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Durch Europa mit Henri Cartier-Bresson

Hommage an Cartier-Bresson. Foto: Norbert Kraas | Schöne Postkarten

Hommage an Henri Cartier-Bresson. Foto: Norbert Kraas | © Schöne Postkarten Nr. 122

Als diese Zeit anfing, an die wir uns irgendwann mal als „Corona-Zeit“ erinnern werden, hat die Süddeutsche Zeitung eine Serie mit dem Titel „Überlebenskunst“ gestartet. Die Autor*innen gaben dort Kulturtipps im weitesten Sinn: mal wurde ein Buch empfohlen, mal eine CD, mal eine neue TV-Serie und auch mal eine besondere Internet-Seite. Und weil die Corona-Zeit auch als die Zeit in die Geschichte eingehen wird, in der wir nicht reisen durften oder aus Vorsicht weniger reisten, wurden in der Serie auch Fotobände empfohlen. Reisen zwischen zwei Buchdeckeln gewissermaßen.

Zu Recht, denn in Fotobänden kann man sich verlieren, innerlich auf Reisen gehen. Und mal ehrlich, wer möchte sich dieser Tage in einen Ferienflieger setzen, dicht an dicht mit anderen Reisenden, wo wir doch gerade erst die Bedeutung des Wortes „Aerosol“ gelernt haben?

Das Flüchtige beim Schopf packen

Zum Verreisen empfehlen wir heute einen Fotobuch-Klassiker mit dem aktuellen Titel „Les Européens“. Die Europäer, so hieß das großformatige Buch mit Schwarzweißfotografien, das der legendäre Henri Cartier-Bresson 1955 veröffentlicht hat. Das Cover des Buches hat kein geringerer als Juan Miró gestaltet. Der deutsche Verlag Schirmer/Mosel hat anlässlich einer Cartier-Bresson-Ausstellung in Düsseldorf im Herbst 1998 den Ausstellungsband „Europäer“ rausgebracht, der noch mehr Fotos enthält als das Originalbuch.

Abbildung aus dem besprochenen Bildband „Les Européens“ von Henri Cartier-Bresson

Abbildung aus dem besprochenen Bildband „Les Européens“ von Henri Cartier-Bresson

„Les Européens“ führt uns durch ein Europa, das es so heute nicht mehr gibt. Cartier-Bresson hat alle Fotografien des Buches zwischen 1950 und 1955 mit seiner geliebten Leica M gemacht. Diese Kleinbildkamera war kompakt, klein und unauffällig. Und auffallen wollte Cartier-Bresson als Fotograf auf keinen Fall. Er wollte schnell sein. Und er war schnell und gesegnet mit einer traumwandlerischen, beneidenswerten Sicherheit beim Erfassen und Festhalten einer Szene.

„In der Fotografie ist das Schöpferische die Suche eines Augenblicks, ein Wurf, ein blitzschnelles Reagieren. Der Apparat wird auf die Ziellinie des Auges angehoben und mit dem bescheidenen Kästchen wird ohne Tricks eingefangen, was überrascht hat, um das Flüchtige beim Schopf zu packen.“

So schreibt Cartier-Bresson im Vorwort zu „Les Européens“. Mit dieser Haltung zeigt er uns Szenen aus Griechenland, Spanien, Deutschland, England, Österreich, der Schweiz, Irland, der Sowjetunion, Italien und aus seiner Heimat Frankreich. Wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vermittelt uns Cartier-Bresson die Vielfalt europäischer Lebensformen. Es sind meist einfache Bürgerinnen und Bürger, die wir in Städten und Landschaften sehen. Jede dieser 114 Fotografien, viele davon heute Klassiker der Fotografie, erzählt eine Geschichte.

Wir sehen in Russland eine Näherin bei der Arbeit, Iren im Pub, Franzosen am Strand, Stierkämpfer in der Arena, Kriegsversehrte und Arbeitslose im Rheinland und auf der letzten Seite den kleinen französischen Jungen in der Pariser Rue Mouffetard mit den beiden Weinflaschen in den Armen. Wer „Cartier-Bresson“ und „Vin“ googelt, bekommt das Foto gezeigt, das die meisten von uns im Kopf gespeichert haben.

Trailer zu einem Film von Pierre Assouline über Cartier-Bresson

Als Ergänzung zu diesem Fotobuch bietet sich der kleine Band „Auf der Suche nach dem rechten Augenblick: Aufsätze und Erinnnerungen“ an. In einer Zeit, in der jeden Tag Millionen von Fotos ins Internet hochgeladen werden, ist es vielleicht eine gute Idee, sich mit Cartier-Bressons Lehre vom Rhythmus, dem Einklang der Bewegungen und dem Erspüren des entscheidenden Augenblicks (le moment décisif) zu beschäftigen.

Buchinformation

Henri Cartier-Bresson: Les Européens, erschienen 1955Henri Cartier-Bresson
Les Européens – Photographies
Éditions Verve, Paris 1955
114 Seiten, gebunden, 27 x 35 cm (BxH) in der Originalausgabe
nur noch antiquarisch erhältlich

Europäer
Taschenbuch 232 Seiten, englisch
Verlag Schirmer/Mosel
ISBN: 3-88814-887-1
nur noch antiquarisch erhältlich

Auf der Suche nach dem rechten Augenblick
83 Seiten, broschiert
ISBN: 3-928942-57-3
Verlag Edition Christian Pixis
nur noch antiquarisch erhältlich

Bei Schirmer/Mosel gibt es natürlich auch die noch lieferbaren Fotobücher von Cartier-Bresson, der am 3. August 2004 im Alter von 96 Jahren gestorben ist. Fotografiert hat er da schon lange nicht mehr, sondern wieder mit zeichnen angefangen. Das Studium der Malerei hatte er, der als Schüler dreimal durchs Abitur fiel, nach der Schulzeit absolviert. Dieses Studium hat ihn sehen gelehrt.

NK | CK

P.S. Ich stelle mir gerade vor, Cartier-Bresson hätte den niederländischen Autor Geert Mak auf seiner Reportagereise kreuz und quer Europa im Jahr 1999 begleitet. Es wäre interessant zu sehen gewesen, wie der Fotograf dieses Europa gesehen hätte, das Geert Mak in seinem Buch „In Europa“ auf mehr als 900 Seiten beschreibt.

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