Fritz Holder
In Tübingen gelte ich, obwohl i Schwäbisch akzentfrei schwätz, als Reigschmeckter, dazu noch aus dem ehemals preußischen Hechingen stammend. Deshalb mögen es mir die eingeborenen Tübingerinnen und Tübinger nachsehen, dass mir der Name Fritz Holder bis vor wenigen Wochen noch kein Begriff war. Was für ein Versäumis, ich weiß. Dabei haben wir viele Jahre unser Büro im sogenannten Raupenviertel in Tübingen gehabt. In diesem Viertel, auch Gôgei genannt, ist Fritz Holder am 7. April 1932 in der Bachgasse auf die Welt gekommen. Holder war zunächst Schriftsetzer und dann, bis zu seinem Tod am 6. September 1996, Journalist beim Schwäbischen Tagblatt, verantwortlich für die Lokalredaktion Rottenburg.
„Geliebtes Pflaster“
Das Raupenviertel in der Tübinger Unterstadt ist ganz grob die Gegend zwischen Kelternstraße im Norden, Lange Gasse im Osten, Belthlestraße im Westen und Haaggasse im Süden. In diesem Viertel ist Fritz Holder in der Welt der Handwerker, Tagelöhner, Händler und Wirtsleute aufgewachsen. Diesen einfachen, ehrlichen und in ihrer gnadenlosen Direktheit liebenswerten Menschen der unteren Stadt hat Holder mit seinem Buch „Geliebtes Pflaster“ ein zartes Denkmal in rauhem Ton gesetzt.
23 Geschichten enthält dieser schmale Band, jede für sich ein kleiner Erinnerungsdiamant, aus dem eine Zeit herausfunkelt, die längst untergegangen ist. Holder erzählt sehr lebendig von dieser mitunter harten, oft entbehrungsreichen Welt und in einer klaren, niemals kitschigen Sprache. Er schreibt seine gut komponierten Miniaturen aus der Perspektive des kleinen Fritzle, und zwar geradeso, „daß es tuet wie verzählt“, wie wir im Nachwort des Tübinger Kulturwissenschaftlers Hermann Bausinger lesen.
Kein vornehmes Getue
„Geliebtes Pflaster“ ist ein literarischer Reiseführer durch ein besonderes Tübinger Viertel und in eine Zeit, deren Gegensatz zu unseren Zeiten nicht größer sein könnte. Das ist wohltuend erdend und dabei nicht romantisierend. Ich habe bei der leider sehr kurzen Lektüre nicht nur viel über die Gôgei und ihre Bewohner gelernt, sondern bin auch vielen schwäbischen Wörtern, darunter herrliche Flüche, aus meiner eigenen Kindheit wieder begegnet. Holder schreibt über Sprache und Ton in seinem Raupenviertel:
„Der Umgangston war eher rauh, doch nicht ohne verborgene Herzlichkeit. Hinter diesem und jenem Wort, das anderen Ohren befremdlich oder gar entsetzlich klang, konnte viel Mitgefühl und Anteilnahme stecken. Man redete direkt miteinander, was sollte auch vornehmes Getue. Wenn der Stadttagelöhner Wilhelm H. seiner Angetrauten rief ‚Rosa, du Heilandsakramentszuttel, gohscht jetzt daher oder i schlag dr’s Beile uffs Hirn nuff!‘ wurde das ohne große Besorgnis wahrgenommen. Der Wilhelm meinte das nicht so. Und seine Rosa starb, als es Zeit war, eines ganz natürlichen Todes.“
Zur Sprache Holders schreibt der Tübinger Autor Kurt Oesterle, dem ich die Entdeckung Fritz Holders verdanke, in seinem Vorwort unter anderem vom „Altersasyl für ausgebrauchte und davongejagte Wörter, egal, ob sie im Dialekt oder in der Hochsprache gedient haben.“ Ich wünschte, es gäbe mehr solche schönen Altersasyle für ausgebrauchte Wörter.
„Raupenviertel“ und „Gôgenmusik“
So heißen zwei andere Bücher Fritz Holders. Es sind Gedichtbände in Mundart, nach denen ich sofort antiquarisch suchen musste, nach dem uns unser Freund K. zum ersten Mal dieses Gedicht aus dem Band „Raupenviertel“ vorgetragen hat:
Dr Holder ond dr Hölderlin
Se send anander nia v’rkomma,
se hend sich nia em Leabe gseah,
send zwoar de gleiche Gasse gloffa,
doch andre Johrgäng send-se gwea.
Dr oi hot dichtet vo’dr Freiheit,
se kommt a baarmol bei’nem vor,
dr ander hot vo‘ Freiheit gsonga,
em Volkschor obnets als Tenor.
Mo’s Zeit war, hend-se ganga müeßa,
do beißt koi Maus koin Fada a‘, so send-se doch noh zemakomma –
em Stadtfriedhof, Abteilung H.
Dort send-se frei, doch halt dahin -:
dr Holder ond dr Hölderlin …
Achtung! Bitte unbedingt laut lesen oder vortragen.
Ist das nicht eine anrührend melancholische Hommage von Fritz Holder für seinen Vater Christian Holder, den im Viertel alle nur „Stane“ nannten? Die beiden Gedichtbände „Raupenviertel“ und „Gôgemusik“ sind von Holders Sohn Christian mit schönen Federzeichnungen ausgestattet. Im Erinnerungsbuch „Geliebtes Pflaster“ finden sich zahlreiche Schwarzweiß-Fotos, die das Raupenviertel und seine Bewohner zeigen.
Leider gibt es die Bücher von Fritz Holder zur Zeit nur noch antiquarisch. Aber hoffentlich findet sich bald ein Verleger, der einen Sammelband in Angriff nimmt. Ich wüsste einige Interessenten.
Informationen zu den Büchern
Fritz Holder
Geliebtes Pflaster – Eine Jugend in der Tübinger Altstadt
Verlag Schwäbisches Tagblatt Tübingen
ISBN: 3-928011-25-1
Raupenviertel – Räse Verse aus der Tübinger Altstadt
Verlag Schwäbisches Tagblatt Tübingen, 1990
ISBN: 3-928011-01-4
Gôgenmusik – Neue räse Verse aus Alt-Tübingen samt dem Diebinger Raupekalender
Verlag Schwäbisches Tagblatt Tübingen, 1992
ISBN: 3-928011-08-1
Eine wunderschöne Hommage! Ich hatte mir schon länger alle Bücher von Holder antiquarisch erworben und mit viel Vergnügen gelesen.
Jedor Schwåb, där må enn Diibenga sdudird hådd, sodd dia Biachla kenna. A Schualfraend vom Holder isch ibrigens dor Gerhard Dieterle, sällmåls Begg emm Raupeviertel. I hoff, där läabd noo. Där kã on Haufa vom Holder vorzeela ond hådd s gleiche wondorscheene Schwäbisch wia dor Holder.
Aus musikalischem Interesse (Lieder u.a.) kam ich vor einiger Zeit an die CD von Fritz Holder von 1993 „Am Feuer und in Stuben“. Daraufhin suchte und fand ich auch die 2 Bände: Raupenviertel u. Gogenmusik im Intenet und habe sie mit großem Vergnügen laut gelesen.
Ja , da ist nichts verbogen oder gekünstelt, sondern „Grad Naus“ gschwätzt.
Eine geschichtliche und sprachliche Rarität!!
>>Das schreibe ich als dialektsprachbegeisterte Badnerin meinen Württemberger Freund/innen.