Permalink

1

Sackgasse Brexit / Buchbesprechung

Brexit for a brighter future? Dover Castle hat schon vielen Stürmen getrotzt. Foto: Norbert Kraas

Brexit for a brighter future? Dover Castle hat schon vielen Stürmen getrotzt. Foto: Norbert Kraas

Fast jeden Morgen kurz vor 7 höre ich auf BBC Radio 4 die Sendung „Farming Today“, während ich für meine Familie das Frühstück mit Porridge mache. Bei dieser Beschäftigung fühle ich mich England und seinen Bewohnern auf sehr angenehme Weise verbunden. „Farming Today“ beschäftigt sich in Reportagen und Interviews mit der britischen Landwirtschaft, dem Alltag der Bauern, ihren Freuden, aber auch ihren Sorgen und Nöten. Das alles dominierende Thema dieser Tage ist, wer hätte es gedacht, der Brexit. Die Unsicherheit der englischen Farmer und Naturschützer ist ob der Folgen des Brexits und der unfassbaren Planlosigkeit der Regierung in Westminster riesengroß. Und das Chaos ist mit Händen zu greifen.

LEAVE

Dabei ist das Brexit-Referendum jetzt mehr als zwei Jahre her. Am 23. Juni 2016 haben 17,4 Millionen Wahlberechtige (51,89 %) in Großbritannien für LEAVE gestimmt. Ab dem 30. März 2019 wird Großbritannien nicht mehr der Europäischen Union angehören. Und wenn in den nächsten Wochen nicht ein Wunder geschieht, wird dieser Austritt ohne einen sogenannten Deal (ich mag dieses Trump’sche Wort überhaupt nicht!), also ohne formalen Scheidungsvertrag über die Bühne gehen. Man mag es kaum glauben und fasst sich an Kopf – wie konnte es so weit kommen? Wo liegen die Wurzeln dieser Entscheidung? Wie kann es sein, dass dieses Land mit seinen höflichen Bewohnern in zwei unversöhnliche Hälften auseinanderfällt?

Reise durch ein zerrissenes Königreich

Der Schweizer Journalist und Autor Peter Stäuber, der seit 2010 in London lebt und unter anderem für die ZEIT schreibt, hat sich auf eine Reise kreuz und quer durch Großbritannien begeben, um herauszufinden, wie es zum Brexit kommen konnte. „Sackgasse Brexit – Reportagen aus einem gespaltenen Land“ heißt sein Buch, das vor ein paar Wochen im Rotpunkt-Verlag in Zürich erschienen ist.

Um es gleich vorweg zu sagen: Wer sich für Großbritannien interessiert und dieses Land besser verstehen möchte, sollte dieses spannende, faktenreiche Buch lesen. Aber: die Lektüre lohnt auch aus deutscher Sicht, weil Stäuber aufzeigt, wie leicht Menschen in wirtschaftlich abgehängten Regionen mittels geschickt gesteuerter Kampagnen, die nicht selten mit Lügen gespickt sind, zu manipulieren sind.

Stäubers Recherche beginnt im Herbst 2017 in der Finanzmetropole London und endet im Frühjahr 2018 mit einem Kapitel über den Aufstieg des Labour-Chefs Jeremy Corbyn (mein Lesetipp für SPD-Politiker). Der Autor besucht Great Yarmouth an der Ostküste, wo er den Aufstieg der fremdenfeindlichen UKIP (United Kingdom Independence Party) analysiert. Von dort geht es nach Merthyr Tydfil im südlichen Wales, einst Hochburg der britischen Kohleindustrie, in der die heute arbeitslosen Bergleute alles verloren haben, auch ihren Stolz und ihr Selbstwertgefühl. In Aberdeen und Glasgow beleuchtet Stäuber die Haltung der Schotten zum Brexit und untersucht die Entwicklung der schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen vor dem Hintergrund des Leave-Votums. Zwischen seine Reportagen schiebt Stäuber informative Kapitel über das Verhältnis der Briten zur EU (keine Wunschhochzeit), das Erbe des Empire (absurde Sehnsucht nach alter, weltumspannender Größe gepaart mit latentem Rassismus), und er erklärt die Rolle der britischen Boulevardpresse, die, wenn es der Auflage dient, hemmungslos Fremdenfeindlichkeit schürt, Lügen über die EU verbreitet und ein neoliberales, reaktionäres Weltbild feiert.

