Permalink

2

Weltempfänger Ingo

Kein Weltempfänger, aber heiß geliebt. Mein erstes Radio, wahrscheinlich gebaut zwischen 1965 und 1970

Heiß geliebt: mein erstes Radio, wahrscheinlich gebaut zwischen 1965 und 1970

Alb-Alaska

Ingo hieß ein Junge in unserer Nachbarschaft, der anders war als wir übrigen Tunichgute. Er war zwei oder drei Jahre jünger als ich, ziemlich schüchtern und nicht besonders sportlich. Er kletterte nie mit uns auf Bäume und saute sich daher auch nie die Sonntagshose mit Harz ein. Diese Dinge bereiteten ihm wohl einfach keine Freude. Oder vielleicht musste er sich nicht wie wir uns produzieren. Weiß ich’s? Gehänselt wurde er natürlich von uns, was nicht gerade nett oder originell von uns war.

Ingo redete meist auch wenig. Wie gesagt, er war schüchtern und hatte obendrein strenge Eltern. Vielleicht kam er aber auch einfach selten zu Wort, weil ich ihm ohne Unterlass von gefährlichen Abenteuern am Yukon vorschwärmte, die ich irgendwann mal auf den Spuren Jack Londons im fernen Alaska erleben würde. Ja, Alaska war der Sehnsuchtsort meiner Kindheit. Jack London habe ich verschlungen, ebenso die Bücher von Hans-Otto Meissner. Die gab es, ungeachtet von Meissners SS-Vergangenheit und seiner Karriere als Nazi-Diplomat, reichlich in unserer Stadtbibliothek.

Vor ein paar Tagen ist mir Ingo wieder eingefallen, und das kam so: Auf Twitter hat mir jemand ein Programm zum Empfang von verschiedenen Radiosendern rund um den Globus empfohlen. Radio Garden heißt die App, und es gibt sie für Android, iOS und als Webversion. Und dieses Programm ist nicht weniger als ein Weltempfänger.

Weltempfänger auf Sendung

Erinnert sich noch jemand an diese Radiogeräte, die ausschließlich für den weltweiten Empfang von Kurzwellensignalen ausgelegt waren? Weltempfänger – allein was in dem Wort alles mitschwang! Klar wollte ich auch so ein Ding haben und bekam es nicht. Stattdessen bekam ich ein kleines Transistorradio Sanyo Solid State 8. Es konnte Mittelwelle, mehr nicht. Ich mochte es trotzdem sehr und habe viel damit gehört: Popshop, sonntags die Top Ten (deutsch und international), auch Krimi-Hörspiele von Durbridge. Zum besseren Empfang stiegen wir auch schon mal auf hohe Bäume und Gebäude. Die kurz nach Sedan Geborenen, wie unser Sohn jetzt sagen würde, erinnern sich vielleicht noch an Frank Laufenberg und die junge Elke Heidenreich.

Jedenfalls hatte Ingo einen Weltempfänger. Und damit holte er die große, weite Radiowelt in unsere verhockte Kleinstadt am Fuße des Hohenzollern. Wir waren mächtig beeindruckt, aber es kam noch besser. Denn Ingo war auch Amateurfunker, oder besser gesagt: Funkamateur, wie es im Amateurfunkgesetz von 1997 steht. Funkamateure sind Menschen, die mit einem eigenen Rufzeichen (Kennung) eine  Amateurfunkstation betreiben. Ziel dieses schon damals höchst exotischen Hobbys war und ist es, sich mit Amaterfunkern auf der ganzen Welt per Funk auszutauschen. Das rauschte, krächzte und piepste ungefähr so, wie wenn Neil Armstrong vom Mond aus Houston anfunkte. Ich war sprachlos, als Ingo uns seine kleine Funkstation zum ersten Mal vorführte. Da saß doch tatsächlich ein Funkamateur irgendwo im südlichen Afrika, und wir konnten ihn hören. Ingos Amateurfunkstation und sein Weltempfänger waren, wie die Bücher Jack Londons, mal große, mal kleinere Tore zur Welt jenseites des Albtraufs.

Radio Ga Ga – Radio Garden

So heißt ein Lied der Gruppe Queen aus dem Jahr 1984, das die historisch bedeutende Rolle des Radios thematisiert. Die Journalistin Carmen Thomas hat mal den Satz vom Radio als Kino im Kopf geprägt. Das trifft es auch ganz gut.

