Sturz ins Leben
Sylvain Tesson, Jahrgang 1972, in Frankreich als Schriftsteller, Journalist und reisender Autor bekannt, überlebt schwer verletzt einen selbst verschuldeten Sturz aus acht Metern Höhe von einem Dach. Nach vier Monaten im Krankenhaus, wo ihn kundige Ärztinnen und Ärzte wieder einigermaßen hergestellt haben, wird ihm dringend ein medizinisches Reha-Programm empfohlen. Tesson, dessen Wirbelsäule verschraubt und dessen Gesicht infolge des Sturzes leicht schief ist, entscheidet sich dagegen. Statt dessen will er sich gesund wandern.
Sein Ziel: „Auf versunkenen Wegen“ (so der Titel seines Buches) quer durch Frankreich, von der französisch-italienischen Grenze bis zur Halbinsel Cotentin in der Normandie. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ein Bericht der französischen Regierung über die ländlichen Gebiete Frankreichs, den sogenannten „Hyperländlichen Raum“.
Ein Trupp von Experten, also Spezialisten des Unüberprüfbaren, gelangte zu der Auffassung, dass etwa dreißig französische Départements extrem ländliche Strukturen aufwiesen. Für diese Experten war Ländlichkeit keine Gnade, sondern ein Fluch: […] Was wir armselige, romantische Dussel für einen Schlüssel zum Paradies auf Erden hielten, – die Verwilderung, die Erhaltung der Natur, die Abgeschiedenheit –, wurde auf diesen Seiten zum Kriterium für die Unterentwicklung.
La France hyper-rurale
Tesson entscheidet sich, exakt diese hyperländlichen, in der Karte der Regierung dunkel markierten Regionen zu durchmessen. Dabei nutzt er nicht die bekannten Wanderrouten, sondern läuft auf den alten Wegen und Triften der Schäfer, Händler, Schmuggler, Widerstandskämpfer und Landstreicher. Die sehr genauen Karten des Nationalen Geografischen Instituts Frankreichs (IGN France) im Maßstab 1: 25000 helfen ihm dabei. Denn: Diese Generalstabskarten waren Wunderwerke, man konnte sich freuen, solche exakten Darstellungen des Geländes zu besitzen. In diesen Karten findet der wandernde Rekonvaleszent seine versunkenen Wege abseits des großen Gedränges. Wege auch zu sich selbst.
Manche Menschen hofften darauf, in die Geschichte einzugehen. Ich gehörte zu den wenigen, die es vorzogen, im Gelände unterzutauchen. Die versunkenen Pfade waren auch verborgene Verbindungswege, sie skizzierten die Fußwege eines vergessenen Frankreichs, das Wegenetz eines ehemals bäuerlichen Landes.
Gehen, essen, trinken, beobachten
Natürlich muss Tesson immer mal wieder auf seiner Tour Kompromisse machen, sich den ungeliebten, dicht besiedelten Zonen nähern oder diese samt Schnellstraßen durchqueren. Im Großen und Ganzen jedoch bewältigt er seine beeindruckend langen, zu Beginn schmerzhaften Tagesmärsche fernab von dem, was wir Zivilisation nennen, und was ihn immer wieder melancholisch stimmt. Tesson marschiert, isst, trinkt, schläft, letzteres meist ohne Zelt unter freiem Himmel. Vor allem jedoch beobachtet der Autor mit stetig wachsender Aufmerksamkeit: Pflanzen, Tiere, Landschaft, manchmal andere Menschen. Und er denkt darüber nach, was sein Land und dessen Regierung bereitwillig dem Fortschritt geopfert haben, und was jetzt durch noch mehr Fortschritt (hyperschnelles Internet in jedem Kuhstall) wieder repariert werden soll. Tesson hat große Zweifel und zitiert Jean Cocteau: Möglicherweise ist der Fortschritt nur die Weiterentwicklung eines Irrtums.
Samthäutige Blüten des Aubrac
Tesson ist nicht gut auf die blutleeren Verwaltungsbeamten in Paris zu sprechen, keine Frage.
Die Abdecker des alten Lebensraumes kümmerten sich darum, den Kadaver des ländlichen Frankreichs wieder zusammenzuflicken, zu dessen Ableben sie beigetragen hatten.
Doch bei aller Melancholie und Wut, die ihn bisweilen überkommt, überrascht er den Leser immer wieder mit poetischen Naturschilderungen, so zum Beispiel, als er das dünn besiedelte Aubrac durchwandert:
Selbst die Samthaut der Kühe fing das Licht anmutig ein. Im Aubrac fasste man diese Tiere unter einer Bezeichnung zusammen, die, so dachte ich, den Völkern Zentralasiens vorbehalten war, und unter die ich zu meinem Bedauern nicht fiel: die »Rasse der großen Weiten«. Ich grüßte diese »Blüten des Aubrac« mit begeisterten Gesten.
Es gibt Zwischenräume
Man musste sie suchen, es gab Zwischenräume. Es gab noch die versunkenen Pfade. So beendet Sylvain Tesson dieses besondere Frankreich-Buch, das man Lesern und Wanderern in den Rucksack legen möchte, die sich für die Schönheiten, aber auch für das Absonderliche abseits der Trampelpfade der Menge begeistern können.
Buchinformation
Sylvain Tesson
Auf versunkenen Wegen
Deutsche Übersetzung: Holger Fock, Sabine Müller
Knaus Verlag, München, 2017
ISBN: 978-3-8135-0775-1