„Vater ist tot. Nicht mehr da. Das konnte, durfte nicht sein.“
Mit der Nachricht über den Tod des Vaters beginnt Rainer Moritz sein neues Buch „Mein Vater, die Dinge und der Tod“, das vor ein paar Wochen im Verlag Antje Kunstmann erschienen ist. Rainer Moritz, geboren 1958 in Heilbronn, Studium der Germanistik, Philosophie und Romanistik in Tübingen, leitet seit 2005 das Literaturhaus Hamburg. Dort erreicht ihn der Anruf der Mutter, die ihm in wenigen Worten mitteilt, dass der Vater gestorben ist. Der Sohn kann und will sich mit dem plötzlichen Einbruch des Nichts, wie Gustave Flaubert den Tod beschrieben hat, nicht abfinden und macht sich auf die Suche nach tröstenden Erinnerungen. Es gibt wenige Fotografien, aber kein Tagebuch oder Briefe vom Vater: „Er wollte sein Leben nicht schriftlich festhalten. Das wäre ihm wichtigtuerisch vorgekommen.“
So anachronistisch dies in Zeiten der permanenten Selbstdarstellung erscheint, wo alles Erleben via Facebook, Instagram und Whats App umgehend geteilt wird, so nimmt es den Leser doch gleich für den 1926 geborenen Vater ein. In den folgenden, gut 20 kurzgehaltenen Kapiteln zeichnet der Autor ein sehr anschauliches, lebendiges Portrait seines Vaters, das die Trauer – für den Leser – in den Hintergrund treten lässt.
Old Spice, Muhammad Ali, Ragoût Fin
Es sind vor allem die Alltagsdinge in der Wohnung der Eltern, die mit Erinnerungen behaftet sind: der Fernsehsessel, die Musikanlage, der Aschenbecher, die Armbanduhr oder das Rasierwasser, Marke Old Spice. Sie erzählen von den Lebensgewohnheiten des Vaters und seiner Einstellung zum Leben. An den Gegenständen legt der Autor aber auch geschickt die Familienstrukturen und die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander offen. Dies alles geschieht vor dem historisch-kulturellen Hintergrund der 60er- und 70er-Jahre. Da tauchen zum Beispiel die legendären Boxkämpfe von Muhammad Ali auf, der damals noch Cassius Clay hieß, und zu dessen Kämpfen Väter ihre Söhne mitten in der Nacht geweckt haben – nicht nur in Heilbronn. Wir erinnern uns mit dem Autor an längst vergangene Fernsehsendungen, die man gemeinsam ansah: Komödienstadl, Der Blaue Bock, Häberle und Pfleiderer. Wir lesen von der Begeisterung des Vaters für Asterix-Hefte und von den obligatorischen sonntäglichen Familienausflügen. Der Leser wundert sich über das sorglose Zigarettenrauchen: Ernte 23 hieß die Marke des Vaters, sie stand für Solidität und Zuverlässigkeit. Marken waren wichtig und gaben Orientierung im wirtschaftlichen Aufschwung dieser Zeit. Ein Aufschwung, an dem auch die Familie Moritz teilhat, dank der guten Position des Familienoberhaupts als Einkaufsleiter eines Bauunternehmens.
Besonders stark und anschaulich schildert Moritz Erinnerungen, die mit sinnlichen Eindrücken verbunden sind, etwa den immer gleichen Speiseplan an Heiligabend mit der – auch für andere Kinder – unaussprechbaren Soße:
„Vater wurde nie müde, die Kochkünste seiner Frau zu loben. Es mit einer Frau ohne diese Fähigkeiten auszuhalten wäre wohl unmöglich für ihn gewesen. So wie Pasteten mit Ragoût Fin ohne Zitrone und ohne ein paar Spritzer Worcestersoße undenkbar gewesen wären. Eine rätselhafte Tinktur, die aus England kam und deren Aussprache meinen Bruder überforderte. Wotschestersoße.“
Die Erzählperspektive wechselt, mal erinnert sich das Kind, mal der Jugendliche, mal der erwachsene Sohn. Das erlaubt Rainer Moritz, auch mit rigideren Haltungen des Vaters insgesamt verständnisvoll umzugehen, ohne unglaubwürdig zu werden: mit über 50 empfindet man vieles anders als mit 16 oder 30.
Was wissen wir voneinander?
Gut ist auch, dass manche Fragen unbeantwortet bleiben, beispielsweise wenn Moritz das künstlerische Talent seines Vaters anhand eines Ölbildes, einer Kopie des Gemäldes „Pferde im Gewitter“ von Alfred Roloff, untersucht: „Was hat Vater in diesem Bild gesehen? (…) Ahnte er, dass andere dieses Bild gerade wegen seiner Dynamik, seiner kraftstrotzenden Körper schätzten? Wie Adolf Hitler.“ Der Sohn bedauert, den Vater nie malend erlebt zu haben, erkennt hierin aber auch starke Eigenanteile: „Gern wäre ich stolz auf ihn als Künstler gewesen (…) Eine Wunschvorstellung.“
Ein paar Mal muss der Sohn feststellen, Wesentliches über den Vater nicht zu wissen. Er beschreibt das Schweigen zwischen Eltern und Kindern, das gerade in den 50er- und 60er-Jahren nicht ungewöhnlich war. „Der pragmatische Realitätssinn meiner Eltern blockierte Gespräche über Existenzielles.“
Immer wieder verwebt der Autor sprachlich gekonnt seine Familienerinnerungen mit Zeitgeschichte. So bietet er dem Leser viele Möglichkeiten zur Identifikation. Das geht bis hin zu den inneren Konflikten bezüglich geerbter Kleidungsstücke: tadellos erhalten, aber nicht wirklich den eigenen Geschmack treffend. Dennoch bringt man es nicht übers Herz, sie in die Altkleidersammlung zu geben. Nicht nur des stillen Vorwurfs wegen, nein, zu sehr steht die „helle, fast weiße Windjacke von C&A“ für die geliebte Person.
Ein gelungenes Portrait
Moritz ist mit seinem Text ein persönliches, oft anrührendes Portrait seines Vaters gelungen. Indem der Autor seine Trauer und den Verlust verarbeitet, bringt er den Leser mit leiser Melancholie zum Nachdenken über das Leben, die Menschen und Dinge, die uns prägen, und über die Frage, was von uns bleibt.
Informationen zum Buch
Rainer Moritz
Mein Vater, die Dinge und der Tod
Verlag Antje Kunstmann GmbH, München
ISBN 978-3-95614-257-4
EUR 20,00
#SupportYourLocalBookstore #buylocal
Pingback: Vatertag: Gedicht statt Bollerwagen - ReklamekasperReklamekasper