im Wintersemester 2025/26 fortgesetzt. Das aktuelle Programm ist hier zu finden.

Buchinformation

Tanya Pyankova
Das Zeitalter der roten Ameisen
Taschenbuch, Nagel und Kimche, 2024
ISBN 9783312013180

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Freitagsfoto: Stadtbild

„Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem (...).“ Friedrich Merz, Bundeskanzler

„Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem (…).“ Friedrich Merz, Bundeskanzler

Vor einiger Zeit haben wir hier eine kleine Fotoserie zum Thema „Kein schöner Land“ gestartet. Wir nehmen die aktuellen Äußerungen des Bundeskanzlers zum Thema Stadtbild zum Anlass, diese Serie unter dem neuen Stichwort „Stadtbild“ in unregelmäßigen Abständen fortzusetzen.

Wir alle haben ja unterschiedliche Ansichten, was in ein Stadtbild passt und was nicht. Um festzustellen, dass Bahnhöfe kein angenehmer Ort für Frauen und Männer sind, dazu muss man nicht nach Berlin oder Dortmund fahren, da reicht ein ganz normaler, verwahrloster Kleinstadtbahnhof nach Einbruch der Dunkelheit. Andere Beispiele für Veränderungen, die ein Stadtbild nachhaltig negativ prägen, sind tote Schaufenster von seit Jahren leer stehenden Ladenlokalen, überquellende öffentliche Mülleimer, Graffiti-Schmierereien, innerstädtische Betonwüsten, aus Kostengründen trocken gelegte Schwimmbäder, Baulücken, die ganz allmählich zu Müllkippen verkommen – es gäbe noch viele Beispiele.

Mich persönlich hat vor einer Weile das Verkehrsschild da oben irritiert. Es steht in einer schwäbischen Kleinstadt am Fuße der Schwäbischen Alb und weckt bei jemandem, der etliche Bücher von Holocaust-Überlebenden gelesen hat, unangenehme Assoziationen. Ich sehe da zum Beispiel sofort Szenen mit KZ-Wachpersonal vor mir, mit zähnefletschenden deutschen Schäferhunden an der Leine.

Was fällt euch zum Thema Stadtbild ein?

NK | CK

 

 

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Singen in finsteren Zeiten

Die Tübinger Platanenallee auf der Neckarinsel

Die Tübinger Platanenallee auf der Neckarinsel

In den finsteren Zeiten
Wird da auch gesungen werden?
Da wird auch gesungen werden.
Von den finsteren Zeiten.

Bertold Brecht (* 10. Februar 1898 in Augsburg; † 14. August 1956 in Ost-Berlin) schrieb diese Zeilen 1939 im dänischen Exil nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland. Weiß Gott finstere Zeiten waren das und eigentlich weit weg. Aber wie schnell es finster werden kann, können wir aktuell in Echtzeit in den USA, der ältesten Demokratie der Welt, beobachten. Es ist erschreckend.

Noch eine gute Nachricht? In gut zwei Monaten werden die Tage wieder länger, am 21. Dezember 2025 ist Wintersonnenwende.

NK | CK

PS: Das Foto und das Brecht-Zitat findet man auch in Corinnas Fotoprojekt „Licht in dunkler Zeit“, das man bei uns per Mail bestellen kann: 24 Zitate, 48 Fotos, Format DIN A3. Funktioniert wunderbar auch als Adventskalender und das ganze Jahr. Infos hier. 

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Jane Goodall und die Liebe zur Schöpfung

Schimpansen sind unsere nächsten Verwandten. Dieses Foto entstand im Zoo La Palmyre in Frankreice.

Ihr ganzes Leben hat die Verhaltensforscherin Jane Goodall den Schimpansen gewidmet

Kampf für die Schöpfung

„Wir haben diesen wundervollen Planeten, den wir Tag für Tag zerstören.“ Jane Goodall

Vor wenigen Tagen ist die englische Verhaltensforscherin und Umweltschützerin Jane Goodall gestorben. Goodall wurde am 3. April 1934 in London geboren und starb am 1. Oktober 2025 in Los Angeles im Alter von 91 Jahren. Ihre unglaubliche berufliche Karriere begann auf der Sekretärinnenschule in England. Sie wurde nicht nur die berühmteste Primatenforscherin der Welt, sondern auch die bekannteste Kämpferin für den Schutz und den Erhalt unseres Planeten.

Wir verlinken heute auf ein sehenswertes Interview, das die einfühlsame und immer bestens vorbereitete Barbara Bleisch im Frühjahr 2024 mit Jane Goodall für die Reihe Sternstunde Philosophie im Schweizer Fernsehen geführt hat. Die Untertitel können in den Einstellungen geändert werden.

NK | CK

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Tucholsky riecht den Herbst

Man kann ihn riechen und sehen, den Herbst. Für Kurt Tucholsky die schönste Jahreszeit.

Man kann ihn riechen und sehen, den Herbst. Für Kurt Tucholsky die schönste Jahreszeit.

Eines Morgens

Eines Morgens riechst du den Herbst.
Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig:
es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles.

Diese schönen Zeilen stammen von Kurt Tucholsky (* 9. Januar 1890 in Berlin; † 21. Dezember 1935 in Göteborg). Per Zufall bin ich drüben bei Bluesky darauf gestoßen. Eine kurze Recherche hat mich dann zu einem längeren Text von Tucholsky über die Jahreszeiten geführt, die dieser am 22.10.1929 in der Weltbühne veröffentlich hat.

Wer mag, kann Tucholskys Text im Online-Kulturmagazin Die Flaneurin von Barbara Denscher nachlesen: hier der Direktlink.

Genießt die Herbstsonne!

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Sofa an einem Herbsttag

Herbstliches Stilleben mit Sofa und Blättern

Stilleben mit Sofa und Blättern an einem Herbsttag

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke (*4. Dezember 1875; † 29. Dezember 1926)

Rilke schriebt dieses Gedicht im Jahr 1902. Im Herbst desselben Jahres zog Rilke nach Paris, seine Frau Clara Westhoff blieb zurück in Berlin. Rilke plante, eine Monographie über Auguste Rodin zu schreiben.

Am 4. Dezember 2025 jährt sich der Geburtstag von Rilke zum 150sten Mal. Nutzen wir den Rest dieses Rilke-Jahres zur Rilke-Lektüre. In diesen aufgeheizten Zeiten hilft uns das, im Strom schlechter Nachrichten nicht gänzlich unterzugehen.

NK | CK

PS: Im Rahmen des Tübinger Bücherfestes 2025 stellt Manfred Koch seine viel gelobte Rilke-Biographie vor. Sonntag, den 28.September 2025, 16.00 Uhr, Westspitze, Eisenbahnstr. 1, Tübingen. Infos und Tickets.

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