Es gibt Lieder, an die erinnert man sich noch nach Jahrzehnten, obwohl man sie in seiner Jugend nur ein paar Mal gehört hat. „Bring mir das Wasser vom Michigan River“ von Chris Andrews ist so ein Lied. Für mich ist dieser Song mit meinem Cousin E. verbunden, der viel zu früh und unglücklich verstarb. Mir kommt es heute so vor, der Schlager sei für E. eine Art Sehnsuchtstext gewesen.
Der Deutsch-Brite Chris Andrews besingt darin ein Mädchen, das er am Michigan River kennengelernt hat und nie vergessen konnte. Geblieben ist einzig die Erinnerung an den Michigan River, an dessen Ufer es schöner sein soll als in Rio, Toronto, San Francisco oder New York. Und dieses Wasser des Michigan River soll ihm nun der Wind übers Meer tragen, um seine Liebessehnsucht zu lindern.
Geheimnisvoller Fluss
„Flüsse sind von einem Geheimnis umgeben, das uns anzieht, denn sie entspringen dem Verborgenen und nehmen morgen vielleicht schon einen ganz anderen Lauf als heute. Im Unterschied zu einem See oder dem Meer hat ein Fluss ein Ziel, und die Bestimmtheit, mit der er sich darauf zubewegt, gibt ihm etwas ungemein Beruhigendes, insbesondere in den Augen derer, die den Glauben an ihr eigenes Fortkommen verloren haben.“
Ob die britische Autorin und Kulturjournalistin Olivia Laing im Frühjahr 2009 den Glauben an ihr Fortkommen verloren hatte, als sie sich aufmachte, um an dem Fluss Ouse im Süden Englands Trost zu suchen und neue Kraft zu schöpfen? Ganz so schlimm war es vielleicht nicht, aber immerhin musste sie die Trennung von ihrem Partner und obendrein den Verlust ihres Jobs verkraften. Also entschloss sie sich zu einer Wanderung von der Quelle der Ouse in West Sussex bis zu deren Mündung in den Ärmelkanal bei Newhaven.
„Die Ouse ist nicht sonderlich bedeutend“
Das Buch „Zum Fluss – eine Reise unter die Oberfläche“ ist das Ergebnis dieser einwöchigen Wanderung im englischen Mittsommer. Eine Wanderung, die aber nicht nur eine rein geographische ist, sondern gleichzeitig eine Expedition durch die Zeit, durch die Literatur und natürlich durch die reiche Flora und Fauna dieser Landschaft. So wie die Ouse, dort wo sie noch nicht begradigt ist, durch die südenglische Landschaft mäandriert, so schlängelt sich Laings Text durch Raum und Zeit.
Die Autorin, Jahrgang 1977, ist belesen und vielseitig interessiert; sie hat eine Weile Englische Literatur studiert und später eine Ausbildung zur Pflanzenheilkundlerin gemacht. Beides merkt man diesem leisen, informativen Buch an. Wobei man sich als Leser ab und an wünscht, man hätte zu den vielen Pflanzennamen immer gleich ein Bild vor Augen. Aber gut, man kann ja googeln und dann darüber staunen, was zum Beispiel an einem verwahrlosten Brückendamm alles so sprießt. Zum Beispiel der Acker-Schachtelhalm, auch als Zinnkraut und Botanikern als Equisetum arvense bekannt. Diese Pflanze wuchs dort schon, als noch Dinosaurier Südengland unsicher gemacht haben. Erste Erkenntnis: auch ein recht unbedeutender Fluss hat einiges zu bieten, wenn man genau hinschaut.
Das Tal der Ouse
„Die Ouse ist nicht sonderlich bedeutend. Sie hat die breiten Ströme der Geschichte nur ein- oder zweimal gekreuzt; als Virginia Woolf 1941 dort ertrank und als an ihren Ufern, Jahrhunderte zuvor, die Schlacht von Lewes ausgefochten wurde.“
Virginia Woolf, der wir in diesem Buch immer wieder begegnen, lebte mit ihrem Mann Leonard von 1919 bis zu ihrem Freitod im Jahr 1941 in einem kleinen Cottage in Rodmell unweit der Ouse. Das Haus war sehr einfach, „es gab kein heißes Wasser und in der feuchten Außentoilette stand ein Rohrstuhl mit einem Eimer drunter“, schreibt Laing, die sich zur Vorbereitung auf ihre Tour durch die Schriften von Virginia und Leonard gelesen hat.
„Doch Leonard und Virginia liebten Monk’s House, und die Ruhe und die Abgeschiedenheit erwiesen sich als der Arbeit förderlich. Große Teile von Mrs. Dalloway, Zum Leuchtturm, Die Wellen und Zwischen den Akten entstanden dort, neben hunderten von Rezensionen, Kurzgeschichten und Essays.“
Virginia Woolf (25. 1. 1882 – 28. März 1941) liebte die südenglische Landschaft, hier versuchte sie zur Ruhe und zum Arbeiten zu kommen. „Ihre einsamen, oft täglichen Wanderungen und Exkursionen scheinen ein wesentlicher Bestandteil des Schreibprozesses gewesen zu sein.“ Woolf war übrigens ziemlich humorvoll, besonders in ihren Tagebüchern und ganz und gar nicht nur die triste, trübselige Autorin, schreibt Laing.
Ist es nicht interessant, dass mit Virginia Woolf eine der wichtigsten VertreterInnen der Stream-of-Consicousness-Literatur im Zentrum eines Buches über einen Fluss steht? Vom Strom des Wassers, das Woolf liebte und inspirierte bis zum Strom der Gedanken, den sowohl Woolf als auch die Nature Writerin Laing gekonnt fließen lassen, ist es nicht weit.
„Der Tag hing offen in den Angeln.“
Wer sich mittreiben lässt von diesem bisweilen poetischen und von Thomas Mohr wunderbar übersetzten Text, der erfährt einiges über die Menschen, die an der Ouse gelebt und gearbeitet haben, aber auch dort gestorben sind. Aberhunderte von Kämpfern starben etwa in der Schlacht von Lewes am 14. Mai 1264, als die englische Adelsopposition Heinrich III. vernichtend schlug. Beim Bau der Eisenbahn von Brighton nach Hastings im Jahr 1845 stießen Bauarbeiter auf die Gebeine der Opfer dieses Gemetzels.
„Die Züge nach Hastings und Newhaven, nach Glynde und Ore und Seaford fahren jeden Tag über die verdichteten Gebeine der Männer, die 1264 hier gekämpft haben“
Noch weiter zurück in die Vergangenheit blickt die Autorin, wenn sie die Lebensgeschichte des Hobby-Archäologen Gideon Mantell streift, auch er ein Bewohner des Tals der Ouse. Mantell (1790 – 1852) war ein leidenschaftlicher, ja fanatischer Sammler von Fossilien, der zu Lebzeiten vergebens um die Anerkennung der akademischen Welt kämpfte; ihm verdanken wir heute den Begriff Dinosaurier.
Man könnte noch einige Beispiele anführen, wie gekonnt die Autorin ihre Wanderung mit ihrer Lebensgeschichte, der Geschichte des Landes und den Geheimnisses des Flusses verknüpft. Olivia Laing zeigt auf, wie sehr wir Menschen schon immer Teil einer vielschichtigen Natur waren, auch wenn wir das in unserer hochtechnisierten Zeit nicht mehr wahrhaben wollen. Aber: unser Handeln hat Konsequenzen – und zwar immer. Was wir der Natur antun, etwa in Form von Flussbegradigungen an der Ouse, schlägt früher oder später auf uns zurück: zum Beispiel als tödliches Hochwasser, weil der Fluss keinen Platz mehr hat.
„Sanft, klug und geheimnisvoll“, hat der englische Autor Robert Macfarlane dieses Buch genannt. Alles richtig, aber hervorzuheben ist auch der wohltuend zurückhaltende Ton von Olivia Laing.
NK | CK
Buchinformation
Olivia Laing
Zum Fluss – eine Reise unter die Oberfläche
aus dem Englischen von Thomas Mohr
Hardcover mit Schutzumschlag, 384 Seiten
mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis
ISBN: 978-3-442-75865-4