Permalink

1

Urlaub in Schottland: »Sommerwasser«

»Draußen geschieht nichts. Regen, der See, die Bäume, noch mehr Regen.«

»Draußen geschieht nichts. Regen, der See, die Bäume, noch mehr Regen.«

Beäugen, beobachten, urteilen

»Mit Regen muss man hier rechnen, aber so ist es normalerweise nicht. Es regnet Bindfäden, hätte sein Vater gesagt. Wenn das so weitergeht, ist die Straße unten bald überschwemmt. Es ist kein schottischer Regen, eher tropisch, nicht dass er mal in den Tropen gewesen wäre oder auch nur dort hingewollt hätte.«

Im Juli 2023 erschien im Unionsverlag der neue Roman »Sommerwasser« der britischen Autorin Sarah Moss. In dieser scharfsinnigen Sozialstudie geht es um Touristen, deren Urlaub an einem schottischen See komplett ins Wasser fällt. Denn es regnet fast ohne Unterbrechung. Was dazu führt, dass nur wenige Unternehmungen möglich sind, und die kleine, zufällige Gesellschaft von Urlaubern in den Hütten am Seeufer sich gegenseitig beäugt, beobachtet und zu ihren Schlüssen kommt. Wir alle kennen das und machen das, im Bus, am Strand oder im Restaurant: sich aus flüchtigen Eindrücken ein Urteil über andere bilden. Blitzschnell geht das mitunter, so dass man es kaum bewusst wahrnimmt.

Wanderung von Kopf zu Kopf

Das langsam voranschreitende Geschehen wird in 12 Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Die Autorin wandert sozusagen von Kopf zu Kopf. Erst langsam entsteht für den Leser ein zusammengesetztes Bild. Wahrscheinlich um die einzelnen Personen erstmal besser umreißen zu können, hat Sarah Moss den personalen Erzählstil gewählt. Wir lernen die Person also erstmal mit Namen in ihrem Umfeld kennen. Kurze Dialoge, die häufig um das Wetter, den Urlaub, häusliche Verrichtungen oder die eigene Langeweile kreisen, werden im Fließtext wiedergegeben. Richtig interessant wird es jedoch dann, wenn die Autorin – zu Beginn etwas unvermittelt – auch den Gedankenstrom der jeweiligen Person wiedergibt. Denn hier hört regelmäßig der zivilisierte Umgang auf und die menschlichen Abgründe erscheinen …

So beginnt der Roman mit Justine, einer gestressten Mutter um die 40, die bereits um 5 Uhr morgens aufsteht, um beim Laufen Abstand zu ihrer Familie, insbesondere ihrem Mann Steve zu finden. So gut tut ihr mental das Laufen, dass sie die Strecke immer wieder um ein kleines Stück verlängert, obwohl sie die leisen Signale der Überforderung ihres Körpers nicht gänzlich ignorieren kann.

»Licht rinnt übers Wasser durchs Geäst. Auf dem See liegt der Himmel (...)«

»Licht rinnt übers Wasser durchs Geäst. Auf dem See liegt der Himmel (…)«

Da ist David, Arzt im Ruhestand, dem die fortschreitende Demenz seiner Frau Mary Sorgen bereitet. Da sind Kinder, die trotz des Regens nach draußen geschickt werden, und sich striezen. Und Jugendliche, die so genervt von ihren Eltern und der öden Situation sind, dass sie waghalsige Dinge tun. Das junge Paar, Milly und Josh, in deren Köpfe wir nacheinander ebenfalls wandern, scheinen die einzigen zu sein, denen der Regen weniger ausmacht, denn sie sind hauptsächlich miteinander im Bett beschäftigt.

»Sie öffnet die Augen, nimmt die Schottenkarovorhänge wahr und die Kiefernwände, den Geruch nach Lufterfrischer, den sie nicht mehr ständig bemerkt. Eine Tasse Tee und ein Schinkenbrötchen wären wunderbar, denkt sie, aber sie sagt, küss mich, und greift nach hinten, um das Kopfteil hinter ihrem Kopf zu fassen, das sich als leicht klebrig erweist.«

Schwieriges Zusammenleben

Im Urlaub verbringen wir meist weitaus mehr Zeit miteinander als im Alltag. Diese Herausforderung übersieht man bei der Vorfeude auf den Urlaub leicht. Der andauernde Regen verschärft die Situation für die Menschen am schottischen Loch: das Zusammensein ist erzwungen, genauso wie die Isolation von der Außenwelt. Neben dem Regen vereint die Gruppe zusätzlich ein nach und nach anwachsender Ärger über eine weitere Familie, die dort ebenfalls eine Ferienhütte gemietet hat. Von dieser Familie lernen wir nur das Kind Violetta aus Sicht eines anderen Kindes kennen, sie bleibt auch dem Leser fremd, wie ihr merkwürdiger Nachname, der jedoch nicht genannt wird.  Dem Regen trotzend feiert diese Familie mit lauter Musik bis spät in die Nacht hinein. Alle anderen Uralauber fühlen sich mehr oder weniger gestört und denken daran, irgendwann dagegen etwas zu unternehmen…

Mal einfühlsam, mal entlarvend, mal scharfsinnig-witzig entführt uns Sarah Moss in fremde Gedankenwelten und offenbart uns dabei das ganze Spektrum menschlichen Daseins: feine Dissonanzen, Missverständnisse, wunde Punkte bis hin zu düsteren Abgründen. Trotz der ständig wechselnden Perspektiven hat der Roman eine gute Spannung, die in einem fulminanten Schluss endet, den wir hier natürlich nicht verrraten.

Wir wünschen spannende Unterhaltung!

CK | NK

Buchinformation

Sarah Moss
Sommerwasser
übersetzt von Nicole Seifert | Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Auszüge aus: The Ballad of Semmerwater
gebunden, 192 Seiten, Unionsverlag, Zürich
ISBN: 978-3-293-00609-6

#SupportYourLocalBookstore

Print Friendly, PDF & Email

1 Kommentar

  1. … die nette „Nebengeschichte“: Sarah Moss ist eigentlich Autorin beim mare-Verlag, der sich den Meeren verbunden sieht und die entsprechende Literatur verlegt. Nun spielt dieses Buch dieses Mal nicht an der See, weshalb der Verlag das Manuskript ablehnte und „Sommerwasser“ stattdessen im schönen Unionsverlag erscheint. Die Vertreterin warb daraufhin mit dem „Süßwasser-Verlag“… Die Lektüre lohnt in jedem Fall!

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner