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Buchbesprechung: „Mensch 4.0 – Frei bleiben in einer digitalen Welt“

Entscheiden wir selbst, welchen Weg wir gehen, oder entscheiden Algorithmen? Foto: Norbert Kraas

Entscheiden wir selbst, welchen Weg wir gehen, oder entscheiden Algorithmen? Foto: Norbert Kraas

Willkommen im Instagram-Hotel

Waren Sie schon mal in einem instagramtauglichen Hotel? Das sind Hotels, die ihre Räumlichkeiten so gestalten oder umgestalten, dass Besucher, die nichts Besseres zu tun haben, als ihr Leben auf Instagram auszustellen, optimale Bedingungen vorfinden, um instagramtaugliche Fotos zu posten. Klingt verrückt, ist für immer mehr Reisende aber ein wichtiges Kriterium bei der Entscheidung für eine Unterkunft.

„Mensch 4.0 – digital überfordert?

Fühlen Sie sich auch oft überfordert, wenn Sie lesen, wie die Digitalisierung unser Leben und das unserer Kinder und Enkel verändert? Wie soll man sich zurechtfinden in dieser digitalen Vollgaswelt? Und wie können wir in einer durchdigitalisierten Welt frei bleiben? Zum Beispiel, indem wir ganz analog ein Buch lesen, das uns einen kritischen Überblick und einen aktuellen Kenntnisstand verschafft:

„Noch nie zuvor war der Mensch so vernetzt, so sehr Teil eines Rädchens in der Weltmaschine, und noch nie hat er sich dabei so autonom gefühlt. Während er noch denkt, er sei in seinem Cockpick der Kapitän, hat schon längst der Autopilot übernommen.“

Das schreibt Alexandra Borchardt in ihrem neuen Buch „Mensch 4.0 – Frei bleiben in einer digitalen Welt“. Die promovierte Politikwissenschaftlerin hat viele Jahre als Journalistin gearbeitet, zuletzt als Chefin vom Dienst bei der Süddeutschen Zeitung. Seit Sommer 2017 ist Borchardt am Reuters Institute for the Study of Journalism an der Universität Oxford.

Aufklärend, nicht alarmistisch

„Mensch 4.0“ bietet auf gut 250 Seiten einen fundiert recherchierten, flüssig geschriebenen Überblick über die Risiken, Gefahren und Chancen der Digitalisierung. Im Gegensatz zu alarmistischen Mahnern wie etwa Manfred Spitzer, der nicht müde wird, in der Digitalisierung den Untergang des Abendlandes zu sehen (und damit gutes Geld verdient), schlägt Borchardt einen sachlichen, aufklärerischen, aber auch warnenden Ton an.

Borchardt hat intensiv recherchiert und Material aus den verschiedensten Disziplinen gesichtet. Sie hat sich mit Erkenntnissen von Hirnforscherinnen, Psychologen, Philosophinnen, Programmierern und Politikwissenschaftlern befasst. Diese Erkenntnisse und ihre eigenen Schlussfolgerungen legt sie in acht Kapiteln dar. Jedes Kapitel beleuchtet dabei einen anderen Aspekt dessen, was wir Digitalisierung nennen.

„Digitalisierung verstehen“

So heißt das erste Kapitel des Buchs. Darin lesen wir, wie sehr das Internet mittlerweile unseren Alltag bestimmt und wie großzügig oder unwissend wir ständig Daten über uns preisgeben. Eine nicht unerhebliche Gefahr sieht Borchardt in der zunehmenden Individualisierung unserer Gesellschaft, die durch die Digitalisierung mit hoher Geschwindigkeit vorangetrieben wird. Jeder kann sich selbst zum Online-Superstar stilisieren und sich als solcher fühlen. Die eigene Bedeutung wird überhöht, durch Likes und Sternchen von Followern bestätigt.

Fragt man Jugendliche nach ihrem Berufswunsch, dann fällt schon mal der Begriff Youtuber. Das sind Leute, die auf Youtube Filme zu einem bestimmen Thema, z. B. Beauty-Tipps, einstellen und damit ihre Follower erfreuen. Je mehr Follower, desto lukrativer wird das und desto mehr wächst das Online-Selbstbewusstsein. Es gibt „Youtube-Stars“, die eine halbe Million Dollar pro Monat damit verdienen, dass ihnen möglichst viele Leute dabei zuschauen, wie sie Ballerspiele zocken. Ist es verwunderlich, wenn Jugendliche auch so sein wollen, weil die Welt dann um sie kreist?

„Was aber geschieht, wenn die Sache kippt? Wenn es nur noch um den Einzelnen geht und nicht mehr um die Gemeinschaft? Und entsteht da nicht unter den am Smartphone klebenden Händen eine Gesellschaft voller Narzissten? […] Doch sie verkennen: Die Freiheit des Einen kann zum Gefängnis der anderen werden.“

Effizienz und Nutzen

Weitere kritische Aspekte der Digitalisierung sind für Borchardt:

  • die Atemlosigkeit der Konsumenten
  • der unstillbare Drang, ständig etwas zu teilen oder kommentieren zu müssen
  • das gnadenlose Diktat der Effizienz und Ökonomisierung, dem wir uns freiwillig unterwerfen

Viele von uns sind permanent auf der Suche nach dem besten Deal im Netz: für den Urlaub, den neuen Job oder den neuen Partner. Unablässig wird getindert, gegoogelt, verglichen, auf Nutzen und Effizienz gecheckt. Evolution jedoch, so Borchardt, war und ist nicht effizient. Und Innovationen sind, so zeigt sie am Beispiel der Erfindung des Penicillin, häufig eben keine Frage von Effizienz, sondern von Zufall. Wenn alles über Logik und Effizienz zu lösen wäre, dann würden wir längst in der besten aller Welten leben: mit Autos, die keine Abgase ausstoßen und keine Batterien benötigen. Tun wir aber nicht!

Algorithmus heißt Kontrolle

„Facebook ist legales Crack“, sagt der ehemalige Facebook-Manager Antonio Martínez. Ich vermute, dass Martínez, wie viele andere Silicon-Valley-Stars auch, den Internet- und Smartphone-Konsum seiner Kinder massiv einschränkt. Auch vom Apple-Chef Tim Cook ist bekannt, dass er seinen Nichten und Neffen das Smartphone verbietet. Warum ist Cook so streng mit seinen Neffen, wo er doch mit Hard- und Software Milliarden verdient? Nun, der Apple-Chef Cook weiß, wie gut die Algorithmen programmiert sind, die unser Leben schon heute sehr stark bestimmen. Und Algorithmen sind, so erklärt Borchardt, die Gehirnströme jeder Hard- und Software. Algorithmen bestimmen, was wir in unserer Twitter- oder Facebook-Timeline sehen, welchen Weg unser Navi von A nach B vorschlägt, welche Suchergebnisse wir gezeigt bekommen und welche eben nicht. Wie mächtig Algorithmen sind, warum Effizienz vor Fairness und Nutzen vor Moral kommen, erläutert Borchardt an etlichen Beispielen ausführlich und gut verständlich. Auf die Politik bezogen bedeutet das: „Wer den Algorithmus kontrolliert, kontrolliert die Gesellschaft“. Wer seine Anhänger ständig in der Filterblase hält und sie mit Fake-News über den politischen Gegner bombardiert, dem steht auch der Weg ins Weiße Haus offen. Welche Möglichkeit das Internet erst Diktaturen bietet, kann man sich ausmalen.

Vom User zum mündigen Bürger

Leider ist den meisten Internet-Nutzern die Gefahr der permanenten Manipulation und des Missbrauchs unserer Daten nicht wirklich bewusst, oder aber man hört Sätze wie: „Ich hab’ doch nichts zu verbergen, es wird schon nichts Schlimmes mit meinen Daten passieren.“ Ein Satz, der die eigene Bequemlichkeit nur schlecht kaschiert und von naiver Gutgläubigkeit zeugt.

