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Volodymyr Vakulenko-K.: Leben unter Besatzung

»Ich bin nicht allein, da muss ich überleben.« Volodymyr Vakulenko-K.

»Ich bin nicht allein, da muss ich überleben.« Volodymyr Vakulenko-K.

Papa, lies vor!

Zum Abendbrot Tee und Salat.
Unser Buch liegt parat.
Papa, lies vor,
Ich bin ganz Ohr.
Vom kleinen Elefanten,
der Blumen goss bei seinen Tanten.
Vom Samenkorn, das sich erwärmte
und für die große Sonne schwärmte.
Vom Kater Schlaumeier …
Von der roten Bimmelbahn …
Und schon segeln die Träume
auf Wolken leise heran.
Und es füllen sich die Räume
während du liest mit Ruhe an.
Mit Geheimnissen ist der Schlaf per du,
auch dem Papa fallen die Augen zu.
Auch ein Papa ist mal alle –
wenn ihn die Arbeit richtig stresst.
Komm, austrinken und ab in die Falle,
ins Bett, wo es sich herrlich träumen lässt.

Dieses Gedicht stammt von dem ukrainischen Schriftsteller und Aktivisten Volodymyr Vakulenko, der sich selbst Volodymyr Vakulenko-K. nannte. Vakulenko wurde am 1. Juli 1972 im Dorf Kapytoliwka in der Nähe von Isjum in der Ostukraine geboren. Der bekannte Kinderbuchautor und Vater eines autistischen Sohns hat insgesamt 13 Bücher veröffentlicht.

Vakulenko hat sein Dorf nach dem vollumfänglichen Angriffskrieg Russland gegen die Ukraine nicht verlassen. Er blieb mit seinem Sohn und seinen Eltern in Kapytoliwka. Er wurde am 24. März 2022 von russischen Besatzern zum zweiten Mal gefangen genommen und schließlich von diesen ermordet. Der geschundene Leichnam Vakulenkos wurde im Herbst 2022 in einem Massengrab in der Nähe von Isjum entdeckt.

Tagebuch unter Besatzung

Volodymyr Vakulenko hat die Zeit der russischen Besatzung im März 2022 in einem handschriftlichen Tagebuch festgehalten. Am 7. März marschierten die russischen Besatzer in sein Heimatdorf ein. Der letzte Tagebucheintrag ist vom 21. März 2022. Vakulenko hat seine Aufzeichnungen in seinem Garten neben einem Kirschbaum vergraben. Er hatte Angst, dass diese 36 Seiten dem russischen FSB Geheimdienst in die Hände fallen. Er wollte, dass seine Aufzeichnungen in die Hände von internationalen Organisationen gelangen.

»Die Gefechte, wie eine gereizte Viper, krochen immer näher und näher heran an unsere Stadt (die Grenzen sind nicht weit, der Feind bekam täglich Verstärkung).« (Volodymyr Vakulenko)

Nachdem die Region Isjum im September 2022 von der ukranischen Armee befreit wurde, hat Vakulenkos Vater nach dem Tagebuch gegraben und es nicht gefunden. Dabei hatte der seinem Sohn versprechen müssen: »Wenn die Unseren kommen – dann übergib es ihnen.« Gefunden hat das Tagebuch schließlich die ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina. Sie schreibt im Vorwort:

»Ich hab’s gefunden!«, rufe ich, so freudig, als hätte ich nicht ein unter der Besatzung entstandenes Tagebuch, sondern die gesamte ukrainische Literatur aus der Erde geboren.

Am 24. Septeber 2022 war das. Ein halbes Jahr im Mai 2023 später wurde Vakulenko in Norwegen posthum der Prix Voltaire Special Award der International Publisher’s Association (IPA) verliehen. Angesichts der drohenden Vernichtug der ukrainischen Kultur und Identität eine wichtige Ehrung.

»Volodymyr Vakulenko schrieb Tagebuch, weil er hoffte, dass Sie es lesen würden. Wenn Sie also heute dieses Buch in Händen halten, dann hat der Schriftsteller Volodymyr Vakulenko gesiegt. (Victoria Amelina)«

Victoria Amelina hatte leider nicht lange Zeit, sich über diesen Sieg zu freuen. Am 27. Juni 2023 wurde sie bei einem russischen Raketenangriff schwer verletzt. Am 1. Juli 2023 erlagt die junge Schrifstellerin ihren schweren Verletzungen; sie wurde 37 Jahre alt. Volodymyr Vakulenko wäre an diesem Tag 51 Jahre alt geworden.

Ich verwandle mich

Am 30. Juni 2025 haben das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde und das Slavische Seminar der Universität Tübingen zu Ehren von Volodymyr Vakulenko und Victoria Amelina eine bewegende Lesung veranstaltet. Student*innen haben Gedichte und Texte vorgetragen.

»Einige Tage später bombardierten feindliche Flugzeuge mit Cluster- und Vakuumbomben unsere Stadt, und zwar charakteristischerweise: nur die Wohngebiete.« (Volodymyr Vakulenko)

Das letzte Buch Vakulenkos heißt »Ich verwandle mich. Aufzeichnungen unter russischer Besatzung. Ausgewählte Gedichte«. Dem engagierten Mauke-Verlag in Weimar haben wir diese schmale, bewegende und wichtige Werk zu verdanken. Das sorgfältig produzierte Buch enthält neben den Tagebucheinträgen und den Gedichten Vakulenkos weitere Texte, u.a. das erwähnte Vorwort von Victoria Amelina.

»Die ständigen Razzien der Russengestapo stressten mich total, für mich waren das totale Demütigungen.« (Volodymyr Vakulenko)

Dazu ein Bericht der Journalistin Kateryna Lykhohkyad über ihre Recherche in Vakulenkos Heimatdorf. Sie würdigt auch die Arbeit des Dichters, der anfing für Kinder zu schreiben, als er seinen Sohn Vitalik bekam, bei dem Autismus diagnostiziert wurde. Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies hat ein erhellendes Nachwort über den Sowjetterror im 20. Jahrhundert in der Ukraine geschieben, dem so viele ukrainische Intellektuelle zum Opfer gefallen sind.

Man würde sich wünschen, dass all die Politikerinnen und Politiker, die immer noch an einen gerechten Frieden mit dem Aggressor im Kreml glauben, dieses Buch lesen. Was ein völkerrechtswidriges Abtreten ukrainischen Staatsgebietes für die dort lebenden Ukrainerinnen und Ukrainer bedeuten würde, davon verschafft uns der Text Vakulenkos einen Eindruck.

Und wenn

Und wenn der anbrechende Tag
Meinen Schatten schreddert
Und düsterer Regen
Meine aufgeschminkte Abwesenheit fortwäscht
Bleibt ihr als die Letzten,
Die auf mein Begräbnis gehen …

Dies ist das letzte im Buch abgedruckte Gedicht Vakulenkos.

NK | CK

Buchinformation

Volodymyr Vakulenko-K.
Ich verwandle mich. Aufzeichnungen unter russicher Besatzung. Ausgewählte Gedichte.
aus dem Ukrainisichen übersetzt von Beatrix Kersten
2025, Verlag Friedrich Mauke KG, Weimar
176 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
ISBN: 978-3-948259-25-9

Dieser Film zeigt die Videorecherche der Journalistin Kateryna Lykhohlyad über die Suche nach Volodymyr Vakulenko nachdem die Region Isjum durch die ukrainischen Streitkräfte befreit wurde.

1 Kommentar

  1. Bewegend —und ich verharre!

    Als junger Mann [ so um 1978] hatte ich alles Verfügbare von WOLFGANG BORCHERT gelesen…
    Dass er mit grüner Tinte schrieb ,wie er mit anderen nach 1945 den literarischen Aufbruch gestaltete,er dann doch den Spätfolgen des Krieges starb und und und…..
    Eine von mir gestaltete Unterrichtsstunde in einer 8.Klasse der Hechinger Hauptschule hatte den Titel:
    „NACHTS SCHLAFEN DIE RATTEN DOCH“
    Die tiefen“ kleinen“ Texte von Volodomyr Vakulenko haben mich intuitiv an Sprachbilder und Erlebtes von Wolfgang Borchert erinnert……während ich auf die in der Sonne flirrende Meeresoberfläche des bretonischen Atlantiks schaue !!
    [ Eigenartig geographisch dem osteuropäischen Kriegsgräuel entrückt ]

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