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Das Huhn, das vom Fliegen träumte

Manche Hühner träumen vom Fliegen, alle träumen vom Fressen

Manche Hühner träumen vom Fliegen, alle träumen vom Fressen

„Das Ei rollte über den Käfigboden und blieb hinter der Barriere liegen. Sprosse sah es an – es war kalkweiß und blutbefleckt. Sie hatte seit zwei Tagen keines mehr gelegt und hätte nicht geglaubt, dass sie überhaupt noch dazu in der Lage war. Und doch, hier was es – ein kleines trauriges Ei.“

Das Huhn, das vom Fliegen träumte

So heißt das schmale Buch der südkoreanischen Autorin Sun-Mi Hwang. Die Fabel über die Henne mit dem etwas eigenwilligen Namen Sprosse ist in Korea schon vor 19 Jahren, auf Deutsch im Jahr 2014 erschienen. Mir ist das Buch dank seines schönen Umschlags erst vor ein paar Wochen im Buchladen aufgefallen. Und, was soll ich sagen, für Hühnerhalter ist diese Fabel geradezu ein Muss.

Die Handlung ist schnell zusammengefasst. Die Legehenne Sprosse lebt eingesperrt in einem Legestall und produziert tagaus, tagein ein Ei.

„Sie konnte weder herumlaufen, noch mit den Flügeln schlagen, geschweige denn ihre eigenen Eier ausbrüten.“

Die Eier rollen, wie das in Legebatterien so üblich ist, sofort hinter eine Barriere. Dabei möchte Sprosse endlich auch einmal ein Ei ausbrüten und ihr eigenes Küken schlüpfen sehen. Wie die schönen Hennen aus ökologischer Aufzucht, die draußen auf dem Hof mit ihren Küken frei rumlaufen dürfen.

Gefangen, aber in Sicherheit

Als Sprosse keine Eier mehr legen kann, soll sie gekeult werden. Der Bauer holt sie aus dem Stall und wirft sie auf eine Schubkarre, „begraben unter einem Berg anderer Hühner an der Schwelle des Todes.“ Doch Sprosse entkommt diesem Schicksal. Mit Hilfe eines Wildenten-Erpels, der auf dem Hof als Außenseiter geduldet wird, gelingt ihr die Flucht in die Freiheit. Die Freiheit jedoch ist voller Gefahren. Sprosse muss ständig auf der Hut sein: vor dem freilaufenden Hahn, der sie weder in der Scheune noch im Hof haben will, vor dem Kettenhund, der seine Pflicht tut, vor dem Wiesel, das immer auf Nahrungssuche ist. Dazu kommen Kälte, Regen, Hunger. War es im Hühnerstall nicht doch besser? Gefangen, beengt, aber in Sicherheit? Diese vielleicht etwas vermenschlichten Gedanken beschäftigen die gefiederte Protagonistin, als sie auf der Nahrungssuche in einer Dornenhecke zufällig ein Ei entdeckt.

„In der Mitte des Dornenstrauches lag ein weißes, bläulich schimmerndes Ei in einem Nest. Es war groß und schön, aber das Nest war weder mit Federn ausgepolstert, noch gab es Anzeichen, dass das Ei eine Mutter hatte oder bebrütet wurde.“

Sprosse entscheidet sich, das Ei mit seiner Wärme auszubrüten.

Sehr freilaufend: Henne mit Küken in Burgund. © Schöne Postkarten, Tübingen

Sehr frei und immer auf der Hut: Glucke mit Küken in Burgund. © Schöne Postkarten, Tübingen

Freiheit und Mut

Mehr möchte ich hier nicht verraten. Diese kleine Fabel ist spannend, traurig, humorvoll und mitunter realistisch brutal , aber auch tröstlich. „Das Huhn, das vom Fliegen träumte“ ist eine zarte Geschichte, in der es um Freiheit, Sicherheit und Mut geht. Mut nämlich, das Leben auch unter widrigen Umständen in die eigenen Hände zu nehmen.

Die schöne, einfache Sprache und die filigranen Zeichnungen der japanischen Künstlerin Kazuko Nomoto machen dieses Buch zu einem kleinen Kunstwerk, das nicht nur Hühnerbesitzern gefallen wird.

Buchinformation

Sun-Mi Hwang
Das Huhn, das vom Fliegen träumte
Aus dem Englischen von Simone Jakob
Kein & Aber Verlag, Zürich
ISBN: 978-3-0369-5991-7

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C.K. | N.K.

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