Kriegsmüde
Beim Zeitunglesen ist uns häufiger in letzter Zeit das Wort kriegsmüde aufgefallen. Verwunderlich war, dass damit fast durchweg das Gefühl vieler Menschen hier im sicheren Deutschland und im westlichen Teil Europas beschrieben wurde. Also das Gefühl von Menschen, die nicht kämpfen, nicht flüchten, sich nicht sorgen müssen um den Mann, den Sohn oder den Vater, die jeden Tag ihr Leben im Kampf gegen den russischen Aggressor riskieren. Kriegsmüde also sind Menschen, wenn wir es richtig verstehen, die sich endlich ein anderes Thema in den Nachrichten wünschen, nicht mehr diese schrecklichen, ja erschütternden Bilder von verwüsteten Städten und Leichen auf den Straßen sehen wollen. Menschen, also, die von der Kriegsberichterstattung müde sind. Verständlich, ja durchaus.
Und dann gibt es Menschen, die sich gar genervt fühlen von den „ständigen Forderungen dieses Selenskyjs“ oder den provozierenden, weil Klartext redenden Äußerungen des ukrainischen Botschafters Melnyks. Die von „mehr Diplomatie geht immer“ und von „Unsinn eines Krieges“ reden. Und sich dann aber über die eigenen Parkgebühren aufregen, die der Bürgermeister auch für Anwohner nun deutlich anheben will. Nein das wollen sie sich nicht gefallen lassen … Auch verständlich? Nein, denn sie nehmen für sich selbst ein Freiheitsverständnis in Anspruch, auf das die Ukrainer bitte verzichten sollen. Befriedet euch bitte, ihr Ukrainer, damit wir hier uns in Ruhe über Parkgebühren, Flughafenchaos oder, der Herbst kommt bald, Masken aufregen können.
Wofür die ukrainschen Frauen und Männer (zum Teil noch halbe Kinder) kämpfen, das konnte man lernen in dem Dokumentarfilm „Warum Ukraine“ von Bernard-Henri Lévy, der am Dienstag auf arte ausgestrahlt wurde. Kriegsmüde schien da keiner zu sein.
Lesen statt abstumpfen: „Internat“
Wenn wir nicht abstumpfen wollen, müssen wir uns mehr und besser informieren! Das setzt aber zunächst ein grundsätzliches Interesse voraus. Und daran, glauben wir, hat es lange gefehlt. Jetzt hat diese Woche der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan, der seit Jahren über die kriegerische Gewalt in der Ukraine schreibt, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten, was an sich schon paradox und bitter anmutet. Zhadan, Jahrgang 1974, ist studierter Germanist und schreibt Prosa, Gedichte, Essays und macht Musik. Letzteres auch jetzt in den Katakomben von Charkiw, wo er lebt.
Belohnt wurden die frühen Warnungen Zhadans vor einem sich ausdehnenden Krieg nicht mit Frieden, sondern mit brutalen Angriffen der russischen Streitkräfte auf Zivilisten und einer Verwüstung des Landes. Nicht zuletzt, weil die Warnungen so richtig nur wenige interessierten. Deshalb möchten wir heute den Roman „Internat“ von Serhij Zhadan vorstellen, den wir im April diesen Jahres in unserem Literaturzirkel gelesen haben. Er erschien 2017 auf Ukrainisch und 2018 auf Deutsch im Suhrkamp-Verlag.
„Irgendwas stimmt nicht“
Protagonist ist Pascha, ein 35-jähriger Lehrer, der von seinem Vater aufgefordert wird, Sascha, seinen 13-jährigen Neffen, aus dem Internat am anderen Ende einer größeren Stadt zu holen. Weil die Schule bei der anhaltenden kriegerischen Gewalt keine Sicherheit mehr bietet. Der Roman hat keine eigentliche Handlung, beschrieben wird Paschas Weg voller Gefahren durch eine apokalyptische Landschaft hin zum Internat und wieder zurück.
Das Ganze spielt sich in drei Tagen ab, in einer nicht benannten Stadt im Donbass. Der Leser taucht ab in ein von Willkür und Orientierungslosigkeit getriebenes Geschehen, das ihn atemlos macht und in dem er sich schnell verlieren kann. Das aber ist eine sehr glaubhafte Darstellung von Krieg. So muss sich Krieg anfühlen, nicht für einen Soldaten, sondern für einen Zivilisten.
„Irgendwas stimmt nicht“ – dieses Gefühl ist eine Art Leitmotiv, das immer wiederkehrt. Pascha kann sich kaum auf etwas Gewohntes verlassen, denn Normalität gibt es nicht mehr, alles muss der Lehrer neu einschätzen lernen: Nebel kann Schutz oder gefährlich sein, je nachdem, wo man sich befindet. Das Mondlicht ersetzt die Taschenlampe, macht einen aber auch zur Zielscheibe. Wie geht man um mit ausgehungerten Hunden? Und in einer Gruppe von Fremden fällt man besser nicht auf …
Krieg: das Auflösen von Strukturen
Die Strukturierung des Romans ist nicht einfach, vielleicht weil sich Krieg nicht in eine Ordnung bringen lässt. Die zeitliche Einteilung in drei Tage hat uns jedenfalls beim Lesen nicht sehr geholfen. Ein wenig plastischer wird es, wenn man sich die Orte von Paschas gefährlicher Route durch eine weitgehend zerstörte Stadt und Landschaft vor Augen führt. Besser noch hangelt sich der Leser entlang der Weggefährten oder der Begegnungen, die Pascha an den verschiedenen Orten hat, durch diesen aufwühlenden Roman, den manche Kritiker als Roadmovie der besonderen Art beschrieben haben.
Ein Held, der nicht kämpft, aber wächst
Pascha ist kein Held. Er kämpft nicht. Nicht allein wegen seiner versehrten rechten Hand, er will auch nicht Partei ergreifen. Er will sich raushalten aus dem ganzen Kriegsgeschehen: er will seine Ruhe haben. Er ist desinteressiert an der Welt und schlecht vorbereitet für den Trip. Als Staatsangestellter ist er finanziell nicht schlecht gestellt, aber von Natur aus ist er ängstlich-aufschiebend und selbstmitleidig. Verantwortung übernehmen ist seine Sache nicht, und desillusioniert ist er auch. Paschas emotionaler Selbstschutz besteht darin, mit anderen, egal, was ihnen widerfährt, kein Mitleid zu haben. Fast wie ein Mantra sagt er zu sich:
„Kein Mitleid, mit niemandem.“
Seine Freundin Marina, die ihn verlassen hat, wie der Leser in eingeschobenen Rückblicken erfährt, urteilt über ihn mit einer rhetorischen Frage: „Was bist du bloß für ein Mann?“
Aber Aufgabe und Umstände lassen ihn allmählich wachsen. So muss Pascha die Führung eines Trecks übernehmen, nachdem der eigentliche Führer abgehauen ist. Dem pubertären Neffen, der ihn anfangs frech provoziert und Pascha seine Ignoranz und Passivität vorwirft, begegnet Pascha gelassen und fast verständnisvoll. Aber erst die Begegnung mit dem Grauen in einem verwaisten, zerstörten Kindergarten lässt Paschas Selbsterkenntnis reifen:
„Dass er ein Arschloch ist, das bis zum letzten Moment gewartet hat, bis sich die Falle öffnete, und das dann arglos hineingetrottet ist, und zwar nicht alleine, sondern mit dem Jungen. Und jetzt, wo die Stadt ganz eingeschlossen ist, wo alle möglichen Spalten und Löcher abgedichtet sind, kann er mit dem Jungen nur noch von einer Ecke in die andere laufen, hin und her, wie zwei Ratten, die ihr Schiff verpasst haben.“
Metaphern, Rhythmus, Drive
Dieser starke Roman ist reich an ungewöhnlichen Metaphern: Der Fernseher leuchtet und wärmt wie das Ewige Feuer, der Januarmorgen ist lang und unbeweglich wie die Warteschlange in der Ambulanz; eine Leitung ist an einigen Stellen gebrochen wie ein Knochen, der schmerzt und jetzt Hilfe braucht. Immer wieder vermischen sich Sinneseindrücke, die eine dichte, eindrückliche Atmosphäre entstehen lassen: der feuchte Signalton, die kalten Schlaglöcher, der Geruch von Hysterie und Klagen.
Lebewesen werden sich im Krieg ähnlicher: Die kriegsverletzten Bäume sind wachsam wie Tiere, das Harz, ihr Schmerzenssaft, rinnt an ihnen hinab wie Blut. Orte werden personifiziert: die Bahnhofsstation gibt Hoffnung, hat ein Herz, das allerdings vom Dampflokqualm geschwärzt ist. Der Bus wird zum Transportwesen, auf dessen Metallhaut die Faust des Soldaten einschlägt. Ein Taxi wird zum Hund auf rasender Tour, bei der man als Leser:in nach Luft schnappt – und spürt, dass Zhadan, der auch Musiker ist, ein unglaubliches Rhythmusgefühl hat.
„Ihr Opel stürzt sich in ein Schneeloch wie ein Hund in das schäumende Meer, schlittert, spuckt unter den Rädern Schwarzerde und Eis, aber bewegt sich vorwärts, kriecht Stück für Stück aus dem Schneematsch heraus, bekommt festen Boden unter die Räder, arbeitet sich auf das mit Schotter bedeckte Gras, wo der alte Weg gerade noch zu erkennen ist, gerät auf dem nassen Lehm immer wieder ins Rutschen, schiebt sich aber vorwärts, die Maulbeerbäume entlang, die schwarz sind wie Zeitungsschlagzeilen.“
Und dann die Angst, „ein allumfassendes, unsichtbares Wesen“, die selbst dann auftaucht, wenn gerade keine Gefahr zu erkennen ist.
Wer sind die Guten, wer die Bösen?
Der Roman liest sich teilweise wie ein Action-Film, bei dem man auch des Öfteren die Orientierung verliert: wer sind nochmal die Guten, wer die Bösen? In der grauenhaften Kindergarten-Szene spürt man förmlich die Kamera des Autors heranzoomen.
Dass Zhadan zudem auch noch die Erzählperspektive mehrfach wechselt, hätte es unserer Meinung nach nicht bedurft. Die Desorientierung und Willkür im Krieg werden schon so anschaulich genug geschildert. Symbolhaft, wenn auch vielleicht nicht ganz stimmig, wird immer wieder der nachlassende Akku von Paschas Handy erwähnt. Steht er für die verbleibende Energie von Pascha? Und wird diese für ihn und seinen Neffen reichen?
Als wir den Roman im April gelesen und besprochen haben, hatten wir vor allem die Fernsehbilder der vielen flüchtenden Ukrainerinnen im Kopf: Frauen, die ihre Männer zurücklassen mussten und nicht wussten, wie es weiter geht und die sich dennoch die Tränen verkniffen. Pascha ist nun der Antiheld. Er will nicht kämpfen. Vielleicht ist er auch etwas kriegsmüde, denn im Donbass, wo der Roman spielt, ist seit 2014, also seit drei Jahren Krieg. Aber Pascha muss über sich hinauswachsen, und er tut dies im Rahmen der Möglichkeiten seiner Person.
Interessieren wir uns genug?
Dass er dazugelernt hat, auch seine Meinung zu sagen und dazu zu stehen, lesen wir am Ende des Romans, als Pascha einen etwas großkotzigen arroganten Journalisten aus dem Westen zum zweiten Mal trifft und diesem jetzt die Meinung sagt.
„Auch für uns interessieren Sie sich nicht. Das wollte ich Ihnen sagen.“
Das ist ein direkter Vorwurf an uns hier im Westen, die wir uns schon 2014 nach dem Euromaidan in Kiew und der russischen Annektion der Krim nicht wirklich für das Schicksal der Ukraine und die Rolle Russlands interessiert haben. Und auch dann noch nicht, als die ukrainischen Separatisten mit Hilfe Russlands den Donbass mit Krieg überzogen haben.
Dieser Roman ist ein sehr guter, noch dazu extrem spannender Einstieg in eine literarische Beschäftigung mit der Ukraine und dem Schicksal der Menschen dort. Unbedingte Leseempfehlung, nicht zuletzt wegen der großartigen Übersetzung von Juri Durkot und Sabine Stöhr, die den Roman in ein frisches, packendes Deutsch übertragen haben.
„Alle bereiten sich auf den Krieg vor, der weitergeht. Jeder plant, am Leben zu bleiben, zurückzukehren. Alle wollen zurück nach Hause, alle mögen das Gefühl heimzukehren.“
CK | NK
Buchinformation
Serhij Zhadan
Internat
Suhrkamp Verlag Berlin 2018
Fester Einband mit Schutzumschlag, 300 Seiten
ISBN 978-3-518-42805-4
Weiterführende Informationen
Für alle, die sich intensiver mit der Ukraine, Russland und dem System Putin beschäftigen wollen, jetzt noch ein paar Empfehlungen. Wobei wir beschämt anmerken, dass auch bei uns dieses Interesse für Osteuropa und speziell die Ukraine erst jetzt seit dem Kriegsbeginn erwacht ist. Da ist ein literarischer Kontinent zu entdecken.
Infoseite des Verlags über Serhij Zhadan
Warum Ukraine – Dokumentarfilm von Bernard-Henri Lévy
Swetlana Alexijewtisch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus
Ein Buch über den Zusammenbruch der Sowjetunion, und was das für die Menschen bedeutet hat.
Catherine Belton: Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste
Catherine Belton beschreibt auf 704 mit Fakten vollgepackten Seiten, den Aufstieg des russischen Präsidenten und den Plan seiner KGB-Clique, sich die Macht in Russland zurückholen und den Westen mit Geld zu spalten, zu unterminieren, zu manipulieren. Eine gewaltige Rechercheleistung und bestimmt kein Wohlfühlbuch, aber ein schmerzhafter, wichtiger Augenöffner. Ein Interview mit Catherine Belton im Deutschlandfunk kann man hier nachhören.
Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht
14 Autorinnen und Autoren, darunter auch Serhij Zhadan, schreiben über das, was sie während der ukrainischen Revolution 2014 auf dem Euromaidan, davor und danach, erlebt haben, über ihr Verhältnins zu ihrem Land, ihre Sicht auf den Westen und ihre Sehnsucht nach einer freien Ukraine als Teil Europas. Das Buch ist 2014 auf Deutsch erschienen, und die Warnungen vor einem Einmarsch Russlands in die Ukraine springen einen aus diesem Buch förmlich an. Leider waren dem Westen billige Energie und gute Geschäfte mit dem Machthaber im Kreml wichtiger. Lesenswert!
Diesen Roman habe ich ebenfalls im Frühjahr gelesen – und war erschrocken, wie aktuell er ist. Ja? Genauso spielt sich der Krieg für die Bevölkerung in der Ukraine derzeit ab. Sie versuchen zu überleben, wissen odt nicht , wer Freund, wer Feind ist, hocken in Kellern zusammen und sind immer noch zu Hilfsbereitschaft in der Lage.
Nur: Hier wird nicht der aktuelle Krieg beschrieben, sondern der Krieg im Donbas, der schon einige Jahre währt – und ich muss zugeben: ich habe gar nicht richtig hingeschaut.