Die App Radio Garden ist großes Kino und in der Basisversion gratis. Wer keine Werbung sehen will, zahlt ein paar Euro, die sich lohnen. Jonathan Puckey betreibt Radio Garden von Amsterdam aus mit seinem kleinen Team. Auf der Website von Radio Garden schreibt er:

By bringing distant voices close, radio connects people and places. From its very beginning, radio signals have crossed borders. Radio makers and listeners have imagined both connecting with distant cultures, as well as re-connecting with people from ‘home’ from thousands of miles away.

Ruft man Radio Garden auf, erscheint eine Weltkugel, auf der unzählige Radiosender visuell hochsprießen. Die Userin hat die Möglichtkeit, via Weltkugel nach Orten und Sendern zu suchen. Über 8.000 Sender weltweit sind erreichbar! Man kann aber auch in die Suchmaske einen Ort oder einen Sender eingeben. Zum Beispiel ein Radioprogramm, das einen im Urlaub begeistert hat. Eine detaillierte Beschreibung von Radio Garden habe ich hier gefunden. Die App selbst ist ziemlich selbsterklärend, die Soundqualität wirklich gut!

Von Tübingen nach Whitstable

Ich höre seit ein paar Tagen immer wieder Whitstable Bay Radio. Whitstable ist ein ziemlich lässiger, kleiner Ort an der Küste Kents, 60 Meilen östlich von London. Wir haben dort vor sechs Jahren sehr entspannte Tage verbracht. Whitstable Bay Radio weckt schöne Erinnerungen daran.

Life’s a beach in Whitstable!

Life’s a beach in Whitstable!

Euch allen schöne Tage und gute Unterhaltung bei der Radio-Weltreise!

NK | CK

Print Friendly, PDF & Email

2 Kommentare

  1. Hallo Herr Kraas,
    schöne App, habe ich mir gerade runtergeladen.
    Ich hoffe Ihnen und Ihrer Frau geht’s gut?!

    Liebe Grüße

    Frank Spörle

  2. Georges Hartmann 31. August 2020 um 11:08

    Weltempfänger …, ein Stichwort, das Erinnerungen weckt. Der Klang einer noch nie gehörten Sprache (Finnisch, Arabisch usw.) oder Musik, wie sie im Orient gespielt wird, wäre vielleicht die Bereicherung schlechthin, war eine meiner Überlegungen. Eine andere, das Abhören von Kurzwellensendern (Polizeifunk) oder Norddeich Radio (wenn die Seeleute sich von hoher See bei ihren Familien melden, wie z.B. an Weihnachten), oder die vermeintliche Möglichkeit sich unvermittelt im Funkverkehr zwischen Ganoven oder Agenten wie 007 wiederzufinden eine andere. Wenn einem derartiges im Kopf herumgeistert, verliert das winzige, nur mit einer simplen Langwelle ausgestattet Transistorradio schlagartig an Wert. Nach eingehenden Recherchen schaffte es der Grundig-Satellit bis in die letzte Ecke meines Gehirns, steigerte die Begehrlichkeit in ungeahnte Dimensionen, was mich plötzlich wie ein geprügelter Hund erscheinen ließ. Die mit dem siebten Sinn für alle nur denkbaren Katastrophen ausgestattete Mutter verleitete dies zu einer vorsichtigen Nachfrage, was ich derart verklausuliert beantwortete, dass mein Schicksal seinen ungebremsten Lauf nahm. „Ein Weltempfänger …, ich bezahl‘s von meinem Geld …“ „Kostet ?“ Zögerliche Antworten erregen halt immer Misstrauen, womit das Schicksal seinen Lauf nahm. Zwei Stockwerke tiefer wurde das Problem mit einem besprochen, der sich mit Rundfunkempfängern auskannte und umgehend den Nordmende Globetrotter empfahl, der preislich erschwinglich und dem „Grundig“ in nichts nachstünde, wenn man das mit der Antenne noch ein wenig modifizierte, wobei er behilflich sein würde.
    Der langen Rede kurzer Sinn: Der Nordmende durfte sein. Habe mit verbissenem Gesicht alle „Bänder“ abgehört, außer Rauschen wenig verständliches empfangen, völlig enttäuscht keinen Kontakt zwecks einer „richtigen Antenne“ zum Nachbarn aufgenommen und mich fortan auf UKW eingestellt und die Wunschliste der aufgelisteten Begehrlichkeiten fortan auf „Stereo-Anlagen“ fokussiert, was sich bis in mein derzeitiges Alter erhalten hat. Das Internet-Radio lässt die „alten Weltempfänger“ sowieso ganz alt aussehen und so bedanke ich mich für den „Radio Garden“ Tipp, dem ich noch „Radio.de“ hinzufüge.

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner