Permalink

off

Kraft, Eleganz, Mut: „Das Wunder von Berlin“

Riemen am Chichester Canal Boathouse, West Sussex. Foto: Norbert Kraas

Riemen am Chichester Canal Boathouse, West Sussex. Foto: Norbert Kraas

Rudern ist eine Kunst

Schon mal richtig gerudert? Nein? Gut möglich, dass Sie am Ende des Buchs, das wir Ihnen heute vorstellen, nach einem Ruderclub in Ihrer Nähe Ausschau halten. Mir ist es jedenfalls so ergangen, nachdem ich „Das Wunder von Berlin“ von Daniel James Brown gelesen hatte. Axel Hacke hat mich vor ein paar Wochen auf dieses Buch hingewiesen. Obwohl es 2013 in den USA ein New-York-Times-Bestseller war, hatte ich hier noch nie davon gehört. 2013 erschien es unter dem Titel „The Boys in the Boat“.

Die Handlung in einem Satz: Acht Ruderer und ihr Steuermann aus dem US-Bundesstaat Washington gewinnen 1936 bei den Olympischen Nazi-Spielen in Berlin die Goldmedaille im Achter und verderben Hitler und seinen Gefolgsleuten das bereits minutiös geplante Ruderfest. Dieses Wunder, das der amerikanische Achter an der Regattastrecke in Grünau vor 75.000 Zuschauern vollbringt, ist der dramatische Höhepunkt, auf den die Handlung zuläuft.

Die Spannung dieses Buchs beginnt aber nicht erst mit dem Einmarsch der amerikanischen Ruderer ins Berliner Olympiastadion – gefilmt von der Hitler-Verehrerin Leni Riefenstahl. Es ist von Anfang an spannend, unterhaltend und lehrreich – insbesondere, wenn man, wie ich, nie aktiv gerudert ist.

Harmonie, Gleichgewicht, Rhythmus

„Harmonie, Gleichgewicht und Rhythmus, diese drei Dinge begleiten einen durch das ganze Leben. Ohne sie gerät die Zivilisation aus den Fugen. Und deshalb kann ein Ruderer, wenn er ins Leben hinausgeht, sich behaupten und mit dem Leben zurechtkommen. Er hat das beim Rudern gelernt.“ George Yeoman Pocock

Welche Bedeutung Harmonie, Gleichgewicht und Rhythmus für das Rudern wie für das Leben haben, erzählt Daniel James Brown auf 467 Seiten. Im Zentrum dieser wahren Geschichte steht Joe Rantz, geboren 1914 und aufgewachsen während der amerikanischen Depressionsjahre unter schwierigen Verhältnissen. Joe, 1,95 Meter groß, hat Kraft wie ein Bär, ist aber unsicher und verletzlich. Als junger Student bewirbt er sich im Herbst 1933 im vierten Jahr der Weltwirtschaftskrise um die Aufnahme ins Freshman-Team des Ruderachters der Universität Washington. Die Aufnahme ins Ruderteam ist für ihn mit der Möglichkeit verbunden, etwas Geld zu verdienen. Geld, das Joe weder von seinen Eltern bekommt (die haben ihn im Alter von zehn Jahren sprichwörtlich verstoßen), noch mittels eines Studentenjobs oder Stipendiums. Joe hat Glück, er verfügt über einen eisernen Willen und ist bereit, sich zu quälen. Er übersteht den knallharten Ausleseprozess auf dem Lake Washington, wo auch im Winter gerudert wird, bis die Hände fast an die Riemen frieren.

Kraft und Charakter

Mit der Aufnahme ins Team beginnt für Joe Rantz und seine Kameraden, die immer auch erbitterte Konkurrenten um einen Stammplatz im ersten Achter sind, eine dreijährige Schinderei bis zum olympischen Rennen in Berlin 1936. Dass es diese jungen Männner dahin schaffen könnten, deutet sich erstmals nach 100 Seiten an, als der Trainer des Freshman-Achters nach einem Testrennen auf dem Lake Washington im Frühjahr 1934 zu folgendem Schluss kommt:

„Er war nicht nur von den körperlichen Fähigkeiten der jungen Männer beeindruckt, sondern mochte auch ihren Charakter. Ihre raue optimistische Art, mit der sie es bis hierher geschafft hatten, schien symptomatisch für ihre Wurzeln im Westen. Sie waren die wahren Söhne der Holzstädte, Milchfarmen, Minencamps, Fischerboote und Werften.“

Der Bootsflüsterer

„Das Wunder von Berlin“ ist ein gründlich recherchierter, packend erzählter Roman im Stil einer Reportage. Der mehrfach ausgezeichnete Sachbuchautor Brown verwebt gekonnt den entbehrungsreichen Trainingsweg des Washingtoner Achters mit den Olympiavorbereitungen der Nazis und der Lebensgeschichte von Joe Rantz. Eine wichtige Nebenrolle in dieser wahren Geschichte spielt George Yeoman Pocock, ein begnadeter Bootsbauer. Pocock hat, als er noch in England bei seinem Vater das Handwerk des Bootsbauers erlernte, erkannt, wie man technisch besser rudert. Und er weiß, wie wichtig, neben Technik und Kraft, die Psyche des Einzelnen und der Mannschaftsgeist sind. Damit wird Pocock in seiner Werkstatt zu einem weisen Ratgeber. Jedes Kapitel wird mit einem Zitat dieses Bootsflüsterers eingeleitet. Hier wird immer wieder deutlich, dass es in „The Boys in the Boat“ um das menschliche Miteinander geht – auf dem Wasser und an Land.

Demut als Tor zum Erfolg

Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass diese jungen, starken Männer nie eingebildet und arrogant wirken oder gar meinen, sie seien unbesiegbar. Statt durchaus zu erwartender Hybris steht für Joe Rantz und seine Jungs vielmehr die Erfahrung im Vordergrund, dass es im Leben nicht nur bergauf geht, sondern dass Rückschläge dazugehören. Die Ruderer und ihre Trainer kämpfen mit Versagensängsten und ihrer Unsicherheit.

„Jeder hatte auf seine Weise erfahren, dass in diesem Leben nichts selbstverständlich war, dass in der Welt Kräfte wirkten, die trotz ihrer Kondition, ihres guten Aussehens und ihrer Jugend stärker waren als sie. Die Herausforderungen, denen sie sich gestellt hatten, hatten sie Demut gelehrt, die Notwendigkeit, das eigene Ich dem Boot als Ganzem unterzuordnen, und Demut war das Tor, durch das sie jetzt gehen konnten, um gemeinsam etwas zu schaffen, das ihnen bisher noch nicht gelungen war.“

Wir wünschen gute Unterhaltung und natürlich Riemen- und Dollenbruch!
NK/CK

Information zum Buch

Daniel James Brown
Das Wunder von Berlin
Goldmann Verlag, München 2017
ISBN 978-3-442-15926-0 


Trailer zur englischen Ausgabe des Buches

#supportyourlocalbookstore #buylocal

Print Friendly, PDF & Email

Kommentare sind geschlossen.

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner