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London Calling – ein Buch von Annette Dittert

Very English: Bowls, ein englisches Kugelspiel, das schon Sir Francis Drake gespielt haben soll.

Bowls, ein englisches Kugelspiel, das schon Sir Francis Drake gespielt haben soll

Schon seit Längerem verfolge ich den Twitter-Kanal der Journalistin Annette Dittert, die seit 2008 für die ARD aus London berichtet. Ich schätze ihre klaren Worte, ihren Humor und ihre fundierte Brexit-Berichterstattung. Erstaunt war ich, als ich vor ein paar Tagen zum wiederholten Mal unter einem Tweet von Dittert den beleidigten Kommentar eines englischen Parlamentariers las, der sich weinerlich beschwerte, ihre Berichterstattung sei unfair. Ich glaube, er sprach sogar von „rant“, was übersetzt so viel heißt wie Hass- oder Schimpftirade. Dabei macht Dittert das, was man von einer guten Journalistin erwartet: sie widmet sich dem Gegenstand ihrer Berichterstattung mit Verstand und Herzblut, aber der gebotenen Distanz. Seit dem Brexit-Votum wird ihre Liebe zu England allerdings auf eine harte Probe gestellt wird. Wer ihr Buch „London Calling – Als Deutsche auf der Brexit-Insel“ liest, spürt das.

Reiseführer, Kulturgeschichte, Reportage

London Calling ist 2017 in der Originalausgabe erschienen, rund ein Jahr nach der Brexit-Abstimmung. Wir haben die erweiterte Taschenbuchausgabe gelesen, die Anfang 2020 in die Buchhandlungen kam. Und die beginnt so:

„Ich bin immer noch hier. Auf Emilia, meinem kleinen Kanalboot, mitten in London. Noch immer hier zu Hause und verwurzelt, so gut das auf einem schwimmenden Domizil eben geht. Wenn auch mit zunehmend schwerem Herzen. Hope dies last, diesen Spruch gibt es nicht nur auf Deutsch: Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Ja, was ist das für ein Buch? Reiseführer? Kleine Kulturgeschichte? Eine Reportage in Episoden aus einem Land, in dem einige aus Nostalgie irr geworden sind? Alles zusammen kann man sagen; aber vor allem ist dieses Buch gut recherchiert und so geschrieben, dass man es nicht aus der Hand legen möchte. Wer außergewöhnliche Charaktere kennenlernen möchte und die komplizierte Entwicklung in England besser verstehen will: Here is your book!

In 14 Kapiteln sitzen wir bei Annette Dittert und ihren Gesprächspartner*innen: in einem Café im East End, beim Whiskey auf ihrem Hausboot, in einem retro-verkitschten Bonbon-Laden im Peak District, am Schreibtisch von Michael Bond, um nur ein paar Beispiele aufzuführen. Bond ist übrigens nicht 007, sondern der Mann, der den weltberühmten Bären Paddington erfunden hat. Zufällig wohnte er in der Nähe von Ditterts in Little Venice.

Von Paddington zur Politik

Wie die Autorin in dem Kapitel über den 91jährigen Paddington-Erfinder dessen Lebensgeschichte und nostalgischen Tagträume von einer besseren Vergangenheit mit einer klugen Analyse des fremdenfeindlichen Bodensatzes der britischen Gesellschaft verknüpft, ist gekonnt: Nach dem Brexit gefragt, antwortet Bond, dass er diesen nicht wollte, auch wenn er manchmal denkt, es gäbe zu viele Immigranten in Großbritannien. Dittert nimmt diesen Ball auf und legt dar, welche Entwicklung die englische Politik schon vor dem Brexit-Referendum im Juni 2016 genommen hat.

„David Cameron und seine Tories hatten schon früh die Haltung und das Vokabular der Ukip-Partei übernommen und sich seit dem überraschenden Aufstieg dieser bis dahin marginalen Partei ab 2013 tief in deren fremdenfeindliche Rhetorik verwickeln lassen.“

Nach dem Exkurs über die Sprache der Tories, Stichwort: Fremdenfeindlichkeit, nimmt uns die Autorin mit in eines der weltweit umfangreichsten Holocaust-Archive, „wo vor den Nazis geflüchtete Juden und deren Nachkommen die Geschichte ihrer Vorfahren zurückverfolgen können.“ Sie überlässt es ihrem Gesprächspartner mit dem Klischee der englischen Lebensretter aufzuräumen. Ben Barkow, Direktor des Holocaust-Archive am Londoner Russell Square erklärt: „die Kindertransporte sind kein Beleg für Großbritanniens Humänität, sie sind das Gegenteil. Ein Alibi.“ Denn es waren, so Barkow, Privatinitiativen jüdischer Organisation, die den Steuerzahler nichts kosteten, und deren Ziel nur die Kinder waren. Und die Eltern, fragt sich der Leser? „Die ließ die britische Regierung, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Konzentrationslager fahren.“

Jenseits von Nostalgia

Dieses Beispiel macht deutlich, warum sich die Lektüre von London Calling lohnt. Die Autorin nimmt uns mit auf eine Tour durch London und England abseits der mit Klischees gepflasterten Touristenpfade. Die Menschen, die sie trifft, sind ganz besondere Tourguides, die wir so nie kennengelernt hätten.

Very English II: Wie aus der Zeit gefallen, das Postamt in Nayland, Suffolk

Wie aus der Zeit gefallen: das Postamt in Nayland, Suffolk

Wir treffen einen bankrotten Baron in seinem ganz persönlichen Nostalgia-Land in Derbyshire; in Birmingham lernen wir Gisela Stuart kennen, die aus Bayern stammt, für Labour im Parlament sitzt und den Brexit so vehement wie platt verteidigt; in Hull erklärt ein trotziger Rentner, warum er für den Brexit gestimmt hat, auch wenn dieser ziemlich sicher Arbeitsplätze kosten wird.

„Weil die in London eine Abreibung verdient haben. Weil seit Jahren hier oben nichts passiert ist. Wir aus dem Norden sind einfach nur stinkende Fischköpfe, und da haben wir es ihnen jetzt eben mal gezeigt.“

Wer den total versnobten Brexiteer und Tory Jacob William Rees-Mogg vor Augen hat, kann den Rentner aus Hull gut verstehen.

Aber in London Calling werden nicht nur die Abgründe der englischen Politik und die gesellschaftlichen Gräben analysiert, die dieses Land durchziehen. Die Autorin gewährt auch Einblicke in ihr überaus interessantes Leben auf der Insel. Allein die Geschichte, wie sie ihr maßangefertigtes 13 Meter langes Kanalboot Emilia die letzten Meilen auf dem Wasser nach Little Venice steuert. Quite amusing!

Über Sex wird in England nicht geredet oder nur indirekt: zum Beispiel, wie es die Kröten so treiben

Über Sex wird in England nicht geredet oder nur indirekt: zum Beispiel, wie es die Kröten so treiben

„Kröten, Sex und Wärmflaschen“

Sehr amüsant ist auch das Kapitel über Kröten, Sex und Wärmflaschen, in dem wir lernen, dass die Engländer sich nur äußerst ungern direkt über Sex unterhalten. Stattdessen wählen sie zum Beispiel den verbalen Umweg über das außergewöhnliche Paarungsverhalten der Kröten.

„Die britische Verklemmtheit, wenn es um Sex geht, ist geradezu sprichwörtlich.“

Dieser Satz hat mich an ein Erlebnis vor ein paar Jahren erinnert. Es war in Uppark House, einem dieser schönen Herrenhäuser im Süden Englands. Wir haben diesen Landsitz besucht, weil es dort eine Verbindung zu Admiral Nelson gibt, den unser Sohn zu dieser Zeit sehr bewunderte. Man erzählt sich, dass Nelsons spätere Geliebte Emma Hamilton in Uppark nackt auf dem Tisch getanzt haben soll. Nun, während der Besichtigung habe ich mir erlaubt, im großen Salon, auf einen riesigen Tisch deutend, die Aufsicht zu fragen, ob dies der Tisch sei, auf dem Lady Hamilton getanzt hat. „I am afraid so, Sir“, flüsterte mit einem schmallippigen Lächeln die ältere Dame, sichtlich bemüht, nicht zu erröten.

Sehnsucht nach gestern

Die vom National Trust gut erhaltenen Landhäuser und Schlösser zeigen, wie sehr die Engländer an ihrem geschichtlichen Erbe hängen, und wie liebevoll sie dieses pflegen – Verklärung mitunter inklusive. Dass diese englische Geschichtsbesessenheit häufig in Geschichtsvergessenheit und verlogene Nostalgie umschlägt, ist für Dittert nach so vielen Jahren auf der Insel kein „niedlicher Spleen“ mehr.

„Denn wo die Vergangenheit zur sentimentalen Phantasie verschwimmt, wird auch der Blick auf die Gegenwart, der man auf diese Weise entkommen will, unscharf und nebulös.“

HAPPY is England! So dichtete Keats. Wehrturm der Kirche von Stoke by Nayland, Suffolk

HAPPY is England! So dichtete Keats. Wehrturm der Kirche von Stoke by Nayland, Suffolk

Man darf davon ausgehen, dass der enorme Erfolg der gut gemachten englischen Serie Downton Abbey mit der „unterschütterlichen Sehnsucht nach der heilen Welt von gestern“ zusammenhängt. Eine Sehnsucht, die diese Serie wunderbar befriedigt, und die es nicht nur in England gibt. Auch wir haben die DVDs im Regal stehen. Man sollte halt wissen, dass das Leben Downstairs nur halb so lustig war und ist wie Upstairs.

Allen, die ihren Blick über den Ärmelkanal auf kluge und amüsante Art weiten möchten, sei London Calling empfohlen. Es ist ein Buch, in dem auch England-Fans viele neue Dinge erfahren. Uns hat die Lektüre Freude bereitet, und vielleicht gibt es ja einen zweiten Band mit besonderen Geschichten von der Insel. Auf den letzten Seiten deutet Annette Dittert an, dass sie England noch nicht den Rücken kehren will. Denn:

„Die Engländer sind besser als das, was wir derzeit von ihnen erleben. (…) Die Insel bleibt das Land, in dem ein George Orwell den Roman 1984 schrieb, nicht zufällig, sondern aus der tiefen Tradition eines skeptisch-pragmatischen Liberalismus.“

Cheers!

NK | CK

Buchinformation

Annette Dittert
London Calling – Als Deutsche auf der Brexit-Insel
Erweiterte Taschenbuchausgabe 2020
Atlantik Bücher im Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
ISBN: 978-3-455-00692-6

Very English: „The Glory of the Garden“ heißt Kiplings Gedicht für alle Gärtner*innen. © Schöne Postkarten, Nr. 240

„The Glory of the Garden“ heißt Kiplings Gedicht für alle Gärtner*innen. © Schöne Postkarten, Nr. 240

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