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„Die Stunde, in der Europa erwachte“: Kammerspiel im wüsten Land

Zerstörtes Lazarett in Craonelle am Chemin des Dames | Photo: VestPocket Kodak Marius Vasse 1891-1987 | (CC BY 2.0)

Zerstörtes Lazarett in Craonelle am Chemin des Dames | Photo: VestPocket Kodak Marius Vasse 1891-1987 | (CC BY 2.0)

„Das erste Gebäude auf dem ehemaligen Schlachtfeld war ein roh gezimmertes, schlichtes Holzhaus, das vor allem als Trink- und Aufwärmstube diente und den Namen À l’héroine des ruines – Zur Heldin der Ruinen trug.“

Zu einer Zeit, da uns die Europäische Union gerade um die Ohren fliegt, ja gleichsam in alle Himmelsrichtungen auseinanderzufliegen droht, legt der in Tübingen lebende Autor Kurt Oesterle seinen neuen Roman mit einem programmatischen Titel vor:

„Die Stunde, in der Europa erwachte“

Oesterle, der sich in seinem letzten Buch, „Die Erbschaft der Gewalt. Über nahe und ferne Folgen des Krieges“ mit den traumatischen Folgen des Ersten Weltkriegs auseinandergesetzt hat, kehrt mit seinem neuen Werk auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs zurück.

Die Handlung setzt ein im Sommer 1919. Während die Tinte des Versailler Vertrags, den die Deutschen am 28. Juni 1919 widerwillig unterzeichnet haben, gerade mal trocken ist, bieten die riesigen Schlachtfelder der Westfront ein furchtbares Bild der Verheerung. Städte, Dörfer, Häuser, ja auch die Natur, sind zerstört. Es wird, wie wir heute wissen, Jahrzehnte dauern, bis wieder Bäume dort wachsen, wo alles zerbombt, vermint oder verseucht ist:

„Die Natur bot keinerlei Trost, wer welchen brauchte, musste woanders nach ihm suchen.“

Nach hundert Jahren sind die Verwüstungen des Erstes Weltkrieges in der Natur nach wie vor zu sehen

Nach hundert Jahren sind die Verwüstungen des Ersten Weltkriegs in der Natur nach wie vor zu sehen

In diese trostlose Landschaft setzt Oesterle den zentralen Ort der Handlung, eine provisorische Kneipe mit dem etwas ungewöhnlichen Namen „Zur Heldin der Ruinen“. Estaminet nennt man im Norden Frankreichs diese Mischung aus Bistro, Kneipe und Restaurant, und es gab von diesen Estaminets, so der Autor in einem Radiointerview, etliche auf den Schlachtfeldern. Es trafen sich dort Metallsammler, Knochensammler, Vertriebene, die in ihre Heimat zurückkehrten, und mitunter auch Kriegsgefangene, die als Frontabräumer ihr Leben riskieren mussten.

Rückkehr in das, was mal Heimat war

Einer dieser Heimkehrer im Roman ist Minot,

„ein sechzehnjähriger Junge, der auf einem der Einödhöfe dieser Gegend geboren und groß geworden war. Viereinhalb Jahre zuvor, nach den ersten Kämpfen am Chemin des Dames hatte man Minot und seine Familie mit anderen Zivilisten von Haus und Hof vertrieben.“

Minots Vater ist gleich zu Anfang des Krieges 1914 gefallen, und der Junge soll nun die Lage sondieren für Mutter und Geschwister, ob und wann die Familie wieder heimkehren kann in die Gegend am Chemin des Dames. Der sogenannte Damenweg ist ein Höhenzug zwischen Laon, Soissons und Reims im Norden Frankreichs, wo eine der brutalsten Materialschlachten des Ersten Weltkriegs stattfand.

„Wo immer er hinsah, Minot erkannte das Land seiner Herkunft nicht mehr, und zwar vor allem mit dem inneren Auge und in jeder Vertrautheit, die ihn seit der Kindheit begleitete. Allein die Ortsnamen! Wenn er nur an sie dachte, kamen ihm die Tränen: Berry-au-Bac, etwa, sein Schulort, oder Sapigneul, wohin er mit seinem Vater einst gegangen war, um ihre Ziege decken zu lassen.“

Minot lässt sich vom trostlosen Anblick nicht entmutigen. Sein Antrieb sind Neugier, Trotz, Pflichtgefühl gegenüber der Familie, Mitmenschlichkeit und reichlich Optimismus. Letzteren braucht er auch: der Junge soll die Schlachtfeldkneipe Zur Heldin übernehmen, die seit dem plötzlichen Verschwinden der früheren Besitzerin verwaist ist. So bedeuten es ihm Pablo und Jan, ein Spanier und ein Pole, zwei Todesmutige, die auf dem Schlachtfeld Metall und allerhand anderes Verwertbares sammeln, um Geld zu verdienen.

Auch der Bauer Gustave, eine weitere Figur in diesem dichten, glänzend komponierten Roman empfiehlt Minot, die Heldin zu übernehmen, bis er irgendwann wieder zu seinem Hof kann, der im Moment noch in der Roten Zone liegt, in jener Zone Rouge, die als todgefährliches Gelände nicht begehbar ist. Auch Pablo, Jan und Gustave haben an den Folgen des Krieges zu leiden. Wie Minot versuchen sie, das Beste aus ihrer Situation zu machen.

Minot wird also Gastwirt, und der feine Stilist Oesterle macht aus dem Bistro die zentrale Bühne für sein Kammerspiel im wüsten Land. Nachdem sich Minot, die Haupt- und Hoffnungsfigur eingerichtet hat, lässt der Autor gekonnt die weiteren Darsteller auftreten:

Die Eltern aus Esslingen

Das Ehepaar Max und Magda Krüger aus dem Württembergischen: ihr Sohn Felix ist kurz vor Kriegsende gefallen und liegt auf einem Soldatenfriedhof namens Moscou, tief in der französischen Provinz, rund zwanzig Kilometer hinter Reims. Die Krügers, erschüttert und sprachlos, jeder allein mit seinem Schmerz, beschließen den Leichnam des Sohnes in die schwäbische Erde heimzuholen. Ein schwieriges, weil illegales Unterfangen.

Aus den Feldern der Ehre sind riesige Felder der Trauer geworden. Soldatenfriedhof bei Verdun.

Aus den Feldern der Ehre sind riesige Felder der Trauer geworden. Soldatenfriedhof bei Verdun.

Die Engländerin Elsie

Sodann lernen wir die Engländerin Elsie Norton kennen. Ihr Mann James hat die Schlachten an der Somme, in Flandern und schließlich am Chemin des Dames überlebt. Äußerlich unverletzt kehrt er nach Devon heim, aber für das Paar ist nichts mehr wie es war. Jim ist zutiefst traumatisiert, eingeschlossen in seinem Kopfkino, das er „picturedome“ nennt. Elsie ist verzweifelt, findet keinen Zugang zu ihm, kann ihm nicht helfen. Hoffnung keimt bei der Krankenschwester erst auf, als ihr ein junger Arzt einen Artikel über das Phänomen „shell shock“ und seine mögliche Heilung in die Hand drückt. Als James sich endlich in Behandlung begibt, unternimmt Elsie eine Pilgerreise zu den Orten des Grauens in Frankreich. Eine schmerzliche Tour de Force.

Kriegsgefangener Nummer 2341

Ein unregelmäßiger Stammgast in Minots Schlachtfeldbistro ist Franz, der deutsche Kriegsgefangene: „einer unter dreihunderttausend im Land“, ein hochbegabter Physiker vor dem Krieg, technikgläubig, der den Krieg als adäquate Möglichkeit sah, neue Technologien auszuprobieren. Ein junger Mann mit den allerbesten Aussichten, dessen Hoffnungen sich samt und sonders in Nichts auflösen sollten.

Gorm, der Hund

Gorm schließlich ist ein ganz besonderer Protagonist in diesem sprachlich mitreißenden Episodenroman, den man sich auch sehr gut als Theater- oder Filmfassung vorstellen kann. Gorm, die deutsche Dogge, soll zur Ehre seiner bürgerlichen Besitzer als Kriegshund ins Feld ziehen. Gorm wird Rettungshund wie mehr als 30.000 andere Artgenossen, von denen nur 10 Prozent an ihre Besitzer zurückgegeben werden konnten. An der Front trifft Gorm mit seinem Hundeführer

„auf Soldaten mit blutenden Schuß- oder Stichwunden, mit abgerissenen oder aufgeschlitzten Gliedmaßen, mit heraushängendem Gedärm, verbrannten Gesichtern, blinden Augen, und je weiter man nach vorne kam, desto schlimmer wurden die Wunden und ihr Geruch.“

Kurz vor Kriegsende wird Gorms Hundeführer tödlich verletzt, das kluge Tier bleibt seinem Schicksal überlassen. Der Hund verwildert, irrt abgemagert und misstrauisch über die verbrannte Erde, bis auch er „im wüsten Land“ in der Nähe von Minots Kneipenhütte auftaucht und sich mit seiner eigenen Hoffnungslosigkeit in das Ensemble einreiht.

Wie sich Kurt Oesterle in den Kopf dieses Hundes hineinversetzt und den Leser mittels eines klaren stimmigen Tons einlädt, mitzufühlen mit dieser dürren Dogge, ebenso wie mit der geschundenen Natur und den menschlichen Figuren, ist meisterhaft.

Europäische Welten treffen aufeinander

Gekonnt ist auch, wie der Autor die Fäden der Handlung und seine Figuren harmonisch miteinander verwebt und die Erzählperspektiven wechselt. Klasse der Griff mit dem Bistro im Niemandsland, wo ganz gezielt europäische Welten aufeinander treffen: der Pole auf den Spanier, die Deutschen auf die Franzosen, die Franzosen auf die Engländerin, die Engländerin auf die Deutschen.

„Heimatabend im Niemandsland“

So heißt eines der eindrücklichsten Kapitel gegen Ende des Buches. Das Bistro ist gut besucht, der junge Minot zur hoffnungsvollen Attraktion auf dem Schlachtfeld geworden. Da sitzen sie also alle in dieser engen, rauchigen Kneipe, mit ihrem Schmerz und ihrer Sprachlosigkeit. Der einzig sprachmächtige unter ihnen ist Jan, ein polyglotter Pole vom Rand Europas, der Französisch, Deutsch und Englisch spricht. Als Leser sitzen wir ganz leise und gebannt in einer Ecke:

„Nicht selten hockten die anwesenden Gäste nur mit versiegelten Mündern beieinander und träumten dem Tabakrauch hinterher, der durch ein geöffnetes Fenster ins Weite zog. Mancher nippte an seinem Weinglas, Minuten inniger Stille gehörten wie selbstverständlich zu den Genüssen, die hier, in diesem Dorfwirtshaus ohne Dorf, geschätzt wurden. […] So wie überall in Europa herrschte auch hier draußen seit dem Krieg das Schweigen der Verwundeten.“

Spätestens in diesem Kapitel dieses besonderen Europa-Buches wird klar, was Europa wirklich braucht, heute so sehr wie damals 1919, und was sich der Autor für Europa wünscht: Menschlichkeit und Respekt voreinander. Es braucht, so der Autor in einem Interview, ein Europa der Emotionen und nicht nur der Institutionen.

Europa ist viel mehr als nur ein Binnenmarkt, es ist ein großes Friedensprojekt, das Emotionen ebenso wie Institutionen braucht. Grafik: Europäische Kommission

Europa ist viel mehr als nur ein Binnenmarkt, es ist ein großes Friedensprojekt, das Emotionen ebenso wie Institutionen braucht. Grafik: Europäische Kommission

Gegen Ende des Buches bringt Minot, dessen Name übrigens ein altes französisches Volumenmaß ist, die Engländerin Elsie mit dem Pferdekarren zum Bahnhof. Sie spricht kein Französisch, er kein Englisch, und doch verstehen sie sich irgendwie. Auf dem Heimweg sinnt Minot über diese Begegnung mit der fremden Engländerin nach:

„Dennoch erhielt sich von solch einer Begegnung noch lange und deutlich das Gefühl, mit einem fremden Menschen da draußen irgendwie verbunden zu sein und an ihm zum ersten Mal die Erfahrung gemacht zu haben, daß man in größeren Einheiten existierte als bloß in Familie, engerer Heimat oder Nation. Ein seltsames, ein abenteuerliches Gefühl, vor allem für einen Jungen wie Minot: das Europagefühl.“

Verneigung vor den War Poets

 

Kurt Oesterle: ein guter Zuhörer, genauer Beobachter und sprachmächtiger Erzähler

Kurt Oesterle: ein guter Zuhörer, genauer Beobachter und sprachmächtiger Erzähler

Kurt Oesterle hat, wie er selbst sagt, keinen historischen Roman, geschrieben. Im Epilog lässt er aber dann doch noch eine historische Person auftreten. Die fiktive Elsie trifft auf Mary Borden, eine Amerikanerin, die nicht nur ein Frontlazarett finanziert und als angelernte Krankenschwester dort gearbeitet hat. Mary Borden gehört zu den sogenannten englischsprachigen War Poets, die ihre teils furchtbaren Kriegserfahrungen in großartigen und bewegenden Gedichten verewigt haben. Der Epilog ist ein schöner Kunstgriff, mit dem sich Oesterle, vor den War Poets verneigt. Mary Bordens Gedicht „The Song of the Mud“ hat er selbst übersetzt. Man sollte dieses Gedicht laut lesen, damit sich dessen Wirkung voll entfaltet.

Diesem wunderbar erzählten, beeindruckenden Roman sind viele Leserinnen und Leser in Europa zu wünschen, denn dieses Europa kann jede Menge Europagefühl brauchen!

Kurt Oesterle: Die Stunde, in der Europa erwachte, Klöpfer, Narr, Tübingen 2019Buchinformation

Kurt Oesterle
Die Stunde, in der Europa erwachte
Klöpfer, Narr GmbH, Tübingen, 2019
ISBN 978-3-7496-1004-4
261 Seiten, Hardcover mit Lesebändchen, 22 Euro

Weitere Informationen

Das Tübinger Radio Wüste Welle hat Kurt Oesterle zu seinem neuen Buch interviewt. Kann man online hier nachhören.

Hier gibt es ein Mémorial Chemin des Dames, nur in französischer Sprache.

Zur Geschichte des Sanitätshundewesens gibt es hier einen Artikel online.

Kurt Oesterle unterhält eine informative Internetseite hier. Der Autor liest auch gerne an Schulen.

Unsere Rezension von „Die Erbschaft der Gewalt“ finden Sie hier.

N.K. | C.K.

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