Gefährlich ist diese Haltung, das wird bei der Lektüre von „Mensch 4.0“ immer wieder deutlich. Borchardt fordert uns eindringlich zu einem mündigen, aufgeklärten Umgang mit Smartphone und Internet auf. Gefordert sind aber auch die Politikerinnen und staatlichen Institutionen. Diese haben die Aufgabe, uns vor Macht und Missbrauch der Internetmonoplisten zu schützen. Leider sieht es im Moment so aus:

„Staatliche Institutionen, die eigentlich das Gewalt- und Kontrollmonopol haben, sind dem Entwicklungstempo der digitalen Welt nicht mehr gewachsen.“

Eine bedenkliche Situation, die Borchardt in ihrem Buch beschreibt, aber nicht ohne Hoffnung. Wir, die Bürger und der Staat müssen uns jedoch mächtig anstrengen, um in Sachen digitaler Bildung und Digitalisierung die Oberhand gegenüber den Internet-Giganten wiederzugewinnen. Borchardt ist trotz allem optimistisch, dass dies noch machbar ist. Andere Experten, die sie zitiert, sind sich da nicht mehr so sicher. „Ich glaube, das Internet ist kaputt“, sagt etwa Evan Williams, einer der Gründer von Twitter. Und das ist das Medium, mit dem der Narzisst im Weißen Haus die Welt das Fürchten lehrt und seine Anhänger „informiert“.

Freiheit verteidigen

Aber wie kann es aussehen, das selbstbestimmte digitale Leben? Im letzten Kapitel von „Mensch 4.0“ setzt sich Borchardt mit dem Thema individuelle Freiheit versus algorithmisch bestimmte Welt auseinander.

„Freiheit muss immer ausgehandelt werden, sie ist ein Prozess, in dem es um das Respektieren von Wünschen und der Grenzen anderer und ums Lernen geht. […] Das Besondere an der Freiheit ist aber, dass man sie nicht messen kann.“

Borchardt fordert, dass wir unsere Freiheit und Selbstbestimmtheit in der digitalen Welt verteidigen. Ich verstehe es so: Wir müssen aufhören, passive, ahnungslose Datenproduzenten für Konzerne oder Parteien zu sein. Wir müssen aufhören, uns dem Effizienzdiktat zu unterwerfen, ganz gleich was die Internetgurus uns als Belohnung für diese Unterwerfung versprechen. Wir müssen digital erwachsen werden und erkennen:

„Die Freiheit des Bürgers ist eine andere als die des Konsumenten. Bei den bürgerlichen Freiheiten geht es immer um etwas Größeres als um einen selbst. Es geht um Mitsprache, Ideen, die Arbeit an einer besseren Welt, das Basteln an einer für alle erträglichen Gesellschaftsordnung.“

Sich zwischen Amazon Prime und Netflix, zwischen Spotify und Deezer entscheiden zu können, ist nicht die Freiheit, die Borchardt meint. Ihre Freiheit hat mit Denken, mit Anstrengung, mit Unsicherheit, Pflichten und auch Ängsten zu tun. Dafür, so Borchardt, und für die Empathie, die im Zuge der Digitalisierung auch unter die Räder zu kommen droht, lohnt es sich zu kämpfen.

Kein digitales Weiter so

Ich bin mir nicht so sicher, ob sich Amazon, Google, Facebook & Co, die Kontrolle und damit ihre gewaltigen Profite noch aus der Hand nehmen lassen. Ganz sicher bin ich aber, dass „Mensch 4.0 – Frei bleiben in einer digitalen Welt“ ein wichtiges, kluges Buch zur rechten Zeit ist. Es sollte Pflichtlektüre in allen weiterführenden Schulen sein.

NK / CK

Informationen zum Buch

Dr. Alexandra Borchardt
Mensch 4.0 Frei bleiben in einer digitalen Welt
ISBN: 978-3-579-08692-7
Gütersloher Verlagshaus, 2018
256 Seiten, gebunden, 20,00 Euro

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