Permalink

1

Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol

Osteuropäische Zwangsarbeiter lebten nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Entwurzelte ohne Heimat in der jungen Bundesrepublik

Osteuropäische Zwangsarbeiter lebten als Entwurzelte ohne Heimat in der jungen Bundesrepublik

„Dass ich den Namen meiner Mutter in die Suchmaschine des russischen Internets eintippte, war nicht viel mehr als eine Spielerei.“

Mit diesem Satz beginnt das autobiographische Buch „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin, die am 8. Dezember 1945 als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter im fränkischen Fürth geboren wurde. Und mit diesem Satz beginnt eines der spannendsten und bewegendsten Bücher, das ich in diesem Jahr gelesen habe.

Als Zwangsarbeiter nach Nazi-Deutschland verschleppt

Auf rund 360 Seiten erzählt die Autorin die erschütternde Lebens- und Familiengeschichte ihrer Mutter, die 1944 von den Nazis als „Ostarbeiterin“ von Mariupol nach Deutschland verschleppt wurde. Gemeinsam mit ihrem Mann musste sie in Leipzig in einem deutschen Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns Zwangsarbeit leisten.

„Im Zweiten Weltkrieg hatte man sie als Dreiundzwanzigjährige zusammen mit meinem Vater aus Mariupol zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert, ich wusste nur, dass beide in einem Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns in Leipzig eingesetzt waren. Elf Jahre nach Kriegsende hatte meine Mutter sich in einer westdeutschen Kleinstadt das Leben genommen, unweit einer Siedlung für Heimatlose Ausländer, wie man die ehemaligen Zwangsarbeiter damals nannte. Außer meiner Schwester und mir gab es wahrscheinlich auf der Welt keinen einzigen Menschen mehr, der sie noch gekannt hatte.“

Natascha Wodin war selbst schon Ende 60 und hatte die Suche nach der Geschichte ihrer Mutter schon fast aufgegeben. Zu schwierig erschien es ihr – bis zu eben diesem Tag, als sie auf einer ukrainischen Internetseite namens „Azov’s Greeks“ landet und auf erste Spuren stößt. Die Seite entpuppt sich für die Autorin als Glücksfund, denn sie lernt dort einen freundlichen, zugewandten Mann namens Konstantin in Mariupol kennen. Unermüdlich und kreativ hilft er ihr bei der Recherche nach den verblassenden Stücken dieses Familienpuzzles.

Displaced Persons: heimatlos, entwurzelt, einsam

Als Leser folgen wir dieser Spurensuche mit angehaltenem Atem. Parallel dazu reflektiert die Ich-Erzählerin ihre Hoffnungen wie emotionalen Erschütterungen. Den Plan, über das Leben der Mutter zu schreiben, hatte Natascha Wodin schon lange. Aber ihr fehlten Informationen über sie. Es gab nur sehr wenig Material über die ehemaligen Zwangsarbeiter, von denen viele in Nazi-Deutschland bei der Arbeit zu Tode geschunden wurden.

„Seit vielen Jahren schon suchte ich nach irgendeinem Buch von einem ehemaligen Zwangsarbeiter, nach der einer literarischen Stimme, an der ich mich hätte orientieren können, vergeblich. Die Überlebenden der Konzentrationslager hatten Weltliteratur hervorgebracht, Bücher über den Holocaust füllten Bibliotheken, aber die nicht-jüdischen Zwangsarbeiter, die die Vernichtung durch Arbeit überlebt hatten, schwiegen.“

Dabei wurden Millionen Zwangsarbeiter zum überwiegenden Teil aus Osteuropa deportiert. Sie lebten unter menschenunwürdigen Bedingungen in rund 30.000 Lagern, die es im Deutschen Reich allein für Zwangsarbeiter gab. Viele von ihnen blieben nach Kriegsende in der Bundesrepublik. Sie galten als „Displaced Persons“ (Heimatlose), so auch die Eltern der kleinen Natascha, die wenige Monate nach dem 8. Mai 1945 auf die Welt kam.

„Die längste Zeit meines Lebens hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangsarbeitern bin. Niemand hatte es mir gesagt, nicht meine Eltern, nicht die deutsche Umwelt, in deren Erinnerungskultur das Massenphänomen der Zwangsarbeit nicht vorkam. (…) Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war.“

Natascha Wodin verleiht mit diesem schonungslos ehrlichen Buch ihrer Mutter Jewgenia Jakowlewa Iwaschtschenko posthum eine Würde, die diese Frau bis zu ihrem Freitod wahrscheinlich nie empfunden hat.

Entwurzelte, die versuchen zu überleben

Indem die Erzählerin sich immer tiefer in diese Familiengeschichte hineingräbt, breitet sie vor ihren Lesern die ganze furchtbare Geschichte Europas im 20. Jahrhundert aus. Als die Mutter 1920 in Mariupol in eine wohlhabende Adelsfamilie hineingeboren wird, liegt die russische Oktoberrevolution gerade mal drei Jahre zurück. Der Adel wird brutal verfolgt, hingerichtet, vertrieben. Es beginnt die Zeit des Bürgerkriegs, des Terrors, der Säuberungen und später des tödlichen Hungers. Alles unter Stalin, der seit 1922 Generalsekretär der KP und ab 1927 Alleinherrscher der Partei war.

Natascha Wodin: Sie kam aus MariupolDie einst angesehene Familie der Mutter ist der kommunistischen Willkürherrschaft des Regimes ausgeliefert. Manche wurden in die Gulags verbannt,  andere haben mit Stalins System kooperiert. Und mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion und der Besatzung der Ukraine durch die Nazis beginnt ein neues, furchtbares Kapitel dieser Familiengeschichte.

1944 werden Wodins Eltern als Zwangsarbeiter nach Leipzig verschleppt. Sie werden die Ukraine und das einstmals schöne Mariupol nie wiedersehen. Wären sie nach Kriegsende in die Sowjetunion zurückgekehrt, wären sie vom Stalin-Regime mit großer Wahrscheinlichkeit als Verräter und Kollaborateure hingerichtet worden.

Zu viele Erniedrigungen

Schließlich, mit 36 Jahren, erträgt die Mutter dieses entwurzelte Schicksal und die Erniedrigungen, die auch im Nachkriegsdeutschland kein Ende nehmen, nicht mehr. Sie ertränkt sich in dem fränkischen Flüsschen Regnitz. Ein Ereignis, das die kleine Natascha stets verhindern wollte.

Diese Familiengeschichte, die Natascha Wodin in einer klaren Sprache aus vielen Einzelschicksalen gekonnt komponiert, rücken die Abgründe des 20. Jahrhunderts sehr nahe an den Leser ran. Wir erleben, wie brutal die große Geschichte in die Lebensgeschichten einzelner Menschen eingreift. Wir lesen über Familienmitglieder in den Gulags in Karelien und leiden mit dem kleinen Mädchen in den Barackensiedlungen für ehemalige Zwangsarbeiter in der jungen Bundesrepublik.

Dieses wichtige Buch einer schmerzhaften Spurensuche ist ergreifend und lässt einen nicht los. Hilfreich, das sei noch angemerkt, ist angesichts des großen Personenkreises ein Stammbaum der Autorin am Ende des Buches.

NK | CK

Buchinformation

Natascha Wodin
Sie kam aus Mariupol
Rowohlt Taschenbuch, 2018
ISBN 978-3-499-29065-7

Von Dagmar Manzel gibt es eine schöne Hörbuchfassung, z. B. bei Spotify.

Im Gespräch

Tanja Runow hat für den Deutschlandfunk ein hörenswertes, längeres Gespräch mit Natascha Wodin geführt. Die Autorin spricht darin über ihre Eltern, ihre Kindheit, über ihr Schreiben einiges mehr. Kann man hier nachhören.

#SupportYourLocalBookstore #KaufDeinBuchvorOrt

Print Friendly, PDF & Email

1 Kommentar

  1. Dieses Buch habe ich vor ein paar Jahren gelesen und war wieder einmal erschüttert, wie wenig ich über die Menschen, Orte und die Geschichte dieser Region auch während und nach dem 2. Weltkrieg, weiß.
    Absolute Leseempfehlung.
    Besonderen Dank für den Link zum DLF-Interview, das ich gerade mit großem Gewinn gelesen habe.

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner