Wer es am Herz hat, geht zur Kardiologin. Wer Hautprobleme hat, geht zum Dermatologen. Aber wohin geht man, wenn einem die politische „Weltunordnung“ mit ihren ganzen Kriegen und Konflikten immer mehr zu schaffen macht? Wie wäre es mit einem informativen, faktenfundierten Sachbuch, geschrieben von einem Experten, der etwas von seinem Metier versteht und niemandem nach dem Mund redet?
„Wenn Sie optimistische Szenarien hören wollen, müssen Sie mit jemand anderem reden …“
Zeitenwende oder Zeitlupenwende?
Dieses Zitat stammt von Carlo Masala, einem wirklichen Experten für politische Krisen, Konflikte und Kriege, der selbst intellektuelle Scharmützel nicht scheut. Masala, der an der Universität der Bundeswehr in München als Professor Internationale Politik ist lehrt, ist dem deutschen Publikum vor allem seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bekannt. Vor wenigen Wochen ist Masalas neues Buch bei C. H. Beck erschienen: „Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende“
200 Seiten umfasst der Gesprächsband, in dem sich Masala den Fragen von Sebastian Ullrich (Cheflektor bei C.H. Beck) und Matthias Hansl (Programmleiter bei C.H. Beck) stellt. Und ein bisschen fühlt es sich beim Lesen so an, als würde man selbst Gelegenheit haben, diesen Experten mit Fragen zu löchern.
Masala gilt in der Politikwissenschaft als Neorealist. Die gehen, vereinfacht gesagt, davon aus, dass die internationalen Beziehungen der Staaten durch die Dominanz ihrer eigenen Sicherheitsinteressen geprägt sind. Der Selbsterhaltungstrieb geht dabei über alles, und sie schrecken auch vor einer Verweigerung der Zusammenarbeit mit anderen Staaten nicht zurück. Bis vor gut einem Jahr konnte ich mit dem Etikett „Neorealist“ noch nichts anfangen. Nach fast zwei Jahren Krieg in der Ukraine, Ende nicht absehbar, und dem brutalen Massaker der Hamas in Israel, kann Deutschland froh sein, einen Experten wie Carlo Masala zu haben, der die Welt realistisch analysiert und sich nach eigener Aussage in Wolkenkuckucksheimen nicht wohlfühlt.
Masalas neues Buch ist zum einen eine schonungslose Analyse deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem in Bezug auf Russland und China. Zugleich ist der Band ein deutlicher Weckruf, der hoffentlich auch im politischen Berlin Gehör findet. Das wäre nämlich dringend nötig, denn nach dem 27. Februar 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz die Zeitenwende-Rede gehalten ist, ist viel zu wenig passiert, was diesen Namen wirklich verdient hätte. Masala spricht eher von „Zeitlupenwende“. Deutschland ist, man liest es ernüchtert bis erschrocken: „Bedingt abwehrbereit“.
Bequemlichkeit und falsche Prioritäten
Wäre Deutschland und nicht die Ukraine Opfer eines russischen Überfalls geworden, so Masala, „hätte die Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr in diesem Fall zwischen drei Tagen und zweieinhalb Wochen betragen, nicht länger.“ Wie er zu diesem Urteil kommt, und warum die Bundeswehr in ihrem jetzigen Zustand das Territorium der Bundesrepublik Deutschland nicht verteidigen könnte, ist Gegenstand des ersten von drei großen Kapiteln dieses Buchs.
In diesem ersten Teil geht es um die Frage, warum Deutschland nur bedingt abwehrbereit ist, und warum wir in den letzten Jahrzehnten so bequem geworden und dabei sehenden Auges in diesen gefährlichen Zustand hineingerutscht sind. Masala nimmt kein Blatt vor den Mund und wirft den Deutschen Bequemlichkeit und falsche Prioritätensetzung nach 1990 vor. Wir hätten davon profitiert, dass wir das Geld, das wir nicht für die Bundeswehr und die Verteidigung ausgegeben haben, anderweitig einsetzen konnten. Warum? Weil andere, allen voran die USA, für unsere Sicherheit gesorgt haben. Dazu kommt:
„Der deutsche Staat hat eine seiner Kernfunktionen, nämlich die Organisation der Sicherheit nach außen, der neoliberalen Agenda geopfert.“
Masala meint damit, dass die Bundeswehr viele Aufgaben im Zuge einer neoliberalen Privatisierung an Privatunternehmen vergeben hat. Das beginnt bei der Verpflegung und endet beim Fuhrpark und dessen Instandhaltung. Im V-Fall, also dem Verteidigungsfall, von dem in meiner Wehrdienstzeit Anfang der 1980er ständig die Rede war, wäre dies ziemlich hinderlich. Denn wie soll man etwa einen Panzer vom Typ Leopard II in kürzester Zeit vom Schlachtfeld zu einer privaten Instandhaltung bringen? Und was wenn diese private Werkstatt grade keine Zeit hat, weil sie, sagen wir, mit anderen Aufträgen mehr Geld verdienen kann?
Ganz ehrlich, es klingt alles nicht gut, was Masala da an dichten Fakten verständlich präsentiert, und es wirft ein ganz schlechtes Licht auf die verantwortlichen Politiker*innen, die, wie wir alle (!), von der „Friedendividende“ nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion profitiert haben.
Offensichtlich hat unser Land nicht nur Brücken, Straßen und Schulen kaputt gespart, sondern auch die Bundeswehr, die jetzt nach der Zeitenwende im Deutschlandtempo (was immer der Bundeskanzler darunter versteht) auf Vordermann gebracht werden soll: mit einem Sondervermögen und vereinfachten Strukturen. Reicht alles nicht, sagt Masala, der auch ein paar Jahre am NATO-Defense College in Rom gelehrt hat. Wir brauchen nicht nur bessere Ausrüstung, sondern auch mehr technische Aufrüstung, um wieder wehrhaft zu werden. Und Wehrhaftigkeit wiederum ist eine der Grundbedingungen, um sowohl in der NATO als auch im weltweiten Kräftespiel einigermaßen ernst genommen zu werden.
Verteidigungsbereitschaft heißt für Masala aber nicht nur Waffensysteme oder warme Winterunterwäsche für unsere Soldatinnen und Soldaten. Die Verteidigung ist eine Sache, die den gesamten Staat und die ganze Gesellschaft betrifft. Das leuchtet ein und führt zu weiteren Fragen: Wie wehren wir massive Cyberangriffe und Desinformationskampagnen ab? Wie gut oder schlecht ist unsere kritische Infrastruktur geschützt? Wie resilient sind wir als Gesellschaft im Falle eines Angriffs? Masala bescheinigt Deutschland auch hier kein gutes Zeugnis. Für ihn sind die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, der baltischen Staaten oder Polen Vorbild. Dort lebt man schon länger mit einem bedrohlichen Nachbarn an der Ostgrenze und lässt sich von diesem nicht einlullen.
Kalt erwischt am langen Tisch
Deutschland hingegen wurde am 24. Februar 2022 im wahrsten Sinne des Wortes kalt erwischt. Die Regierungen der letzten Jahre sind aus Naivität und weil russisches Gas und russisches Öl so billig waren, einfach nicht von einem russischen Angriff auf die Ukraine ausgegangen.
Damit sind wir im zweiten erhellenden Gesprächsblock, der deutschen Russland- und Ukrainepolitik vor und nach dem 24. Februar 2022. Auch hier lässt Masala in seiner kühlen und knallharten Analyse kaum ein gutes Haar an deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Wir sind Putin, dem alten KGB-Geheimdienstler auf den Leim gegangen. Wir sind einfach davon ausgegangen, dass man Putin vor dem 24. Februar 2022 noch hätte bremsen können. Die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim 2014? Haben wir ignoriert und stattdessen Nord Stream 2 auf den Weg gebracht. Wie naiv und optimistisch kann man sein? denkt man ein ums andere Mal.
„Strategisch sollte man immer davon ausgehen, dass nicht die optimistische, sondern die pessimistische Annahme eintritt.“
Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft sind halt lieber davon ausgegangen, dass schon alles gut gehen wird und haben nicht bemerkt (oder um der Geschäfte willen nicht merken wollen), dass der imperial denkende Fuchs Putin sie ein ums andere Mal über seinen langen, hässlichen Tisch gezogen hat. Die Gründe liegen für Masala auf der Hand:
„Man hätte die Logik, die Putins Verhalten zugrunde liegt, früher erkennen können. Man wollte sie nicht erkennen, weil es einen dazu gezwungen hätte, die eigene Logik zu ändern und den Zusammenhang zwischen militärischer Macht und Diplomatie viel enger zu sehen. Dies widersprach unserem Selbstverständnis und unserer Tradition.“
Masala geht auch Kapitel auch auf Kritiker der Waffenlieferungen an die Ukraine ein, die immer behaupten, die NATO und der Westen hätten Russland förmlich zum 24. Februar 2022 gedrängt. Und er geht auch auf die Fehler der EU, des Westens und der NATO ein (Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen) ein, um dann, argumentativ schlüssig, klar zu stellen, dass die Russlandversteher eben gerade Russlands wahre, imperiale Motive nicht verstanden haben. Länder, die näher an Russland dran sind, sehen da offensichtlich klarer:
„Die Polen zum Beispiel haben immer vor der Fehlwahrnehmung gewarnt, Russland sei eine saturierte Macht, die nur ökonomische und Sicherheitsinteressen verfolge, und darauf gepocht, es handele sich um eine revisionistische Macht mit expansionistischen Zielen. Sie haben recht behalten.“
Dies wird übrigens, so Masala, auf lange Sicht so bleiben, ganz gleich wie der Krieg in der Ukraine ausgehen wird. Mit diesem expansionslüsternen Russland werden wir lange Sicht leben müssen. Entsprechend muss die Sicherheitspolitik Deutschlands in Zukunft ausgerichtet werden.
Gekommen, um zu bleiben: Weltunordnung
Die „Weltunordnung“, so der Titel von Masalas letztem, ebenfalls lesenswerten Buch, wird bleiben.Und auf diese Weltunordnung müssen wir uns konsequent einstellen, und zwar in allen Bereichen unseres Staates. Sehr deutlich fordert Masala auch von der Wirtschaft, die bisher Profit über alles stellt, ein Umdenken. Hier stößt ihm vor allem die rein profitorientierte Haltung zu China auf, einem extrem machtbewussten Akteur, den wir bitteschön nicht unterschätzen sollten.
„Was in Deutschland fehlt, ist ein großer strategischer Dialog zwischen Wirtschaft und Politik in geopolitischen bzw. geoökonomischen Kategorien.“
Ob es dazu kommen wird? Gut wär’s. Denn die Herausforderungen der Zukunft sind enorm. Als Stichworte seien genannt: China, Taiwan, Trump, die autoritären BRICS-Staaten
„Die politischen Eliten und öffentlichen Intellektuellen müssen die Herausforderungen der Weltunordnung im 21. Jahrhundert klar benennen und ein Bewusstsein für die daraus resultierende Verletzlichkeit unserer Gesellschaft schaffen.“
Und weil wir nicht mehr davon ausgehen können, dass wir angesichts der bleibenden Weltunordnung in aller Ruhe mit Demokratien und Diktaturen gleichermaßen tolle Geschäfte machen können, wird es höchste Zeit, dass möglichst viele Menschen dieses kluge, klarsichtige Buch lesen.
Ich für meinen Teil wünsche mir jedenfalls in Zukunft eine „Masala-basierte Außen- und Sicherheitspolitik“ statt des wolkigen Wortgeklingels aus Kanzleramt und Außenministerium.
NK | CK
Buchinformation
Carlo Masala
Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende
Broschur, 207 Seiten
Verlag C.H. Beck, München, 2023
ISBN: 978-3-406-80039-9
Carlo Masala ist regelmäßig Mitgastgeber des Podcast „Sicherheitshalber“
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