Nicht nur wegen der Scones würden wir sie vermissen, unsere Freunde von der Insel. Foto: Norbert Kraas

Nicht nur wegen der Scones würden wir sie vermissen, unsere Freunde von der Insel. Foto: Norbert Kraas

Brexit: Kein Links-rechts-Schema

„Der Brexit lässt sich nicht so einfach in das Links-rechts-Schema einfügen: Er hat eine starke rechtsnationale Komponente, aber auch eine weniger regressive Dimension, nämlich den Protest gegen die antidemokratischen wirtschaftsliberalen Tendenzen in London und Brüssel. Auf jeden Fall ist der Brexit ein Votum gegen das Establishment, das mit allen Mitteln versucht hatte, diesen Ausgang zu verhindern.“

So schreibt Stäuber im Vorwort von „Sackgasse Brexit“, und wenn wir jetzt London gegen Berlin austauschen…, aber lassen wir das, zurück zum Brexit und in die britische Finanzmetropole. Diese zieht aufgrund der attraktiven Gehälter, die sich dort verdienen lassen, nicht nur die besten Köpfe aller britischen Regionen an. London hat sich „in den vergangenen dreißig bis vierzig Jahren immer weiter vom Rest des Landes entfernt, eine Insel des Wohlstands, die vom darniederliegenden Festland abdriftet“. In London, lesen wir, „bestimmt die Zentralregierung über 91 % des Geldes, das der Staat über die Steuern einnimmt.“ Zentralisierter geht’s kaum noch! Man muss sich nicht wundern, wenn in den abgehängten Regionen Familien, „in denen mittlerweile die dritte oder vierte Generation arbeitslos ist“, vom Londoner Establishment die Schnauze voll haben.

Deindustrialisierung und Deregulierung

Leute, denen es reicht, trifft Stäuber während seiner gründlichen Recherche überall. Besonders traf es die Menschen im südlichen Wales, wo mit dem Niedergang der Kohleindustrie im Zuge einer politisch gesteuerten Deindustrialisierung seit den 60er Jahren einer kompletten Region die Lebensgrundlage entzogen wurde. Und zwar ohne wirtschaftliche Alternativen aufzubauen. Stäuber legt kenntnisreich dar, wie Margret Thatcher 1984 nicht nur die einst mächtige Gewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers) in die Knie zwang, sondern praktisch fast die komplette produzierende Industrie Großbritanniens ihrer neoliberalen Finanzmarktpolitik opferte.

„Zwischen 1979 und 1993 sank die Beschäftigung im herstellenden Gewerbe, diesem einstigen Kraftwerk des Landes, von 7,1 auf 4,4 Millionen.“ […] Wer nach den Wurzeln des Brexit sucht, findet hier eine der tiefsten. Der Zusammenbruch der fertigen Industrie veränderte das Gesicht Großbritanniens nachhaltig. Die Veränderungen waren durchgreifend und dauerhaft. Ehemals prosperierende Landstriche waren plötzlich von den Symptomen des sozialen Elends gekennzeichnet, die Menschen verloren ihr Einkommen, ihre Würde und ihren Glauben an die Zukunft.“

„We are not racists“

Die Filmemacherin Sheena Sumaria, mit der Stäuber in South Yorkshire unterwegs war, hat einen sehenswerten, elfminütigen Dokumentarfilm über das Bergarbeiterdorf Stainforth gemacht. Der Film lohnt sich, auch wenn das English nicht immer einfach zu verstehen ist:

Why we voted leave: voices from northern England from Guerrera Films on Vimeo.

Wer jetzt glaubt, die Deindustrialisierung und hemmunglose Förderung der Finanzmarkt- und Dienstleistungsindustrie hätte mit dem Sieg des Labour-Politikers Tony Blair im Jahr 1997 ein Ende gehabt, wird von Stäuber eines Besseren belehrt. Im Gegenteil: Blair hat den Financial District in London erst richtig von der Leine gelassen. Entsprechend hart traf die Finanzmarktkrise 2007/08 Großbritannien. Die Folgen waren drastische Kürzungen der Staatsausgaben (Austerity), die vor allem – natürlich – die ärmeren Regionen trafen. Der Finanzsektor zeigte ein bisschen Pseudo-Demut und machte dann unter Blairs Labour-Nachfolger Gordon Brown und dann unter dem glatten David Cameron weiter wie bisher.

Der britische Filmemacher Ken Loach zeigt in seinem preisgekrönten Spielfilm die Unmenschlichkeit des britischen Sozialsystems am Beispiel des Schreiners Daniel Blake, der nach einen Herzinfarkt in den Mühlen der Bürokratie untergeht. Hier der Trailer:

Leave trotz EU-Subventionen

Stäuber geht in seinem faktengespickten Buch auch der Frage nach, warum gerade die ärmsten Regionen, die mit den meisten Fördergeldern aus Brüssel unterstützt werden, in der Mehrzahl Leave gewählt haben. Und er hört von seinen Interviewpartnern, dass zum einen der Effekt der EU-Gelder bei den betroffenen Menschen nicht wirklich ankam oder erkennbar war. Zum anderen, dass die starke Zunahme von Arbeitsmigranten, zum Beispiel aus Polen oder Portugal, die Menschen zusätzlich misstrauisch und neidisch gemacht habe. Vor allem die als unkontrolliert wahrgenommene Einwanderung wurde und wird als Problem angesehen. Die populistische, fremdenfeindliche UKIP-Partei hat es geschickt verstanden, Unzufriedenheit, Unsicherheit und Ängste in den abgehängten Regionen für ihre Zwecke zu nutzen. Ihre Kampagne für den Brexit war hemmungslos und funktionierte auch dank tatkräftiger Unterstützung der berüchtigten englischen Regenbogenpresse.

EU-Austritt: die Lösung?

Dabei sind die Probleme der britischen Wirtschaft, so Stäuber im Abschnitt über den Labour-Führer Jeremy Corbyn, nicht auf „Einwanderung zurückzuführen, sondern auf systemische Ursachen.“ Im Schlusswort seines mit vielen Anmerkungen versehenen Buches fasst er nochmals die Gründe zusammen, die er als zentral für die folgenschwere Brexit-Entscheidung sieht. Er zeigt glaubhaft auf, dass die Motive der Brexit-Befürworter sehr vielschichtig und oft widersprüchlich sind. Einig sind sich alle, Leave- und Remain-Wähler, dass es so mit Großbritannien nicht weiter gehen kann.

Die Menschen in Großbritannien wollen die Kontrolle zurück, und das bedeutet viel mehr, also nur die Einwanderung zu beschränken. Es bedeutet, so Stäuber: sichere Arbeitsplätze, ein ausreichendes soziales Netz, das Gefühl lokal und regional wieder mitbestimmen zu können, die Verringerung der Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft und der Regionen, Schluss mit der Abhängigkeit vom Finanzsektor der City.

Der Autor sieht große Herausforderungen und Aufgaben auf die britische Politik und Gesellschaft zukommen. Allein der Austritt aus der EU wird die vielfältigen Probleme Großbritanniens nicht lösen. So wenig übrigens, wie die Probleme Italiens, Ungarns oder Polens mit einer xenophoben Abschottungspolitik gelöst werden.

„Was für eine Gesellschaft streben wir an?“

Mit dieser Frage, so Peter Stäuber am Ende dieses wirklich lesenswerten Buches, sollte die Brexit-Strategie beginnen. Eine wichtige Frage, die wir alle uns immer wieder stellen sollten.

NK / CK

Buchinformation

Peter Stäuber
Sackgasse Brexit: Reportagen aus einem gespaltenen Land
Rotpunktverlag Zürich, 2018
ISBN: 978-3-85869-798-1

#SupportYourLocalBookstore

Print Friendly, PDF & Email

1 Kommentar

  1. Lieber Norbert, liebe Co,
    ich lese jede Woche eure Buchempfehlung und freue mich jedes Mal darauf. Es ist für jeden etwas dabei; entweder für einen recht leseunfreudigen Abiturienten : Mensch 4.0, ein Buchtip für ein Geburtstagsgeschenk: “ das Wunder von Berlin“ oder die vielversprechende Empfehlung “ Mein Vater, die Dinge und der Tod“ , das ich unbedingt lese möchte. Vielen Dank dafür. Ninia

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner