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„Heucheleien, Phrasen, Unsinnigkeiten“ (Victor Klemperer)

Victor Klemperer (1881–1960) um 1930 Ursula Richter (1886-1946), Sächsische Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB)/Deutsche Fotothek)

Victor Klemperer um 1930. Foto: Ursula Richter (1886-1946), Sächsische Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB)/Deutsche Fotothek)

22. März 1933

„Noch zittert man nicht um sein Leben – aber um Brot und Freiheit.“

Diesen Tagebucheintrag schreibt der 1935 von den Nazis zwangsemeritierte Dresdner Romanistikprofessor Victor Klemperer. Klemperer wurde am 9. Oktober 1881 in Gorzów Wielkopolski in Westpolen (Landsberg an der Warthe) als Sohn eines Rabbis geboren, er starb am 11. Februar 1960 in Dresden, wo er auch an der Universität lehrte. Obgleich schon Anfang des 20. Jahrhunderts zum Protestantismus konvertiert, rettete ihn die Ehe mit der „Nichtjüdin“ Konzertpianistin Eva Klemperer vor dem Tod im Konzentrationslager.

Victor Klemperer ist uns zum ersten Mal 1999 in der gleichnamigen Fernsehserie mit den hervorragenden Schauspielern Matthias Habich und Dagmar Manzel begegnet.

Klemperers Tagebücher, die er von 1933 bis 1945 führte, zählen heute zu den bedeutendsten Zeugnissen der Judenverfolgung und Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten und deren willige Helfer in der deutschen Bevölkerung. Klemperer hat den Alltag der verfolgten Juden in Dresden, den brutalen Antisemitismus und die Schrecken der Naziherrschaft Tag für Tag akribisch dokumentiert.

„Es ist nie so viel Schande auf ein europäisches Volk konzentriert worden wie jetzt auf uns. Jede Rede des Kanzlers, der Minister, der Kommissare. Und sie reden täglich. Ein solches Gebräu der offensten, plumpesten Lügen, Heucheleien, Phrasen, Unsinnigkeiten. Und immer das Drohen, das Triumphieren und das leere Versprechen.“ (7. April 1933)

Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten: Tagebücher 1933 – 1945Klemperer schreibt diese Zeilen gut 2 Monate nachdem Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde. Das ist lange her, aber ist es nicht erschreckend, wie aktuell Klemperers Worte angesichts der Bedrohung durch rechte Populisten und Extremisten heute klingen? „Plumpeste Lügen, Heucheleien, Phrasen, Unsinnigkeiten“, kriegen wir das nicht auch serviert von einer Partei, der es nicht um Fakten, sondern ausschließlich um eine rechte, völkische Agenda und die Zerstörung der Demokratie geht?

„Die Tagebücher stellen alles in den Schatten, was jemals über die NS-Zeit geschrieben wurde“, schrieb die Wochenzeitung DIE ZEIT.

„Es ist im deutschen Volk so viel Lethargie und soviel Unsittlichkeit und vor allem so viel Dummheit.“ (27. März 1937)

Man muss die Tagebücher nicht in einem Zug durchlesen. Es ist oft aufwühlend und deprimierend, vor allem wenn man den Bezug zum Jetzt herstellt. Aber die Lektüre lohnt sich sehr und gerade heute. Weil man bei vielen Einträgen unweigerlich zusammenzuckt oder gar mit dem Kopf nickt.

„Eine Gruppe radelnder Jungen, vierzehn bis fünfzehn Jahre, um zehn abends in der Wormser Straße. Sie überholen mich, rufen zurück, warten, lassen mich passieren. ‚Der kriegt Genickschuß … ich drück’ ab … Er wird an den Galgen gehängt – Börsenschieber …‘ und irgendwelch Gemauschel. (24. Juni 1943)

Klemperer notiert von 1933 an die schleichenden, auch sprachlichen Veränderungen, die er in der Gesellschaft wahrnimmt, die immer stärker werdende Ausgrenzung, die üblen Schikanen durch die Gestapo, den Hunger und die natürlich ständige Angst vor der buchstäblichen Vernichtung durch die Nazis. Dass wir heute diese Tagebücher lesen können, verdanken wir dem Durchhaltevermögen und dem Mut dieses herzkranken Mannes. Aber auch der Risikobereitschaft und dem Mut seiner Frau und einer Freundin der Familie, die die fertigen Tagebuchblätter vor der Gestapo versteckt haben.

„Und ich sagte mir wieder einmal, daß die Hitlerei vielleicht doch tiefer und fester im Volke wurzelt und der deutschen Natur entspricht, als ich wahrhaben möchte.“ (13. Juli 1937)

Erschreckend aktuell

Dr. Renatus Deckert. Foto: Karsten Thielker

Dr. Renatus Deckert. Foto: Karsten Thielker

Wir freuen uns, dass der Schriftsteller und Herausgeber Dr. Renatus Deckert am Tübinger Bücherfest 2025 über Victor Klemperer sprechen wird. Deckert, der in Dresden geboren und aufgewachsen ist, geht seit Jahren an Schulen und Bildungseinrichtungen, um aus Klemperers Tagebüchern zu lesen und mit seinen Zuhörerinnen und Zuhörern über Judenvernichtung und Antisemitismus zu sprechen.

Er wolle, so schrieb Renatus Deckert in einem Text für die Süddeutsche Zeitung, „etwas tun gegen die grassierende Geschichtsvergessenheit und gegen die Vogelschiss- und Schuldkult-Rhetorik der rechten Rattenfänger.“ Deckert ist der Meinung, dass man bei der Lektüre Klemperers „der Gegenwart auf gespenstische Weise direkt in Gesicht blickt.“

„Jetzt ist jeder hier immer Feind der Partei gewesen. Aber wenn sie es wirklich immer gewesen wären …“ (1. Mai 1945)

Deckert schreibt auch einen lesenswerten Blog: „Wolken und Kastanien“. Dort findet man einen klugen, berührenden Text über Deckerts Verhältnis zu Klemperer und über das erste „Judenhaus“, in das Victor Klemperer und seine Frau Eva im Mai 1942 ziehen mussten.

Am 27. September 2025 liest Renatus Deckert in Tübingen im Rahmen des Tübinger Bücherfestes 2025 um 13 Uhr im Weltethos-Institut in der Hinteren Grabenstraße 26 aus Klemperers Tagebüchern. Eine Veranstaltung, die sich angesichts der aktuellen politischen Situation unbedingt lohnt. Infos und Tickets hier.

NK | CK

PS: Das Tübinger Bücherfest 2025 findet vom 26. bis 28. September statt. Mehr als 60 Autorinnen und Autoren lesen in der Stadt. Das Programmheft mit allen Informationen gibt es hier zum runterladen. Tickets vorab gibt’s hier.

Buchinformation

Victor Klemperer
Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1933 – 1945
Herausgeber: Walter Nowojski
Hardcover, 1422 Seiten
Aufbau-Verlag, 2015
ISBN 978-3-351-03616-4

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2 Kommentare

  1. Lieber Norbert, danke für diesen wichtigen Beitrag. Und wenn wir schon von Heuchelei sprechen:
    Es kommt mir langsam so vor, als ob wir es derzeit mit einem internationalen, konzertierten Antisemitismus zu tun haben, weil weltweit niemand Netanjahu und das israelische Militär in ihren menschenverachtenden Handlungen stoppen will. Die Gefahr ist groß, dass so dieses Land auf lange Sicht sich selbst vernichtet oder vernichtet wird. Traurig! Heuchelei!

  2. Ich bin vom Jahrgang betrachtet ein 1950-er, der in der Schule zwar mit den alten Griechen konfrontiert wurde, aber weder von Konzentrationslagern noch der Vernichtung von Menschen mit jüdischem Glauben auch bloß den Hauch einer Ahnung hatte. Meine Eltern (Mutter Französin, Vater Deutscher) sparten dieses Thema irgendwie aus.

    Mein Vater wurde zum Russlandfeldzug abkommandiert und kam (so war die Schilderung meiner Mutter) eher als „Wrack“ wieder nach Hause, brachte aber stets ein lobendes Wort über jene Russen zu Gehör, mit denen er es dort zu tun hatte, gar mit einem kleinen Ölgemälde beschenkt wurde, das den Elbrus darstellte und bis zum Tod meines Vaters im Hausflur hing.

    Als Kind und selbst als völlig ahnungsloser Schüler kam das Thema „Juden“ erst viel später in der Schule zur Sprache, was möglicherweise aber lediglich eine spärliche Version dessen zu sein schien, was Menschen jüdischen Glaubens tatsächlich an Leid zugefügt worden war. Vom Vater dazu kein Statement.

    Mein Dilemma hinsichtlich der Gräueltaten unter Hitler wurde mir erst in jenem Augenblick bewusst, als diese im Geschichtsunterricht ausführlich dargestellt wurden und mir sehr viele Jahre später erneut wie eine Schocktherapie oder Anklage um die Ohren gehauen wurden.

    Im Erwachsenenalter erhielt ich als Zollbeamter im Prüfungsdienst den Auftrag, die Einfuhren eines Händlers dahingehend zu prüfen, ob für die aus dem Ausland bezogenen Waren der ordnungsgemäß festgesetzte Zoll entrichtet worden war. Nach telefonischer Rücksprache mit dem Händler elektrischer Waren (insbesondere Radioapparaten) machte ich mich auf den Weg, nicht ahnend, welche Wendung diese Zusammenkunft haben würde.

    Ein alter Mann, der irgendwie wenig „amused“ war, einen jungen Kerl vor die Nase gesetzt zu bekommen, ließ mich ein und begann auch sogleich zu poltern, dass er von der Zollbehörde jetzt einem Dreikäsehoch alle gewünschten Unterlagen vorlegen soll. Der Laden war winzig und nachdem die ersten Wortwechsel durchaus ordentlich über die Bühne gingen, fragte er mich, ob mein Vater auch im Krieg war und wohin er abkommandiert worden sei. Darauf antwortete ich wahrheitsgemäß „nach Russland“, was seine Stimmung nicht verbesserte. Der alte Mann war jüdischen Glaubens. Seine drastischen Darstellungen unmenschlicher deutscher Brutalität möchte ich nicht wiederholen.

    Es gibt Momente im Leben, da ertrinkt man im Schweigen, weiß keine Antwort mehr und lässt solch eine Schilderung wie eine Bombe im Kopf explodieren, weil man dafür keine wirkliche Antwort mehr findet. Heute überlässt man das Töten den Raketen, Drohnen, Panzern und sonstigem Kriegsgerät, was die Dinge jedoch nicht verbessert.

    Was soll man dazu sagen, wenn zwei Parteien sich spinnefeind gegenüberstehen und immer weitere Eskalationsstufen lostreten, ohne zu berücksichtigen, dass die zwischen den Mühlsteinen hin und her gejagten Menschen gnadenlos dezimiert werden.

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