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Ein gelungenes Leben, was ist das?

There is a crack in everything / That’s how the light gets in. Leonard Cohen: Anthem

„There is a crack in everything / That’s how the light gets in.“ Leonard Cohen: Anthem

Ich weiß nicht, wie’s Ihnen am Anfang dieser elenden Pandemie ging. Mich hat das schon ziemlich verunsichert und tut es immer noch. Ich habe mir im Frühjahr erlaubt, ein paar kluge Leute nach philosophischen Leseempfehlungen zu fragen, die einem helfen könnten. Camus wurde genannt, klar; dann Edward Gibbons, der über den Untergang des römischen Reiches geschrieben hat; und natürlich die Stoiker: Epiktet, Seneca, Marc Aurel. Ich habe das nicht alles gelesen. Aber den Marc Aurel, den mir vor Jahren nach einer gesundheitlichen Krise mein Freund W. geschenkt hat, den habe ich immer auf dem Nachttisch liegen. Und Senecas „Von der Kürze der Zeit“ kann ich auch empfehlen.

Glück, Pech und das große Ganze

Und dann habe ich vor einem halben Jahr im Regal ein Buch von Axel Hacke entdeckt, das ich noch nicht gelesen hatte: „Wozu wir da sind: Walter Wemuts Handreichungen für ein gelungenes Leben“. Hacke lässt hier auf 240 Seiten seinen Erzähler Walter Wemut (ja, ohne „h“) um die Themen Glück, Pech, Zufriedenheit und den Sinn des Lebens kreisen. Nichts Geringeres nimmt Hacke sich hier vor. Er lässt sein Alter Ego Walter Wemut im Hacke’schen Parlando nachdenken: fragend, zweifelnd, klug, unterhaltend, lustig und melancholisch.

Aber geht das überhaupt, über Tiefsinniges in einem leichten Ton schreiben? Ja, das geht! Wenn man’s kann wie Axel Hacke. Und vielleicht fühlen sich mehr Menschen von diesem leichten, aber niemals seichten Hacke-Ton angesprochen als von schwer verdaulichen philosophischen Originalen.

„Wozu wir da sind? Ich würde sagen: Keine Ahnung erst mal.“

Sagt Walter Wemut gegen Ende des Buches, nachdem er fast 200 Seiten lang über den Sinn des Lebens und über das Glück nachgedacht hat. Zu diesem Nachdenken wird Wemut gewissermaßen gezwungen, er soll nämlich zum 80sten einer guten Freundin eine Rede über das gelungene Leben halten. Dabei sind Texte über lebende Personen gar nicht seine Kernkompetenz, wie man heute so schön sagt. Im Hauptberuf schreibt Walter Wemut nämlich Nachrufe für die Zeitung. Sein Blatt hat ihm dazu eine eigene Seite eingeräumt: Die Toten der Woche. Das können völlig unbekannte Menschen sein, aber auch berühmte Leute wie der verstorbene Hauptdarsteller der Serie „Die Sopranos“: James Gandolfini.

Kein Ratgeber, sondern anregend

Axel Hacke bei einer Lesung in Tübingen im Sommer 2020

Axel Hacke bei einer Lesung im Sommer 2020

Nun könnte man ja bei dem Wort „Handreichungen“ im Titel den Eindruck haben, dass Hacke mit seiner Lebens- und Berufserfahrung von gut sechs Jahrzehnten erstmals einen psychologischen Ratgeber geschrieben hat, so einen, von denen es in jeder Buchhandlung Dutzende gibt. Hat er aber nicht, und wollte er auch nicht, wie ich in einem Interview mit Hacke gelesen habe. Der erfolgreiche Autor und Kolumnist des Magazins der Süddeutschen Zeitung stupft uns lieber immer wieder an, selbst über unser Leben nachzudenken und darüber, ob wir es als gelungen erachten oder nicht.

Zuhören und fragen

Das Fragen ist für Hacke ganz wichtig, nicht stur auf festgelegten Ansichten beharren. Hier bezieht er sich auf Sokrates:

Ich meine, wenn ich es recht sehe, war das der Kern der sokratischen Philosophie. Das Denken des Einzelnen zu stärken, ihn zur Reflexion und zum Nachdenken zu bewegen. Und mit anderen ins Gespräch zu bringen, in ein wirkliches GESPRÄCH, nicht bloß in ein Anhören von Besserwissern.

Und ist es nicht das, was wir verändern müssen?

Würde sich nicht eine Menge tun, wenn wir etwas mehr fragend als immer nur antwortend auf andere zugingen?

Es ist eine Freude, diesen Walter Wemut bei der Denk-Arbeit für seine Geburtstagsrede für die 80jährige Freundin zu begleiten. Wie er recherchiert, die philosophischen Klassiker liest, aus deren Werken er seine Schlüsse für sich zieht; wie er von seinem Zeitungsverkäufer und seinem lebensklugen Friseur Agim erzählt, die ihm zu klaren Einsichten verhelfen; wie er aus der Biografie eines Schwertschluckers Erkenntnisse destilliert; oder wie er George Simenons Theorie vom Riss im Leben eines Menschen mit Leonard Cohens berühmtem Lied Anthem zusammenbringt. Darin heißt es, so zitiert Hacke den 2016 verstorbenen Cohen:

There is a crack in everything
That’s how the light gets in

Und der Autor schlussfolgert

Der Riss!
Man muss nach ihm suchen, nach den schadhaften Stellen bei sich und bei den anderen. Und man muss die Türen öffnen.

Hinter die eigene Fassade blicken

Die Suche nach diesem Riss bei sich erfordert Ehrlichkeit und gleichzeitig Milde sich selbst gegenüber. Außerdem ist es hilfreich, die glatte Instagram-Welt zu verlassen und sich nicht die ganze Zeit von den Likes und dem Urteil anderer abhängig zu machen. Ein Gedanke, der Wemut kommt, als er bei seinem Friseur Agim sitzt und eine junge Frau neben sich beobachtet, wie sie im Salon ein Selfie von sich macht, nachdem sie vorher in Pose gegangen ist.

Könnte es sein, dass viele Menschen sich selbst so sehr von außen sehen, also nur die eigene Fassade betrachten, dass sie selbst nicht mehr wissen, dass hinter dem Äußeren tatsächlich noch so etwas wie ein Inneres sich verbirgt?

Ganz am Ende, nachdem er viel nachgedacht und etliche Episoden aus seinem langen Leben in einer klaren schönen Sprache erzählt hat, gibt uns der Trauerredner Walter Wemut doch noch ein paar stichpunktartige Ratschläge mit auf den Weg. Aber das müssen Sie selbst lesen, nur so viel vorab:

Notieren Sie sich folgende Stichwörter: Staunen, Respekt, Zärtlichkeit.

So, es ist kurz vor Weihnachten, und wir steuern zielstrebig auf einen harten Lockdown zu. Wir werden jede Menge Zeit zum Lesen haben. Wenn Sie also noch ein kluges, gut geschriebenes Buch für sich suchen oder jemanden beschenken möchten, den Sie mögen: Wozu wir da sind – Walter Wemuts Handreichungen für ein gelungenes Leben sind eine lohnende Investion!

Lesen Sie wohl!

NK | CK

Buchinformation

Wozu wir das sind – Walter Wemuts Handreichungen für ein gelungenes LebenAxel Hacke
Wozu wir das sind – Walter Wemuts Handreichungen für ein gelungenes Leben
Verlag Antje Kunstmann, München, 2019
ISBN: 978-3-95614-313-7
Hardcover, 240 Seiten, 20 Euro
Erhältlich auch als Hörbuch, gelesen vom Autor
zur Homepage von Axel Hacke

 

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2 Kommentare

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