Der Neckar
In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf
Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
Und all der holden Hügel, die dich
Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.
Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft
Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Tal,
Wie Leben aus dem Freudebecher,
Glänzte die bläuliche Silberwelle.
Der Berge Quellen eilten hinab zu dir,
Mit ihnen auch mein Herz und du nahmst uns mit,
Zum stillerhabnen Rhein, zu seinen
Städten hinunter und lustgen Inseln.
Noch dünkt die Welt mir schön, und das Aug entflieht
Verlangend nach den Reizen der Erde mir,
Zum goldenen Paktol, zu Smyrnas
Ufer, zu Ilions Wald. Auch möcht ich
Bei Sunium oft landen, den stummen Pfad
Nach deinen Säulen fragen, Olympion!
Noch eh der Sturmwind und das Alter
Hin in den Schutt der Athenertempel
Und ihrer Gottesbilder auch dich begräbt,
Denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt,
Die nicht mehr ist. Und o ihr schönen
Inseln Ioniens! wo die Meerluft
Die heißen Ufer kühlt und den Lorbeerwald
Durchsäuselt, wenn die Sonne den Weinstock wärmt,
Ach! wo ein goldner Herbst dem armen
Volk in Gesänge die Seufzer wandelt,
Wenn sein Granatbaum reift, wenn aus grüner Nacht
Die Pomeranze blinkt, und der Mastixbaum
Von Harze träuft und Pauk und Cymbel
Zum labyrinthischen Tanze klingen.
Zu euch, ihr Inseln! bringt mich vielleicht, zu euch
Mein Schutzgott einst; doch weicht mir aus treuem Sinn
Auch da mein Neckar nicht mit seinen
Lieblichen Wiesen und Uferweiden.
Hölderlin und der Neckar
Die Ode „Der Neckar“ von Friedrich Hölderlin wurde im Jahr 1801 erstmals veröffentlicht. Für Hölderlin, dessen 250. Geburtstag wir dieses Jahr feiern, hatte der Neckar, bei aller Griechenland-Schwärmerei, zeitlebens eine wichtige Bedeutung. Am 20. März 1770 wird er in Lauffen am Neckar geboren, wo man jetzt wieder sein Geburtshaus besichtigen kann. Im Alter von vier Jahren erfolgte der Umzug nach Nürtingen am Neckar. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hat Hölderlins Mutter dorthin geheiratet. Hölderlins Stiefvater Johann Christoph Gok, Weinhändler und Bürgermeister, starb leider bereits fünf Jahre später. In Tübingen am Neckar schließlich hat Hölderlin studiert, und dort lebte er auch im Turmzimmer, liebevoll gepflegt von der Familie des Schreinermeisters Zimmer von 1807 bis zu seinem Tod am 7. Juni 1843.
Wer sich diesem nicht immer einfachen Dichter annähern möchte, dem empfehlen wir das Hölderlin-Buch des in Tübingen lebenden Autors Kurt Oesterle „Wir & Hölderlin? Was der größte Dichter der Deutschen uns 250 Jahre nach seiner Geburt noch zu sagen hat“. Alex Rühle hat Oesterles Buch in der Süddeutschen Zeitung einen „Lesegenuss“ genannt:
(…) Kurt Oesterle verzahnt kunstvoll Leben und Werk, wandert permanent von den Texten in die Biografie und zurück: Hölderlin, der bereits im Alter von neun Jahren Vater und Stiefvater verloren hat und in dessen Werk dann eine „maskuline Überlast“ auffällt, alles voller Heroen, Halbgötter, „Männerjubel“, „Männerkraft“.
Den Artikel von Alex Rühle kann man hier nachlesen.
Buchinformation
Kurt Oesterle
Wir & Hölderlin? Was der größte Dichter der Deutschen uns 250 Jahre nach seiner Geburt noch zu sagen hat.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2020.
Hardcover, 177 Seiten, 22 Euro
ISBN-13: 9783749610297
Weitere Links
Hoelderlin2020.de
Lauffen am Neckar
Hölderlinturm Tübingen
Hölderlinmuseum Nürtingen