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„Martha und ihre Söhne“ – ein besonderer Heimatroman

„Am wohlsten fühlte sie sich mit ihren Söhnen im Wald.“ aus: Martha und ihre Söhne

„Am wohlsten fühlte sie sich mit ihren Söhnen im Wald.“ aus: „Martha und ihre Söhne“

„Zuerst zerstört der Krieg fremder Leute Heimat, doch schließlich auch die eigene, ja zumindest bürgert er in ihr eine unerhörte Fremde ein, die bei genauem Hinsehen nicht wieder weicht.“

Diesen tiefgründigen Satz des in Tübingen lebenden Autors Kurt Oesterle habe ich vor ein paar Wochen in seinem Aufsatz zum Thema Heimat gelesen. Ein Zitat, das nicht nur gut zur aktuellen Heimat-Diskussion passt, sondern auch zu dem Roman, den wir heute vorstellen.

Ein besonderer Heimatroman

„Martha und ihre Söhne“ heißt dieser Heimat- und Nachkriegsroman, den Oesterle 2016 veröffentlicht hat. Die Geschichte spielt in einem Dorf in Süddeutschland und setzt unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Ein Krieg, in dem die Deutschen nicht nur die Heimat zahlreicher fremder Völker in Europa zerstört und verwüstet haben. Auch die Heimat von Martha, der Hauptfigur des Romans, liegt in Trümmern – gleich in mehrfachem Sinn. All das, wofür Martha gelebt hat, was sie bewundert, ja verehrt hat, ist auf einmal wertlos.

Wenn sie sich zum Nachdenken zwang, fand sie wenig Grund zur Hoffnung: ihr Vater war in Gefangenschaft, ihr älterer Bruder noch im Krieg, ihr zweitältester vermißt seit der Schlacht um Stalingrad, und ihre Mutter schien allmählich dem Wahnsinn zu verfallen.“

In den Frieden hineingeworfen

Martha, die mit großer Begeisterung dem Regime anhing, fühlt sich hilflos hineingeworfen in den neuen Frieden, die Freiheit und die Demokratie, die die einstigen Feinde, die Amerikaner, den Deutschen beibringen wollen. Die einst vom Führerstaat überzeugte Martha will aber von Freiheit und Demokratie nichts wissen, denn:

„Wie hatte sie, Martha, sich zusammen mit ihresgleichen doch geborgen gefühlt in diesem Staat: geborgen in wohliger Unmündigkeit, grad wie ein Kind!“

Beim Pflicht-Demokratieunterricht der amerikanischen Besatzer verachtet sie den amerikanischen Offizier, der den Unterricht hält, insgeheim für seine freundliche, von ihr als überheblich empfundene Art. Und ihre Angst vor Bestrafung wegen ihrer jahrelangen Regimetreue lässt ihr keine Ruhe:

„Die Zeit schien auf der Stelle zu treten, es gab weder Vergangenheit noch Zukunft. Es gab nur die immergleiche Gegenwart der Besatzung und die Straferwartung.“

Um der Strafe durch die Besatzer zu entgehen, beseitigt Martha, bei Kriegsende noch keine 20 Jahre alt, alles, was auch nur entfernt auf die Nähe ihrer Familie zum alten Regime hindeuten könnte: angefangen beim Portrait des Führers, das in der Küche hing, ja selbst die Zöpfe „schnitt Martha sich ab und legte sie auf den Haufen mit den verräterischen Dingen.“

Weil ihr das noch immer nicht genug erscheint, und weil ihre Tante Kätter wie eine Seherin unaufhörlich von der fürchterlichen Strafe spricht, die über dieses Volk kommen werde, das so hoch hinaus wollte, beschließt Martha in ihrer Verzweiflung so schnell wie möglich, Zuflucht im vermeintlich sicheren Hafen von Ehe und Mutterschaft zu suchen. Sie entscheidet sich für den erstbesten Verehrer, einen ehemaligen Soldaten aus dem Osten des untergegangenen Reichs.

„Der ist der Richtige, sagte sie sich, von dem weiß ich nichts, und der will bestimmt auch von mir nur das Nötigste wissen.“

Ohne Führer führungslos

Wie Oesterle in dichten Szenen und mit seiner schnörkellosen Sprache diese Atmosphäre der Führer- und Führungslosigkeit, des Mißtrauens und Nichtmehrwissenwollens unter den Dorfbewohnern schildert, ist packend und überzeugend. Martha jedenfalls leidet unter dieser Atmosphäre und unter ihrer Angst. Zwei in kurzem Abstand geborene Söhne, Helmut und Alfred, sollen sie ein für alle Mal vor der Strafe der Besatzer bewahren. Die beiden sollen sie auf dem Weg in die neue Zeit führen, und Martha beginnt „wenn auch nur schwach an die Zukunft zu glauben.“ Mit der Protagonistin glaubt auch der Leser für einen Moment an eine bessere Zukunft, um sogleich von dem feinen Stilisten Oesterle knallhart auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden.

„Ihr Glaube an das untergegangene Regime indes war nur betäubt und sank hinunter ins Unbewußte, von wo er mit langen Schattenfingern kaum merklich auf ihr Denken, Fühlen und Handeln einwirkte.“

Die Geschichte Marthas, ihrer Familie und ihres Dorfes lässt keinen Zweifel daran, dass es mit der erfolgreichen Entnazifizierung und dem moralischen Neuanfang nach dem 8. Mai 1945 nicht weit her war. Ein ums andere Mal schildert Oesterle in diesem gelungenen Panorama der unmittelbaren Nachkriegszeit, wie sehr die Traumata in den Dorfbewohnern und in den hinzugezogenen Flüchtlingen nachwirken; und wie diese Traumata von Martha und ihrer Generation an deren Kinder weitergegeben wurden.

Große Leere, tiefe Verunsicherung

Marthas Söhne leiden jeder auf seine Art unter den von Ängsten, Verwirrung und einer unglaublichen Leere geprägten Erziehungsversuchen. Es ist bewegend zu lesen, wie Oesterle an Martha, dem Kind einer Diktatur, zeigt, dass sie „nichts besaß, was des Weitergebens wert gewesen wäre, nur das Wissen der Diktatur eben, das von den Siegern verfemt und verboten worden war, unwiderruflich.“ Man muss kein Mitleid mit Martha haben, aber als Leser fühlt man dennoch mit ihr. Und damit verändert sich auch der Blick auf die eigenen Eltern und Großeltern.

Die junge Mutter nimmt ihre Ängste und ihre tiefe Verunsicherung als Gewusel im Kopf wahr, und sie fragt sich, was denn „ihre wahre Denkungsart“ ist. „Hing ihr Herz immer noch am alten Regime und dessen Führern? Auch das konnte sie nicht erkennen. Und wo waren ihre Überzeugungen geblieben? Hatte sie überhaupt je welche besessen?“

Aber während Martha immerhin zweifelt und – vergeblich – nach ihren innersten Überzeugungen forscht, führt uns Oesterle gegen Ende dieses sehr lesenswerten Romans vor, wie wenig die Entnazifizierung gewirkt hat. Marthas Schwager, „ein zweitrangiger Führer während des Regimes“, prahlt nach den ersten freien Wahlen (!) beim sonntäglichen Kaffeetisch damit, wie

„man Gefangene im Sommer ins Erdreich eingrub und ihre Schädel von der Sonne dörren ließ, wie man sie im Winter an Bäume fesselte und mit Wasser beschoß, bis sie wie lebende Eiszapfen an den Ästen hingen und in diesem Leben nicht wieder auftauten.“

Hinsehen statt Wegsehen

Vor ein paar Wochen lief im Fernsehen ein sehenswerter Spielfilm über die ersten Auschwitzprozesse, die nach 1963 in Deutschland zur Aufarbeitung des Holocausts geführt wurden. Von den Gegnern dieser Verfahren wird im Film immer wieder das Argument vorgebracht, man müsse diese „Sachen“ um der Zukunft Willen ruhen lassen, weil das Land sonst nicht heilen könne. „Martha und ihre Söhne“ beweist das Gegenteil. Das Land und die Menschen kommen eben nicht zur Ruhe, wenn man die Gräueltaten ohne jede Einsicht und Reue totschweigt.

„Ihr schämt euch nicht genug für eure Dummheit, eure Mitschuld, eure Zustimmung und euer Wegsehen unter dem alten Regime!“

So schreit Kätter, Marthas Tante, gegen Ende der Umerziehungskurse, die man nach der Lektüre dieses Romans als naive demokratische Schnellbleiche bezeichnen darf.

„Martha und ihre Söhne“ ist kein Wohlfühlroman. Kurt Oesterle hat in seiner klaren, deutlichen Sprache ein wichtiges, lehrreiches Buch geschrieben, das uns das Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit und die lange nachwirkenden Traumata des Naziregimes in vielen dichten, einprägsamen Szenen nahebringt. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt!

Information zum Buch

Kurt Oesterle
Martha und ihre Söhne
Klöpfer und Meyer Verlag, Tübingen, 2016
ISBN 978-3-86351-414-3

Wer sich über Kurt Oesterle und seine Bücher und Aufsätze informieren möchte, kann dies auf seiner Homepage tun.

N.K. / C.K.

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3 Kommentare

  1. Georges Hartmann 15. März 2019 um 13:26

    Ich lese den Text und spüre plötzlich, wie sich in mir das Grauen wie eine Gänsehaut ausbreitet. Ich bin ja Bestandteil der Nachkriegs-Massenware und weiß zumindest, dass mein Vater im zweiten Weltkrieg als Kriegsgefangener in einem Moskauer Rot-Kreuz Lager gewesen ist, weil er den ein oder anderen Feldpostbrief an seine zukünftige Schwiegermutter in Lothringen geschickt hat. Ich kann mich nicht erinnern jemals auch nur an ein Wort über diese grauselige Zeit von meinem Vater vernommen zu haben. Immerhin wussten die Verwandten mütterlicherseits zu berichten, dass er in Bitsch (später Bitche) eine Kläranlage in seiner Funktion als angehender Ingenieur gebaut und als Entlastungszeuge einen Franzosen vor der Deportation durch die Gestapo gerettet hat. Mein Vater war überaus schweigsam und ich wahrscheinlich als 11, 12 oder gar 14 jähriger noch zu wenig politisch gebildet und habe aber auch später keine die NS-Zeit betreffenden Fragen an ihn gestellt. „Das geheime Leben der Kühe“ bestelle ich heute in der hiesigen Buchhandlung. Vielleicht ist ja das Buch „Martha und ihre Söhne“ in der Bücherei greifbar oder über diese in der Landesbibliothek Koblenz auszuleihen …

  2. Danke für die Buchbesprechung, lieber Norbert. Werde ich lesen. Liebe Grüße Wolfgang

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