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Auf dem „Jahrmarkt der Wunder“

„Ein erstbestes Wunder: / Kühe sind Kühe“. Foto:  Norbert Kraas, Ecussols, Burgund.

„Ein erstbestes Wunder: / Kühe sind Kühe“. Foto:  Norbert Kraas, Ecussols, Burgund.

JAHRMARKT DER WUNDER

Ein Alltagswunder:
dass es so viele Alltagswunder gibt.

Ein gewöhnliches Wunder:
das Bellen unsichtbarer Hunde in einer stillen Nacht.

Ein Wunder von vielen:
eine kleine und flüchtige Wolke,
aber sie kann den grossen und harten Mond verschwinden lassen.

Mehrere Wunder in einem:
eine Erle, die sich im Wasser spiegelt,
und dass sie von links nach rechts gewendet ist
und dass sie mit der Krone nach unten wächst
und überhaupt nicht bis auf den Grund reicht,
obwohl das Wasser seicht ist.

Ein Wunder an der Tagesordnung:
Recht schwache und milde Winde,
doch in der Sturmzeit böig.

Ein erstbestes Wunder:
Kühe sind Kühe.

Ein zweites, nicht geringeres:
dieser und kein anderer Garten
in diesem und keinem anderen Obstkern.

Ein Wunder ohne schwarzen Frack und Zylinder:
ausschwärmende weisse Tauben.

Ein Wunder, denn was sonst:
die Sonne ging heute um drei Uhr vierzehn auf
und sie wird untergehen null Uhr eins.

Ein Wunder, das nicht so verwundert, wie es sollte:
die Hand hat zwar weniger Finger als sechs,
dafür mehr als vier.

Ein Wunder, so weit man schauen kann:
die allgegenwärtige Welt.

Ein beiläufiges Wunder, beiläufig wie alles:
was undenkbar ist – ist denkbar.

Ein Gedicht von Wisława Szymborska, die große polnische Dichterin, die 1996 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie wurde am 2. Juli 1923 in Kórnik, Polen geboren und starb am 1. Februar 2012 in Krakau. Für Wisława Szymborska, die auf Deutsch bei Suhrkamp verlegt wird, konnte alles in Gedichten verarbeitet werden. Alles war willkommen auf dem „Jahrmarkt der Wunder“. Denn über alles lässt sich staunen und schreiben, aber bitte ohne künstliches Pathos. Sie sagte selbst in ihrer Rede zum Literaturnobelpreis:

„In der Sprache der Poesie ist nichts gewöhnlich und nichts normal. Nicht ein einziger Stein und nicht eine einzige Wolke darüber. Nicht ein einziger Tag und nicht eine einzige Nacht. Und vor allem kein einziges Leben.“

Willkommen auf dem Jahrmarkt der Wunder!

NK | CK

Buchinformation

Wisława Szymborska
Hundert Freuden. Gedichte
Suhrkamp Taschenbuch, 2023, 18. Auflage
ISBN: 978-3-518-39089-4

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1 Kommentar

  1. Hartmann, Georges 5. Februar 2024 um 13:21

    In der Bibel haben die Wunder eine derartige Hochkonjunktur, dass ich vor lauter Staunen oft nicht mehr ein und aus weiß. „Wunder gibt es immer wieder …“ hat bereits Katja Ebstein gesungen, während meine Mutter es als ein wahres Wunder erachtete, wenn ich mal eine bessere Schulnote als ausreichend geschafft hatte. Wenn ich übergangslos nach Amerika blicke und mir den aktuellen Wahlkampf um die Präsidentschaftskandidatur betrachte, braucht es sicherlich ein sehr viel größeres Wunder, wenn am Ende ein Ergebnis zustande kommen sollte, bei dem mir der Glaube an mögliche Wunder endgültig hops gehen könnte. Dagegen könnte im Osten unserer Republik anlässlich dreier noch ausstehender Wahlen, die Demokratie ein deutsches Wunder bewirken, wenngleich es im Fußball nicht schlecht wäre, wenn das Wunder einer neuerlichen Meisterschaft der Bayern aus München mal eine Verschnaufpause einlegt …

    Und wie hat es der Simmel mal auf den Punkt gebracht? …. „Mich wundert, dass ich so fröhlich bin“ … Mit einem Wort: Unser Verstand kennt auch den Grundsatz: „Die Hoffnung stirbt immer zuletzt“

    „Bleiben Sie zuversichtlich und verlieren Sie niemals die Nerven, wenn Sie irgendwann von einem

    „blauen Wunder“ heimgesucht werden sollten“

    Vergessen auf Zeit
    im sich lichtenden Nebel
    die alten Fragen

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