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Glück der Melancholie

Die Amsel (Turdus merula) ist mit ihrem Gesang die Primadonna assoluta

Die Amsel (Turdus merula) ist mit ihrem Gesang die Primadonna assoluta

Unbeirrt
überstimmt die Amsel
die Abendmelancholie

Ein Gemeinschafts-Haiku von Kranō und Kō

Glück der Melancholie

Der polnische Dichter Adam Zagajewski (21. Juni 1945 – 21. März 2021) spricht in einem Gedicht vom „dunklen Glück der Melancholie“. Vielleicht drücken diese Worte ganz gut aus, was die Menschen in Japan zur Kirschblütenzeit empfinden. Es ist die Freude über den Frühling, die blühende Natur, das neue Leben und gleichzeitig das Gewahrwerden der Tatsache, dass nichts Bestand hat.

Dichtung ist die Kindheit der Zivilisation.
Sagten die Philosophen der Aufklärung
sowie unser Polnischlehrer, groß, hager,
wie ein Ausrufezeichen, das den Glauben verloren hat.

 

Damals wusste ich nicht, was antworten,
ich war selbst noch ein bisschen Kind,
doch ich denke, dass ich im Gedicht

 

Weisheit finden wollte (ohne Resignation)
und auch eine Art ruhigen Wahnsinn.
Ich fand, viel später, Augenblicke der Freude
und das dunkle Glück der Melancholie.

Adam Zagajewski, übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Zagajewskis Bücher erscheinen im Hanser-Verlag.

NK | CK

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2 Kommentare

  1. Vor dem Zimmer meiner Kindheit stand eine prächtige japanische Zierkirsche. Es war das größte Glück im Frühjahr, wenn die Blüten die ganze Aussicht einnahmen. Ein Meer in Rosa. Jahre später habe ich nochmals einen Blick in den Garten geworfen – der Baum war gekappt. Die Bewohner im ersten Stock hatten nicht das Glück des Rosa, nur den Schatten des Stammes… Helles und dunkles Glück— Danke für das Gedicht des großen Zagajewski und ein helles Wochenende

  2. Hartmann Georges 8. April 2024 um 12:39

    Wenn der Abend dem Ende entgegenstrebt, sich der Horizont in ein flammendes Rot oder allmählich in ein schwächer werdendes Rosarot verwandelt, und die Betrachter dieser Szenerie in ein andächtiges Schweigen verfallen, weil im Kopf nicht nur die Erhabenheit des Anblicks berührt, sondern sich die Gedanken wie von selbst auch mit dem eigenen Leben zu beschäftigen beginnen, dem irgendwann nur mehr ein allerletzter Atemzug verbleibt, bis die organische Festplatte im Gehirn irreparabel alles löscht und allenthalben in den Köpfen mancher Menschen (vielleicht) noch die ein oder andere Erinnerung haften bleibt, bis auch diese vom Tagesgeschehen immer weiter in den Hintergrund rückt und selbst der oder die Verstorbene dann auch in den Erinnerungen der Menschen Stück für Stück verblasst und so im ungünstigsten Fall der Vergessenheit anheimfällt, soweit es sich nicht um Vater, Mutter, Bruder, Schwester, sonstige Angehörige, Prominente usw. handelt. Die Prominenz hat hierbei den entscheidenden Vorteil, dass deren Todestag in den Medien immer mal wieder hervorgehoben wird …

    Um wieviel mehr Glück haben dagegen jene Kirschblüten, die sich uneingeschränkter Beliebtheit auf der Welt erfreuen und mit Fotoapparaten bestückte Prozessionen auslösen, die ein Erinnerungsfoto nach dem anderen aufnehmen, während sich die weiß blühenden Varianten möglicherweise diskriminiert fühlen? Immerhin stehen rosafarbene Flamingos oft auf einem Bein herum, und der ebenfalls mit rosafarbenen Bauchfedern behaftete Kleiber kann mit einem visuellen Spektakel aufwarten, wenn er kopfüber an Baumstämmen nach unten läuft.

    Verliebte schweben in der Regel auf rosaroten Wolken, was immerhin ein tolles Gefühl ist, aber wenn es sich aus welchen Gründen auch immer in eine bedrohlich schwarze Wolke verwandelt und wie eine in den Luftballon gestochene Nadel für eine unerfreuliche Katastrophe sorgt, an der man in der Regel lange zu kauen hat und rosarot ganz plötzlich in der Wertschätzung eine Bauchlandung hinlegt. Die Farbe rosa steht für eine Vielzahl von Gefühlen der unterschiedlichsten Art und – um nach diesem Exkurs wieder auf die Kirsche an sich zurückzukommen – die man sich, vom Baum gepflückt über das Ohr legen kann, oder unter dem Begriff „alte Kirsche“ als edles Schnäpschen am Ende eines ereignisreichen Tags mit glänzenden Augen gönnen darf, fällt dem Leser sicherlich noch vieles ein, warum ausgerechnet die Kirschblüten eine derartige Faszination auslösen … weil diese womöglich auch manchmal zu Sätzen verführen wie „Damals unter den Kirschblüten in Bonn …“ und Insoweit auch Momente konservieren und die guten Erinnerungen Jahr für Jahr wachhalten.

    Ob Forsythien,
    Kirschblüten oder das Gras,
    alles rosarot

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